3/2012 - Psychotherapeutenjournal
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Nachruf auf Margarete Mitscherlich-Nielsen<br />
choanalytischen Ausbildung und zur Lehranalyse<br />
bei Michael Balint. In der dortigen<br />
lebendigen Diskussionskultur wurde sie<br />
auch mit den Ideen Melanie Kleins vertraut.<br />
Diese machte auf die frühe Abhängigkeitsbeziehung<br />
des Menschen zur Mutter<br />
aufmerksam, Grundlage des Abhängigkeitskonfliktes,<br />
der lebenslang fortbesteht<br />
und für MitscherlichNielsen ein bleibendes<br />
Element ihres psychoanalytischen<br />
Denkens wurde.<br />
Gemeinsam mit Alexander Mitscherlich<br />
wirkte sie daran mit, dass die Psychoanalyse<br />
in Deutschland nach ihrer Verfolgung<br />
im Nationalsozialismus wieder Fuß fassen<br />
konnte. Anlässlich des 100. Geburtstages<br />
von Sigmund Freud 1956 organisierte Alexander<br />
Mitscherlich in Frankfurt und Heidelberg<br />
eine Ringvorlesung, zu der viele<br />
namhafte Psychoanalytiker aus aller Welt<br />
kamen – zum ersten Mal nach 1933. In<br />
direkter Folge entstand 1960 das SigmundFreudInstitut<br />
(SFI) als psychoanalytisches<br />
Forschungs und Ausbildungsinstitut,<br />
in welchem die beiden Mitscherlichs<br />
fortan wirkten.<br />
Wirken und Ehrungen<br />
Ab 1982 fungierte Margarete Mitscherlich<br />
Nielsen als Mitherausgeberin der Zeitschrift<br />
Psyche. Sie war sowohl Lehranalytikerin, jahrelang<br />
Ausbildungsleiterin am SFI und in der<br />
Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung<br />
(DPV), als auch in ihrer Praxis in der Patientenbehandlung<br />
engagiert. Sie gehörte der<br />
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung<br />
(IPV) an sowie der Deutschen Gesellschaft<br />
für Psychoanalyse, Psychotherapie,<br />
Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DG<br />
PT); sie war Mitglied des P.E.N.Zentrums der<br />
Bundesrepublik Deutschland sowie zeitweise<br />
des Beirates des Hamburger Instituts für<br />
Sozialforschung. Sie verfasste Bücher und<br />
Aufsätze, äußerte sich in Medien und Veranstaltungen.<br />
Sie erhielt zahlreiche Ehrungen<br />
und Auszeichnungen, z. B.:<br />
1982: WilhelmLeuschnerMedaille,<br />
1990: Ehrenplakette der Stadt Frankfurt<br />
am Main,<br />
2001: Großes Verdienstkreuz des<br />
Verdienstordens der Bundesrepublik<br />
214<br />
Deutschland – für ihre „Verdienste um<br />
das Allgemeinwohl“,<br />
2005: TonySenderPreis für jahrelanges<br />
frauenpolitisches Engagement und<br />
ihren Einsatz für die Gleichberechtigung.<br />
Diese Verleihung erfolgte durch<br />
das Frauenreferat der Stadt Frankfurt,<br />
die Laudatio sprach Alice Schwarzer.<br />
Für Margarete MitscherlichNielsen war es<br />
die Trias von Wissenschaft, Kultur und Politik,<br />
die im Zentrum der psychoanalytischen<br />
Auseinandersetzung mit und des Verstehens<br />
der Welt stehen sollte.<br />
Theorie der Weiblichkeit<br />
und Feminismus<br />
In der damaligen BRD erhielt der psychoanalytische<br />
Diskurs über die Entwicklung<br />
der Frau ab Ende der 1960erJahre bedeutsame<br />
Impulse aus dem Ausland und<br />
der wieder und neu entstandenen Frauenbewegung.<br />
Margarete MitscherlichNielsen<br />
begann, Freuds Weiblichkeitstheorie<br />
grundlegend infrage zu stellen. In ihren Arbeiten,<br />
die sie seit 1971 zu diesem Thema<br />
veröffentlichte, kritisierte sie seine patriarchalische<br />
Grundhaltung und lenkte das<br />
Augenmerk auf die sadomasochistische<br />
Dynamik zwischen den Geschlechtern<br />
und auf die Konflikte um Dominanz und<br />
Unterwerfung in der inneren Welt der Frau.<br />
Aber sie hielt die psychoanalytische Methode,<br />
die Freud entwickelte, für grundlegend<br />
und emanzipatorisch, da sie ermöglichte,<br />
die Folgen gesellschaftlicher<br />
Doppelmoral, individueller Denkverbote,<br />
Tabus und Hemmungen zu untersuchen<br />
und zu transformieren. Sie revidierte die<br />
Konzeption des phallischen Monismus<br />
und den Mythos vom vaginalen Orgasmus<br />
aufgrund neuerer psychoanalytischer, biologischer<br />
und sexualwissenschaftlicher Befunde.<br />
Umso mehr kritisierte sie die einschüchternde<br />
Wirkung, die diese und<br />
andere psychoanalytische Theorien auf<br />
Frauen hatten. Denn wegen der mangelnden<br />
Ausarbeitung und geschlechtsspezifischen<br />
Differenzierung dieser Konzepte wie<br />
auch der Aggressionstheorie kam es vermutlich<br />
jahrzehntelang zu einem entmutigenden<br />
oder gar unterdrückenden Umgang<br />
mit Frauen, der zumeist von den<br />
Frauen wie von den Analytikern beiderlei<br />
Geschlechts unbemerkt gebliebenen sein<br />
dürfte – überhaupt oder für lange Zeit.<br />
Margarete MitscherlichNielsen war die<br />
erste Psychoanalytikerin in Deutschland,<br />
die die Anregungen des Feminismus aufnahm.<br />
1977 verkündete sie in der damals<br />
neu gegründeten Zeitschrift EMMA: „Ich<br />
bin Feministin.“ Der hiesige feministische<br />
Diskurs wurde wiederum von ihr durch<br />
zahlreiche Vorträge, Artikel und Bücher<br />
und ihre publizistische Tätigkeit als Mitherausgeberin<br />
der Psyche wesentlich mitbestimmt.<br />
Sie schrieb diese Arbeiten in ihrem<br />
Buch über „Die friedfertige Frau“ (1985)<br />
fort – ein Titel, dessen Ironie oftmals missverstanden<br />
wurde. Sie thematisierte darin<br />
die „untergründig“ bleibenden passiven<br />
Aggressionen und sadistischen Impulse<br />
vieler Frauen, die diese in eine selbstbestrafende,<br />
masochistische „Vorwurfs und<br />
Opferhaltung“ umwandelten, während sie<br />
destruktive Tendenzen, wie etwa Entwertung<br />
und Rache, unbewusst auslebten.<br />
Ganz unironisch und sehr engagiert plädierte<br />
sie jedoch dafür, die eigene Unschulds<br />
und Vorwurfshaltung infrage zu<br />
stellen, Ängste vor der eigenen Aggression,<br />
sowohl in Sachen Selbstbehauptung<br />
wie auch anderen gegenüber, zu überwinden<br />
und Schuldgefühle besser ertragen zu<br />
lernen – anstatt sich in die, wie sie später<br />
prägnant formulierte, „Hoffnungskrankheit“<br />
zu flüchten, die sie bei vielen Frauen<br />
beobachtet hatte. Denn dieses scheinbar<br />
friedfertige Syndrom der „Hoffnungskrankheit“<br />
überdeckt die unbewussten Angriffe,<br />
die auf das Selbst, den eigenen Körper<br />
und die inneren und äußeren Objekte gerichtet<br />
werden, es schiebt verändernde<br />
Aktivitäten auf und anderen zu. Stattdessen<br />
empfahl sie den Frauen, ihre vermeintlichen<br />
Schwächen, wie Einfühlungs und<br />
Liebesfähigkeit, Verantwortung, Fürsorge<br />
und ausgleichende Vermittlung auch für<br />
sich selbst wahrzunehmen und sie aktiv<br />
und selbstbewusst zu Stärken zu entwickeln<br />
– auch im gesellschaftlichen Diskurs.<br />
Margarete MitscherlichNielsen mahnte<br />
vieles an, was für uns heute selbstverständlich<br />
geworden ist: Etwa, dass die Psychoanalyse<br />
die Bedeutung, die Normen,<br />
Haltungen, Wertvorstellungen und Phantasmen<br />
der Eltern für die Entwicklung von<br />
Minderwertigkeitsgefühlen oder aber von<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong>