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3/2012 - Psychotherapeutenjournal

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sind keine Seltenheit bei über 70­Jährigen.<br />

Obwohl die Wechselwirkungen keineswegs<br />

erforscht sind. Das ist eine schleichende<br />

Vergiftung! Oder doch gar unbewusster<br />

gesellschaftlicher Mord? Schließlich mögen<br />

wir das Alter nicht. Es macht uns Angst.<br />

Es ist hässlich und runzelig. Man wird hilfsbedürftig<br />

und langsam. Und es erinnert uns<br />

an die eigene Zukunft und den eigenen<br />

Tod. Wir wollen es nicht, es macht uns aggressiv.<br />

Die gesellschaftliche Aversion und<br />

die Aggression gegen alte Menschen ist<br />

kaum verhüllt. Angesichts dieser Daten ist<br />

es unschwer erkennbar: Unser gesellschaftlicher<br />

Umgang mit psychisch erkrankten alten<br />

Menschen und mit alten Menschen<br />

generell ist diskriminierend! Und da bin<br />

ich mit unserem Gesundheitssenator Mario<br />

Czaja einig (übrigens kommt das Wort Senator<br />

aus dem lateinischen von senex und<br />

bedeutet der Greis oder der alte Mann):<br />

„Krankheitsbedingt sind psychisch kranke<br />

alte Menschen kaum in der Lage, selbst für<br />

ihre Rechte und gegen Stigma und Diskriminierung<br />

einzutreten; das gilt besonders<br />

für Demenzkranke. Auch die Einstellung<br />

vieler der am Hilfesystem Beteiligten ist<br />

noch zu sehr auf das Defizitmodell des Alterns<br />

und damit auf ein eher negatives Altersbild<br />

ausgerichtet.“<br />

Aber was folgt daraus? In einer Zeit, in der<br />

das Gesundheitsministerium eine Unterabteilung<br />

des Wirtschaftsministeriums sein<br />

könnte, in der es um Rationalisierung und<br />

Rationierung von Gesundheitsleistungen<br />

geht, stehen psychisch erkrankte alte Menschen<br />

ganz unten auf der Liste der Prioritäten.<br />

Wenn in Krankenhäusern, Versorgungszentren,<br />

in der Rehabilitation und in der<br />

Pflege nur noch gewinnbringend gearbeitet<br />

werden soll, dann trifft das zu, was der Friedensnobelpreisträger<br />

Bernard Lown, einer<br />

der streitbarsten und renommiertesten Ärzte<br />

unserer Zeit und auch schon über 90,<br />

gesagt hat: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen<br />

ist ein Oxymoron, ein Widerspruch<br />

in sich. In dem Augenblick, in dem<br />

Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre<br />

Fürsorge verloren.“<br />

Es gibt aber eine gesellschaftliche Fürsorgepflicht<br />

auch für die psychisch kranken<br />

alten Menschen. Es ist nicht hinzunehmen,<br />

dass sie ausgeschlossen werden aus dem,<br />

was nach Meinung der Fachleute die ge­<br />

<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong><br />

botene Therapie z. B. für eine psychische<br />

Erkrankung ist. Das Lebensalter ist kein<br />

einheitliches Merkmal Theodor Fontane<br />

schrieb mit 77 den „Stechlin“, Goethe mit<br />

81 Jahren seinen „Faust II“ und mit 93 hat<br />

Helmuth Schmidt noch eine neue Liebe<br />

gefunden. Eine Psychotherapie bei einer<br />

78­Jährigen nicht zu verordnen, nur weil<br />

diese Frau alt ist, ist eine Diskriminierung.<br />

Nun werden Sie vielleicht einwenden, dass<br />

die alten Leute ja selber keine psychotherapeutische<br />

Behandlung aufnehmen<br />

wollen, vielleicht aus Scham oder weil sie<br />

ein somatisches Krankheitsverständnis haben.<br />

Mag ja sein. Aber dann ist es Sache des<br />

Hausarztes, denn der ist meist die erste<br />

Anlaufstelle, seine Patienten darüber aufzuklären<br />

und sie zu motivieren und vielleicht<br />

auch den Kontakt zu einem Psychotherapeuten<br />

herzustellen. Das setzt<br />

allerdings die Kenntnis und die Aufgeschlossenheit<br />

des Hausarztes voraus.<br />

Aber angenommen, der informierte Hausarzt<br />

würde seinen Patienten dazu raten,<br />

dann stehen sie vor einem anderen Problem,<br />

nämlich dem der langen Wartezeiten<br />

und der unzureichenden Versorgungsmöglichkeiten<br />

für alle Altersgruppen im<br />

ambulanten psychotherapeutischen Bereich.<br />

Trotzdem arbeiten wir in der Berliner Psychotherapeutenkammer<br />

daran, neue Konzepte<br />

zu entwickeln, die die Hemmschwelle,<br />

mit einem Psychotherapeuten zu<br />

sprechen, herabsetzen sollen (siehe vorne).<br />

In einer Psychotherapie mit älteren Menschen<br />

geht es z. B. um diese Themen:<br />

um die aktuellen Lebenskrisen, beispielsweise<br />

die Veränderungen in den<br />

Partnerbeziehungen oder den Umgang<br />

mit dem Ruhestand;<br />

besonders wichtig ist die Bearbeitung<br />

der kränkenden Probleme durch die<br />

Einschränkungen des Körpers;<br />

alte Menschen haben, häufiger als andere<br />

Altersgruppen, den Verlust von nahestehenden<br />

Menschen zu verkraften;<br />

sie haben große Angst, überflüssig und<br />

abhängig zu werden;<br />

Berlin<br />

in der Psychotherapie mit Älteren geht<br />

es auch um die Lebensbilanz und die<br />

Aussöhnung mit den Enttäuschungen<br />

und den verpassten Möglichkeiten;<br />

um die Veränderungen des Wohnumfeldes,<br />

des eigenen Status oder der bisherigen<br />

Rolle und<br />

um die Auseinandersetzung mit der<br />

Endlichkeit des Lebens, mit dem eigenen<br />

Sterben und der Angst vor dem Tod.<br />

Für jeden stehen unterschiedliche Themen<br />

im Vordergrund. Der Alterungsprozess<br />

stellt hohe Anforderungen an die<br />

psychische Stabilität. Er ist wegen des<br />

zunehmenden Kontrollverlustes oft ungeheuer<br />

kränkend und verunsichernd. Wie<br />

beglückend aber kann es sein, am Ende<br />

des Lebens mithilfe eines Psychotherapeuten<br />

doch noch den Weg der Versöhnung<br />

zwischen Vater und Sohn, Bruder<br />

und Schwester oder der ehemaligen<br />

Freundin zu finden. Das wirkt dann auch<br />

auf die psychische Gesundheit der<br />

nächsten Generation.<br />

Kommen wir vom ambulanten Bereich zu<br />

einem Gebiet, in dem die Versorgung psychisch<br />

kranker alter Menschen noch unverantwortlicher<br />

läuft, den Senioren- und<br />

Pflegeheimen 39 000 Berliner leben in<br />

577 Heimen Es ist bekannt, dass 67 Prozent<br />

der Heimbewohner unter psychischen<br />

Störungen leiden. Aber werden diese<br />

behandelt? Eben nicht! Oder wenn,<br />

dann lediglich mit Medikamenten. Psychotherapeutische<br />

Versorgung? Fehlanzeige!<br />

Wir werden sicherlich für die Auflösung der<br />

Heime noch einige Jahrzehnte brauchen.<br />

Sie sind sicher nicht der ideale Lebensraum<br />

für kranke, alte Menschen. Aber gerade<br />

darum müssen wir jetzt umso dringender<br />

dafür sorgen, dass die alten<br />

Menschen in den Heimen unter würdigeren,<br />

anregenderen Bedingungen leben<br />

und die Möglichkeiten therapeutischer<br />

und rehabilitativer Behandlung erhalten,<br />

die ihnen zustehen.<br />

„Das größte aller Übel ist, aus der Zahl der<br />

Lebenden zu scheiden, ehe man stirbt“,<br />

sagte schon der römische Philosoph<br />

Seneca in seiner Schrift „Vom glückseligen<br />

Leben“. Das aber ist das, was viele alte<br />

Menschen in den Heimen empfinden. Da<br />

257<br />

Berlin

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