De:Bug 172
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»Ganz praktisch werden all<br />
jene von der neuen Interface-Welt<br />
weniger haben,<br />
die sich über Spezialinteressen<br />
und randständige<br />
Vorlieben definieren. Big<br />
Data ist inkompatibel mit<br />
Individualität.«<br />
Datensammler, Steuergerät, Mini-Bildschirm: aktuelle<br />
Watch-Experimente von Nike und Sony, Myos Muskelleser und<br />
Jawbones Schrittzähler-Wecker Up experimentieren mit dem<br />
Handgelenk als second Second-Screen und Datenschleuder.<br />
eine kleine Handvoll Aufgaben, die mit ihr bewältigt werden<br />
können - Raum auf, Raum zu, halbauf, abgeschlossen,<br />
Kleiderbügelhaken - und circa zwei Nutzungsmodi:<br />
Hand auf Klinke, Fuß auf Türblatt. Neu ist, dass Technik<br />
in Verhandlung geht und flexibel auf eine Reaktion -<br />
und nicht auf eine herkömmliche "Eingabe" - reagieren<br />
kann. Sie verhält und positioniert sich damit als aktiver<br />
Teilnehmer, der auch Wünsche ablehnen kann, anstatt einfach<br />
nicht oder nur abschlägig zu reagieren. <strong>De</strong>r Vergleich<br />
zu Assistenzhunden liegt nahe, denen als Schutzfunktion<br />
ein "intelligenter Ungehorsam" antrainiert wurde: Zum<br />
Schutz des Halters überquert so ein Hund keine befahrene<br />
Straße, auch wenn der Halter das ausdrücklich wünscht.<br />
Die Entscheidungsgrundlage braucht den Halter nicht zu<br />
interessieren. Er weiß ja, dass der Hund nur das Beste will.<br />
Mensch-Mensch-Interface<br />
Dieses Vertrauen in das Wohlwollen der Algorithmen - oder<br />
nur deren Vermögen, das Gute überhaupt zu erreichen -<br />
wird zwangsläufig wanken. Dass Facebook und Google zu<br />
viel Macht über unser Leben und Erleben haben könnten,<br />
ist ein alter Aluhut. Aber sollte sich die technisierte Welt in<br />
einem gigantischen Projekt der Kybernetik vereinfachen -<br />
also: Handlungsoptionen löschen, Freiheit beschränken?<br />
- wird das neue Interface-Paradigma ganz neue ethische<br />
Fragen aufwerfen: Wie viel Technokratie ist gut, zumal,<br />
wenn sie unsichtbar bleibt? Welche Paradigmen liegen<br />
dem neuen Interface zugrunde: Effizienz und Sicherheit<br />
oder doch Vorhersagbarkeit, Vermarktbarkeit, Kontrolle?<br />
Die Machtverschiebung hin zu Maschinen, wird vor allem<br />
eine materialistische Kritik nach sich ziehen. In einer Welt<br />
der verborgenen Computer stellt Technik gesellschaftliche<br />
Zustände her. Die Bemessungsgrundlagen dieser technischen<br />
Umstände aber wiederum werden von Menschen<br />
festgelegt, oder zumindest korrigiert. Materialistisch kritisiert,<br />
ist das neue Interface-Paradigma damit in Wirklichkeit<br />
kein neues Mensch-Maschine-Interface, sondern ein neues<br />
Mensch-Mensch-Interface. Zwischen Cloud-Speicher<br />
und Big-Data-Datenhalde, aus dem Netzwerkwissen<br />
der sozialen Dienste, dem Gespinst der Sensoren und<br />
Warenidentitäten erwächst eine Art Unterbewusstsein der<br />
Welt. Was technisch greifbar ist, wird in Daten überführt,<br />
die einer ständigen Wissensmaschine zugeführt und in realweltliche<br />
Gelegenheiten übersetzt werden. Die technische<br />
Welt ist dann der Ausdruck, und die Interaktion der Technik<br />
mit dem Menschen das Bewusstsein dieser Netze, die bedingt<br />
flexibel, reflexhaft aber angemessen, direkt und indirekt<br />
unsere Geschicke steuern.<br />
Man muss gar nicht mal selbst einer paranoiden<br />
Lesart anhängen, um von ihr betroffen zu sein. Weil die<br />
vermeintlichen Manipulationschancen mit den illegitimen<br />
Zielen von Kriminellen, Aktivisten, Unternehmern und<br />
Politikern resonieren, werden diese Gruppen versuchen,<br />
die Infrastrukturen für ihre Zwecke zu missbrauchen. Eine<br />
Google-Bomb oder eine Pump'n'Dump-Spamkampagne<br />
werden dann nicht mehr nur zu fehlgeleiteten Links, sondern<br />
zu fehlleitenden Navi-Routen, falsch-positiven Bekanntenin-deiner-Umgebung-Alarmen<br />
und Kaufkraft-angepassten<br />
Sonderkonditionen, zu in Bildungslücken passenden<br />
Heilsversprechungen und Sprachfehler-ausnutzenden<br />
Zweifelssaaten führen. Dissidenten werden die Maschine<br />
mit Datenmüll füttern und versuchen, abseits von ihr ein<br />
neues, von Maschinen befreites Leben führen zu können.<br />
Zurück zum Beton und Daten-Camouflage, die neue<br />
Unsichtbarkeit.<br />
Ganz praktisch aber werden zunächst all jene von<br />
dieser Interface-Welt weniger haben, die sich über<br />
Spezialinteressen und randständige Vorlieben definieren.<br />
Big Data ist inkompatibel mit Individualität. Solange<br />
die Algorithmen aggregieren und sortieren, statt uns wirklich<br />
zu verstehen (also: uns überraschen können), solange<br />
sie uns nur als Abweichung von einer Masse und nicht<br />
als Individuen erkennen können, werden sie nicht mehr als<br />
Blindenhunde oder Freunde mit schlechtem Geschmack<br />
sein. Also so, wie all die "Empfehlungsdienste", die nur<br />
Gemeinsamkeiten und nicht Unterschiede erkennen -<br />
und in Sachen Distinktionsgewinnchancen meist einfach<br />
schrecklich wenig zu bieten haben. Die zunehmend technisierte<br />
Kommunikation - jetzt auch mit Maschinen - wird<br />
deshalb in eine dreifache Vertrauenskrise gestürzt: Nicht<br />
nur über die erhofften guten Intentionen der Maschinen und<br />
deren Integrität, sondern auch über deren Kompetenz.<br />
Es wird noch lange dauern, bis Computer das tiefe Tal<br />
des Unbehagens durchschritten haben werden und wir ihnen<br />
ohne Grusel begegnen können. Und vielleicht ist das<br />
auch gut so: Solange wir erkennen können, ob gerade eine<br />
Maschine oder ein Mensch zu uns spricht, oder hinter uns<br />
herräumt, oder uns ermahnt und das Leben regeln will, kann<br />
man wunderbar auf Abwesenheit schalten. Mit Technik<br />
kann man nicht kommunizieren, mit Menschen nicht.<br />
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