WIRTSCHAFT+MARKT 6/2016
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ZUKUNFT OST<br />
W+M | 49<br />
Ostdeutsche Länder brauchen eine<br />
wachstumspolitische Agenda<br />
Von Prof. Dr. Joachim Ragnitz, Stellvertretender Leiter des ifo Instituts<br />
Niederlassung Dresden<br />
Foto: ifo Dresden (unten)<br />
Die Wirtschaftspolitik steht derzeit<br />
in keinem der ostdeutschen Länder<br />
im Mittelpunkt des politischen<br />
Handelns. Vielmehr hat es den Anschein,<br />
dass man sich mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen<br />
Situation weitgehend arrangiert<br />
hat – obwohl der Osten<br />
immer noch eine strukturschwache<br />
Region ist<br />
und auch die Perspektiven<br />
für die Zukunft<br />
keineswegs überall<br />
rosig erscheinen.<br />
Die Gründe hierfür<br />
liegen vor allem in<br />
strukturellen Defiziten,<br />
insbesondere<br />
im Fehlen strukturbestimmender<br />
größerer Unternehmen,<br />
und in<br />
der ungünstigen demografischen Entwicklung.<br />
Beides entzieht sich dem unmittelbaren<br />
Einfluss politischer Gestaltung; Ansatzpunkte<br />
für eine stärker wachstumsorientierte<br />
Wirtschaftspolitik gibt es dennoch viele.<br />
Prof. Dr. Joachim Ragnitz.<br />
Im Bereich der Wirtschaftsförderung sollte<br />
künftig nicht mehr die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
im Mittelpunkt stehen, sondern<br />
die Verbesserung der technologischen<br />
Leistungsfähigkeit insbesondere von<br />
kleinen und mittleren Unternehmen. Dabei<br />
geht es auch um Forschung und Entwicklung,<br />
insbesondere aber um die Verbesserung<br />
des Innovationsmanagements und die<br />
Unterstützung des Technologietransfers.<br />
Wichtig scheint es darüber hinaus, gerade<br />
jene Branchen und Unternehmen zu stärken,<br />
die gute Zukunftspotenziale aufweisen<br />
– ein Plädoyer für eine stärkere Selektivität<br />
von Förderung.<br />
Wirtschaftspolitik ist aber weit mehr<br />
als nur Förderpolitik – relevant<br />
sind auch die wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen,<br />
unter denen die Unternehmen<br />
agieren. Was<br />
diese in wohlhabenden<br />
westdeutschen Regionen<br />
leicht verkraften<br />
können, mag die häufig<br />
immer noch nicht ausreichend<br />
gefestigten<br />
Unternehmen in Ostdeutschland<br />
überfordern.<br />
Man sollte deshalb<br />
nochmals prüfen,<br />
wo regionale Ausnahmeregeln von ansonsten<br />
gesamtdeutsch festgelegten Standards<br />
und Regulierungen möglich sind.<br />
Nachholbedarfe gibt es auch bei den öffentlichen<br />
Investitionen – im Verkehrsbereich<br />
zum Beispiel bei der Sanierung von<br />
Brückenbauwerken und bei der Ertüchtigung<br />
von Schienenverkehrswegen, darüber<br />
hinaus ganz besonders beim Breitbandausbau<br />
als wesentliche Voraussetzung<br />
für eine stärkere Digitalisierung der<br />
Wirtschaft. Hier ist insbesondere zu prüfen,<br />
wie eine stärkere Beteiligung privater<br />
Investoren in diesen Kernbereichen öffentlicher<br />
Daseinsvorsorge möglich ist.<br />
ZUR PERSON<br />
Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist seit dem<br />
Jahr 2007 stellvertretender Geschäftsführer<br />
der Niederlassung Dresden des<br />
ifo Instituts und Honorarprofessor an der<br />
Technischen Universität Dresden. Zuvor<br />
war er von 1994 bis 2007 Abteilungsleiter<br />
am Institut für Wirtschaftsforschung<br />
Halle und als wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
beim Sachverständigenrat zur Begutachtung<br />
der gesamtwirtschaftlichen<br />
Entwicklung in Wiesbaden tätig.<br />
Zu den entscheidenden Wachstumsdeterminanten<br />
in einer Region gehört schließlich<br />
der Bestand an „Humankapital“, also<br />
die Zahl der gut ausgebildeten Arbeitskräfte.<br />
Da auf qualifizierte Zuwanderung<br />
in ausreichendem Umfang wohl nicht gezählt<br />
werden kann, müssen die ostdeutschen<br />
Länder ihre Bildungsinvestitionen<br />
in allen Bereichen ausweiten – angefangen<br />
bei der frühkindlichen Bildung über<br />
die Schulen bis hin zu den Hochschulen.<br />
Mittelfristig kann dies dann auch dazu beitragen,<br />
den noch bestehenden Produktivitätsrückstand<br />
in der ostdeutschen Wirtschaft<br />
abzubauen.<br />
Auch eine Umsetzung all dieser Maßnahmen<br />
wird wohl nicht zu einer baldigen<br />
Angleichung der Wirtschaftskraft an<br />
das westdeutsche Niveau führen. Aber:<br />
Gar nichts zu tun, würde den strukturellen<br />
Rückstand der ostdeutschen Länder<br />
auf Dauer verfestigen. Noch ist es nicht<br />
zu spät, das zu verhindern. W+M