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3/2012 - Psychotherapeutenjournal

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Psychotherapie und Religion/Spiritualität<br />

Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung –,<br />

ob man in einer schwierigen Situation bete<br />

oder Halt im Glauben suche, sondern unterscheidet<br />

verschiedene religiöse Bewältigungsstile.<br />

Beispielsweise negatives religiöses<br />

Coping, bei dem man sich von Gott<br />

verlassen und wie bestraft fühlt, am Glauben<br />

zweifelt und in passiver Resignation<br />

verharrt – im Unterschied zu positivem religiösem<br />

Coping, bei dem man einen Sinn,<br />

eine Lektion von Gott sucht, seine Nähe<br />

spüren will, ihn – „kollaborativ“ – um Kraft<br />

für eigene Problemlösungsversuche bittet<br />

oder ihm die Zukunft passiv, aber vertrauensvoll<br />

überlässt (Pargament, Koenig &<br />

Perez, 2000; vgl. Klein & Lehr, 2011). Dabei<br />

schließt positives Coping negatives Coping<br />

nicht aus, da es mit Zweifeln und inneren<br />

Kämpfen verbunden sein kann.<br />

Auch hängt religiöses Coping stark mit allgemein­menschlichenBewältigungsstrategien<br />

wie Kampfgeist, Selbstermutigung<br />

und Neubewertung zusammen und kann<br />

wohl großenteils als deren spirituell motivierte<br />

Variante gedeutet werden.<br />

Wie effektiv ist es? Die methodisch unterschiedlich<br />

angelegten Studien erbrachten<br />

dazu nicht immer einheitliche Ergebnisse,<br />

doch kann es nach englischsprachigen Untersuchungen<br />

als erwiesen gelten, dass<br />

überzeugte Religiosität und positives religiöses<br />

Coping besonders bei schweren Belastungen<br />

eine Pufferwirkung ausüben<br />

und Depressivität, Ängstlichkeit und Lebensunzufriedenheit<br />

etwas reduzieren<br />

können: sowohl beim Trauerprozess nach<br />

einer Verlusterfahrung als auch bei der Verarbeitung<br />

von chronischen Krankheiten<br />

und Schmerzen, Herz­ und Knochenmarkstransplantationen,<br />

Aids und Tumorerkrankungen.<br />

Indes geht das (wesentlich weniger<br />

verbreitete) negative religiöse Coping<br />

deutlich mit schlechterem subjektiven<br />

Wohlbefinden einher und ist vielleicht als<br />

Ausdruck einer von ihm ausgelösten Glaubenskrise<br />

(„spiritual struggle“) und weniger<br />

als dessen Ursache zu deuten (zusammenfassend:<br />

Grom, 2007, S. 89­103;<br />

Murken & Reis, 2011).<br />

Spiritueller Mehrwert auch<br />

im deutschen Sprachraum?<br />

Nun ist die US­Bevölkerung religiöser und<br />

die soziale Unterstützung in ihren Pfarr­,<br />

Synagogen­ und Moscheegemeinden stär­<br />

196<br />

ker als in Europa. Sind also die erwähnten<br />

Zusammenhänge auch für den vergleichsweise<br />

säkularisierten deutschen Sprachraum<br />

anzunehmen? Nach einer Allensbach­Umfrage<br />

(2006) sagen beachtliche<br />

42 Prozent der Deutschen, dass sie „persönlich<br />

aus dem Glauben Trost und Kraft“<br />

ziehen. Genaueres offenbaren mehr als<br />

ein Dutzend einschlägige Untersuchungen,<br />

die in den letzten Jahren auch hierzulande<br />

durchgeführt wurden (zusammenfassend:<br />

Klein & Lehr, 2011). Diese Studien<br />

divergieren zwar in Methode und Ergebnis,<br />

belegen aber mehrheitlich, dass religiöse<br />

Überzeugungen und Verhaltensweisen sowie<br />

speziell positives religiöses Coping tendenziell<br />

Lebenszufriedenheit aufrechterhalten<br />

und Depressivität sowie<br />

Ängstlichkeit reduzieren: bei verschiedenen<br />

kritischen Lebensereignissen (auch<br />

bei psychiatrischen Patienten und Nutzern<br />

von psychologischen Beratungsangeboten),<br />

etwa bei der Trauer von Eltern um<br />

den Tod eines Kindes oder bei der Verarbeitung<br />

von schweren körperlichen Erkrankungen.<br />

„Trost im religiösen Glauben“ hat<br />

sich bei vier unterschiedlichen Patientengruppen<br />

als eine der drei am stärksten genutzten<br />

Bewältigungsstrategien erwiesen<br />

(Muthny, Bechtel & Spaete, 1992).<br />

Religiöses Coping und<br />

biopsychosoziales Modell<br />

Gläubige setzen säkulare und religiöse Copingformen<br />

ein (der Eigenbeitrag von<br />

Letzteren ist statistisch erwiesen). Beispielsweise<br />

können Tumorpatienten Lebensziele<br />

wie materiellen Wohlstand, beruflichen<br />

Erfolg, Fleiß und gesellschaftliches<br />

Ansehen nach der Erkrankung in ihrem<br />

Rang herabstufen und dafür innere Ausgeglichenheit,<br />

Gelassenheit, Halt in der Religion<br />

sowie harmonisches Familienleben<br />

aufwerten. Durch diese Neubewertung<br />

und „kompensatorische Zielregulation“<br />

(Meier, 1992) können sie Hadern vermeiden<br />

und ihre Lebenszufriedenheit erhalten.<br />

Religiöse Belastungsbewältigung kann innerhalb<br />

des anerkannten biopsychosozialen<br />

Modells gedeutet werden, das damit<br />

erweitert wird: Religiosität/Spiritualität<br />

wirkt als System von unterschiedlich zentral<br />

verinnerlichten Überzeugungen und<br />

Wertungen, die allgemein­menschliche<br />

Copingstrategien motivieren und ergänzen<br />

können – als Anstoß zu aktiver Problembewältigung,<br />

zu Vergebung nach Beziehungsbrüchen,<br />

zu sinnerhaltender kognitiver<br />

Umstrukturierung (etwa durch Relativierung<br />

unerreichbar gewordener Leistungsmaßstäbe)<br />

und zur emotionalen Unterstützung<br />

durch die Glaubensgemeinschaft<br />

sowie vonseiten des geglaubten Transzendenten<br />

(„Durch das Gebet bin ich nicht<br />

allein“). Außerdem kann Religiosität/Spiritualität<br />

gesundheitserhaltende Normen einer<br />

Glaubensgemeinschaft bezüglich Alkohol<br />

und Drogen vermitteln. Insofern ist sie<br />

für Gläubige ein potenziell bedeutender<br />

Schutzfaktor und eine soziale und personale<br />

Ressource psychischer Gesundheit.<br />

Diese ist allerdings von begrenzter Stärke,<br />

worauf die moderaten bis schwachen statistischen<br />

Beziehungen hinweisen.<br />

Religiosität/Spiritualität –<br />

ein Heilfaktor?<br />

Kann diese Ressource so stark aktiviert<br />

werden, dass sie psychischen Störungen<br />

nicht nur vorbeugt, sondern sie auch heilt?<br />

Eine Antwort lässt sich aus Versuchen gewinnen,<br />

in die Behandlung von psychischen<br />

Symptomen auch spirituelle Inhalte<br />

einzubeziehen. Diese gibt es inzwischen in<br />

großer Zahl – ausgehend von verschiedenen<br />

Therapierichtungen, angewandt auf<br />

unterschiedliche Störungen und ausgewertet<br />

in Studien von methodisch ungleicher<br />

Qualität (Mijares & Khalsa, 2005;<br />

Sperry & Shafranske, 2005; Utsch, 2005;<br />

van Quekelberghe, 2007). Um Überschneidungen<br />

zu vermeiden, unterscheidet<br />

der folgende Überblick vier Typen nach<br />

der Art und Weise, wie Psychotherapie und<br />

Religiosität/Spiritualität aufeinander bezogen<br />

sind.<br />

Typ I: Spirituelle Anregungen, die der<br />

Patient von sich aus in den Therapieprozess<br />

einbezieht<br />

Im deutschen Sprachraum nehmen Einrichtungen<br />

wie die Klinik Hohe Mark<br />

(Oberursel), de’ignis­Fachklinik (Egenhausen),<br />

Magdalenen­Klinik (Georgsmarienhütte),<br />

Klinik Sonnenhalde (Riehen/<br />

Schweiz) oder die Klinik SGM Langenthal<br />

(Schweiz) seit einigen Jahren christliche<br />

Inhalte in ihr Behandlungsangebot auf, obwohl<br />

sie auch Patienten mit nichtchristli­<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong>

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