De:Bug 172
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<strong>172</strong> — FILM<br />
AUGEN<br />
öFFNER<br />
FILM &<br />
TECHNIK<br />
»Das Kameraauge ist<br />
Cyborg und Chirurg - eine<br />
proto-digitale Schöpfung.«<br />
TEXT SULGI LIE<br />
Die Filmkamera ist unser ausgerissenes Auge, eine<br />
Verlängerung und Verlagerung desselben nach außen.<br />
Als mechanischer oder virtueller Apparatus ist sie ein<br />
seltsam belebtes Interface - und durch technische<br />
Innovation längst nicht mehr an die Beschränktheit<br />
menschlicher Wahrnehmung gebunden. Sie nimmt<br />
uns als Sehende vielmehr an die Hand und führt uns<br />
durch ungesehene Dimensionen und erweitert unseren<br />
Blick auf die Welt.<br />
Wenn die menschlichen Augen organisch ordnungsgemäß<br />
in den Augenhöhlen sitzen, gelten sie traditionellerweise ja<br />
als Spiegel der Seele. Wenn sie jedoch dem Körper entrissen<br />
werden, mutiert diese romantische Innerlichkeit nicht<br />
nur in schreckenerregende Äußerlichkeit, sondern auch in<br />
Blindheit – bekanntlich stach sich schon der arme Ödipus<br />
selbst die Augen aus. Mit der Filmkamera hat das Kino jedoch<br />
einen Apparat erfunden, der ausgerissene Augen nicht<br />
erblinden, sondern sehen - mehr sehen und anders sehen<br />
- lässt. So feiert bereits der sowjetische Revolutionsfilmer<br />
Dsiga Wertow die Kamera als ein allsehendes "Kino-Eye", das<br />
den Augenhöhlen entrissen und wild in die Materie hineingeworfen<br />
wird. Wertow hat dieser durchaus rabiaten Vision<br />
des technomorphen Kameraauges mit "<strong>De</strong>r Mann mit der<br />
Kamera" ein frühes filmisches <strong>De</strong>nkmal gesetzt: Während<br />
unsere trägen menschlichen Augen der Perspektive unserer<br />
körpergebundenen Wahrnehmung nicht entrinnen können,<br />
kann das Kameraauge jede mögliche Ansicht, von der detailliertesten<br />
Großaufnahme bis zur immensesten Totale, jede<br />
mögliche Perspektive von der Frosch- bis zur Luftperspektive<br />
einnehmen. Das Kameraauge ist für Wertow die Signatur<br />
einer kollektiven Modernisierung des Sehens, die auch vor<br />
der organischen Natur des Menschenauges nicht haltmacht.<br />
In der alten Parole "Kommunismus = Sowjetmacht<br />
+ Elektrifizierung" muss man das Kameraauge unbedingt<br />
mitdenken: Man sollte sich Wertows Helden als einen frühen<br />
sowjetischen Cyborg vorstellen – bewaffnet mit nichts<br />
anderem als einem automatisierten, technisierten, elektrifizierten<br />
Auge.<br />
High durch das Camera Eye<br />
Überhaupt spukt die euphorische Idee eines von seinen anthropomorphen<br />
Fesseln befreiten Auges durch die frühe Filmund<br />
Kinotheorie: So erlebt der ungarische Autor Béla Balász<br />
qua Kameraauge einen deliriumartigen Distanzverlust: "Die<br />
Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein. Ich sehe<br />
das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber<br />
50<br />
habe keinen. Ich gehe in die Menge mit, ich fliege, ich tauche,<br />
ich reite mit." High durch das Camera Eye war neben<br />
Balász auch Walter Benjamin, dem das Kameraauge mittels<br />
Zeitlupen und Zeitraffereffekten für das "optisch Unbewusste"<br />
der Natur die Augen öffnete. Wie Wertow greift auch Benjamin<br />
zu einer gewalttätigen Metapher, wenn er die Kamera mit einem<br />
chirurgischen Messer vergleicht, dass in das Gewebe<br />
der Wirklichkeit schneidet, um aus diesen Gewebepartikeln<br />
eine neue Wirklichkeit zu erschaffen. Nimmt man Wertows<br />
und Benjamins Metaphern beim Wort, ist das Kameraauge<br />
Cyborg und Chirurg zugleich - ein ziemlich monströser Hybrid,<br />
aber fast schon eine proto-digitale Schöpfung. Da ist es nur<br />
logisch, dass der "Mad Scientist" zu solch einer zentralen<br />
Figur in den Fiktionen des Kinos geworden ist - ist er auch<br />
immer daran interessiert, die Grenzen des Sehens auszutesten.<br />
Gerade im B-Movie-Bereich wird man da natürlich<br />
besonders gut fündig: Zu den abstrusesten Visionären<br />
des Sehens gehört der verrückte Wissenschaftler James<br />
Xavier (Ray Milland) aus Roger Cormans Klassiker "The Man<br />
with the X-Ray Eyes". <strong>De</strong>m Filmtitel entsprechend ersetzt<br />
Xavier seine Augen durch eine neuartige Augenprothese,<br />
die es ihm fortan erlaubt, röntgenartig durch die Dinge<br />
hindurchzuschauen und die Oberfläche des Sichtbaren zu<br />
durchdringen. Was zunächst einen großen Fun-Faktor verspricht<br />
– im Kasino dem Gegner durch die Karten schauen,<br />
auf Partys den Girls durch die Röcke schauen - wird aber<br />
nach und nach zum Horrortrip, weil Xavier nur noch absttrakte<br />
Lichttexturen sieht, die sein Gehirn nicht mehr zu visuell<br />
intelligiblen Gestalten verarbeiten kann. Xaviers neue<br />
(Kamera)Augen bilden nicht mehr in analoger Ähnlichkeit<br />
die Wirklichkeit ab, sondern erschaffen sie in quasi digitaler<br />
Weise neu. Von den Röntgenstrahlen vollends verstrahlt,<br />
läuft Xavier nur noch mit einer Sonnenbrille durch<br />
die Gegend, bis er sich in einer grandiosen Schlussszene<br />
in einer Gospelkirche die Augen selbst aus dem Gesicht<br />
reißt. Autsch! – das Kameraauge kann einem halt auch einen<br />
schlechten Trip bescheren. Konsequenterweise sieht<br />
man in Vor- und Abspann des Films ein Paar ausgerissene<br />
Augen in einer Einmachdose.<br />
In SciFi-Treue zu Cormans virtuoser Trash-Buchstäblichkeit<br />
lässt auch Steven Spielberg in einer Szene seines "Minority<br />
Report" Tom Cruise seinen eigenen Augäpfeln hinterher<br />
rennen nachdem er sich diese zwecks Identitätstäuschung<br />
durch Implantate hat austauschen lassen. In der totalen<br />
Überwachungssphäre des Films sind die Augen nämlich<br />
nicht länger die Spiegel der Seele, sondern polizeiliches<br />
Identifikationsmerkmal qua digitaler Netzhaut-Scans. Die<br />
Allgegenwart technologischer Sehmaschinen, so scheint<br />
"Minority Report" dystopisch zu suggerieren, macht das<br />
alte menschliche Auge eigentlich überflüssig. Technik als<br />
Organprothese; als Extension des menschlichen Körpers,<br />
so Marshall McLuhans medientheoretische Einsicht, wird<br />
in solchen Filmen auf eine unheimlich Art selbständig:<br />
Autonomous Automatic Eyes.<br />
Entfesselte Potenziale<br />
Als ästhetische Tendenz lässt sich im Laufe der<br />
Technikgeschichte des Kinos generell eine immer stärkere<br />
Abkoppelung des Kameraauges vom menschlichen Auge ausmachen:<br />
Montierte F.W. Murnau noch für "<strong>De</strong>r letzte Mann"<br />
die Kamera auf Fahrräder und andere Bewegungsmedien, um<br />
den Blick subjektiv zu mobilisieren, so ist spätestens seit der<br />
körperbalancierten Steadycam, die in Kubricks "The Shining"<br />
geisterhaft durch die Hotelkorridore gleitet, der Kameraapparat<br />
vom Auge des Kameramanns abgetrennt. Und in den ferngesteuerten<br />
und computergestützten Kamerasystemen von<br />
heute ist selbst der letzte Rest der körperlichen Verankerung<br />
durch ein automatisches Auge obsolet geworden, das eines<br />
menschlichen Verursachers und Bewegers gar nicht erst bedarf.<br />
Die Digitalisierung des Kinos betrifft also nicht nur die<br />
High-<strong>De</strong>finition-Pixeldichte und die komposite Generierung<br />
des Bildes, sondern auch den (Kamera)Mann mit der Kamera<br />
hinter der Kamera, der möglicherweise in Zukunft von vorprogrammierten<br />
Bewegungsalgorithmen ersetzt wird. <strong>De</strong>r kanadische<br />
Avantgarde-Filmer Michael Snow hat bereits 1971<br />
in "La Région Central" das digitale Potenzial eines autopoetischen<br />
Kamera-Roboters ausgelotet, der in einer menschenleeren<br />
Landschaft mittels vorprogrammierter Einstellungen<br />
immer neue Kamerabewegungen ausführt. Snows permanent<br />
rotierende Kamera bricht auch mit der horizontalen<br />
Geometrie des stabilen Blickstandpunkts und lässt den Blick<br />
vom Boden abheben und in alle Richtungen herumschleudern<br />
– von seitwärts gekippt bis kopfüber.<br />
Im experimentierfreudigen Geiste eines Michael Snow hat<br />
in den letzten Jahren Gaspard Noé eine solchermaßen entfesselte<br />
Kamera in "Enter the Void" ins digitale Zeitalter überführt.<br />
Nicht zufällig beginnt "Enter the Void" als Drogenfilm,<br />
der die Trips seines Protagonisten nicht nur durch computergenerierte<br />
Texturen aus dem Inneren des drogeninduzierten<br />
Gehirns zu visualisieren versucht, sondern auch durch<br />
eine radikale Form der subjektiven Perspektive die Einheit<br />
von Figurenauge und Kameraauge simuliert – selbst das<br />
Augenblinzeln wird durch kurze Shutter-Effekte nachgeahmt.<br />
Nachdem der Held aber bei einem gescheiterten Drogendeal<br />
das Zeitliche segnet, dreht der Film – und mit ihm die Kamera<br />
– vollends ab: Die Seele des Protagonisten überlebt als körperloser<br />
Geist den biologischen Tod und deliriert fortan als<br />
reines Kameraauge durch ein Labyrinth aus Realereignissen,<br />
Erinnerungen und Visionen. Die Kamera taumelt, bohrt, saugt<br />
und schraubt sich durch Höhen und Tiefen, bis einem wie in<br />
Kubricks LSD-trunkener Stargate-Sequenz aus "21" Sehen<br />
und Hören vergeht. In Noés radikaler Psychedelik sieht fast<br />
nichts mehr nach traditionellem Kamera-Realismus aus:<br />
Eine Welt wie aus flüssigem Phosphor, verstrahlt vom digitalen<br />
Kameraauge. Nicht nur reichen sich Kubrick, Snow<br />
und Corman bei Gaspard Noé in trauter Eintracht die Hände,<br />
auch Vertov, Balász und Benjamin hätte der Film vermutlich<br />
gut gefallen: Die Kamera nimmt mein Auge mit und steuert<br />
es in das Auge des Zyklons hinein - Enter the Void.