3/2012 - Psychotherapeutenjournal
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Liebe Kolleginnen und<br />
Kollegen,<br />
zwei Tage vor<br />
dem 5. HessischenHeilberufetag<br />
mit dem<br />
Thema „Patient<br />
im Internet“ kam<br />
über Spiegelonline<br />
eine Meldung:„Psychotherapie<br />
via Alfred Krieger<br />
Handy – Therapeut in der Hosentasche“.<br />
Gemeint ist ein HandyProgramm,<br />
eine App, die traumatisierten<br />
USamerikanischen Soldaten vom US<br />
Department of Veterans Affairs zur Verfügung<br />
gestellt wird, um beruhigt und<br />
abgelenkt zu werden. Ist das Psychotherapie?<br />
Ersetzt das Handy also bald<br />
den Therapeuten? Wohl kaum.<br />
Erkennbar ist der Wunsch, aus der passiven<br />
Position in die aktive zu kommen,<br />
nicht von einem unbeeinflussbaren Ereignis<br />
abhängig zu sein, sondern die<br />
Dinge in die Hand zu nehmen, eben<br />
wie ein Handy, und den „Therapeuten“<br />
in die Tasche stecken und über ihn verfügen<br />
zu können.<br />
Hilfreich können solche Programme<br />
sein. Sie werden nicht nur zur Stressreduktion,<br />
sondern auch zur Aufmerksamkeitssteigerung<br />
oder bei Essstörungen<br />
und Depressionen beispielsweise<br />
im Rahmen von Selbstbeobachtungsdokumentationen<br />
eingesetzt. Positive<br />
Effekte sind in Untersuchungen nachgewiesen<br />
worden, aber bei den „positiven<br />
Effekten“ muss schon genau hingeguckt<br />
werden. Wegen der meist<br />
fehlenden Eingangsdiagnostik bleibt offen,<br />
ob es um psychische Erkrankungen<br />
oder Befindlichkeitsstörungen geht.<br />
Aber Diagnostik per Internet – wie soll<br />
das gehen? Zumal bei Krankenbehandlungen<br />
berufs und haftungsrechtlich<br />
der persönliche Kontakt erforderlich ist.<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong><br />
Mitteilungen der Psychotherapeutenkammer<br />
Hessen<br />
Nichts spricht gegen Erkundungen im Internet<br />
zu gesundheitlichen Fragen, wenn<br />
man einmal von der schlechten Qualität<br />
vieler Informationen absieht. Auch kann<br />
die OnlineAnwendung von Selbsthilfe<br />
oder Nachsorgeprogrammen unterstützend<br />
wirken. Aber die Behandlung psychisch<br />
Kranker ist etwas anderes. Das<br />
eine kann das andere nicht ersetzen. Ziel<br />
muss sein, den Unterschied zwischen<br />
Prävention, Nachsorge und Selbsthilfe einerseits<br />
und Psychotherapie andererseits<br />
herauszuarbeiten.<br />
Diese Unterscheidung zwischen Selbsthilfe<br />
und Heilbehandlung versucht die<br />
DAK ihren Versicherten zwar auch zu vermitteln,<br />
wenn sie auf der Studieninformationsseite<br />
der Universität Bielefeld<br />
und der DAKGesundheit für die Teilnahme<br />
an einer Studie wirbt, wo es um OnlineHilfe<br />
bei Depressionen geht. Der<br />
Therapeut solle durch die Teilnahme an<br />
der Studie zum Selbsthilfeprogramm deprexis<br />
nicht ersetzt werden.<br />
Dennoch kommen mir Bedenken, wenn<br />
ich im Einleitungstext lese: „Sie leiden<br />
unter Depressionen und benötigen kompetente<br />
Hilfe? Nutzen Sie das Online<br />
Programm deprexis im Zuge der DAK<br />
GesundheitStudie – schnell, kostenlos<br />
und unverbindlich.“ Und weiter: „Es handelt<br />
sich hierbei um Methoden, Tipps<br />
und Anregungen, die in ähnlicher Weise<br />
auch in einer individuellen Psychotherapie<br />
vermittelt werden.“<br />
Zu deprexis hat sich die Hessische Psychotherapeutenkammer<br />
bereits vor Jahren kritisch<br />
geäußert. Die aktuelle Stellungnahme<br />
vom Juni <strong>2012</strong> ist auf unserer Homepage<br />
(www.ptkhessen.de) zu finden.<br />
Dass über Selbsthilfeprogramme der Bedarfsnotstand<br />
bei psychotherapeutischen<br />
Behandlungen behoben werden kann,<br />
halte ich für zweifelhaft. Vielleicht wird gerade<br />
durch diese Programme der tatsächliche<br />
Bedarf an Psychotherapie noch<br />
deutlicher erkennbar. Denn für viele Patienten<br />
dürften OnlineSelbsthilfeprogramme<br />
nicht die Lösung sein, sondern<br />
der Beginn einer Beschäftigung mit sich<br />
selbst, die in der Bereitschaft mündet,<br />
professionelle Hilfe bei einem „leibhaftigen“<br />
Therapeuten in Anspruch nehmen<br />
zu wollen. Und wenn man den nicht ohne<br />
weiteres „in die Tasche stecken“<br />
kann, besteht die Möglichkeit, sich mit<br />
sich selbst wie auch mit dem Therapeuten<br />
auseinanderzusetzen. Dies wird der<br />
Besonderheit des psychotherapeutischen<br />
Heilungsprozesses eher gerecht,<br />
der ja nicht nur aus der Weitergabe von<br />
Informationen, Tipps und Apps besteht,<br />
sondern wesentlich ein dialogischer Prozess<br />
in der persönlichen Begegnung ist.<br />
Ihr Alfred Krieger<br />
Präsident<br />
Angehörigenarbeit in<br />
der Psychotherapie – ein<br />
„Recht“ ungeregeltes Feld<br />
Als Kind in einer Familie<br />
aufzuwachsen,<br />
in der ein Mitglied<br />
von einer psychischen<br />
Erkrankung<br />
betroffen ist, birgt<br />
ein erhöhtes Risiko<br />
in sich, selbst zu erkranken,<br />
die eigenen<br />
Fähigkeiten nicht Ariadne Sartorius<br />
vollständig nutzen zu<br />
können, schwächere Schulleistungen zu<br />
erbringen, insgesamt emotional stark belastet<br />
zu sein – dies haben die Daten der<br />
KIGGSStudie zu Risikofaktoren für psychische<br />
Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen<br />
aktuell nochmals eindrücklich<br />
belegt (www.kiggs.de). Konkret kann das<br />
beispielsweise heißen, große Unsicherheiten<br />
zu entwickeln, im Rahmen einer parentifizierten<br />
ElternKindBeziehung aufzuwachsen<br />
bzw. bei akuten Erkrankungen<br />
bestehende Rollenverteilungen revidieren<br />
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Hessen