3/2012 - Psychotherapeutenjournal
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Kommentare zu erschienenen PTJ-Artikeln<br />
Zu T. Padberg: „Warum lesen Psychotherapeuten keine Forschungsliteratur?“,<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 1/<strong>2012</strong>, Seiten 10-17.<br />
Ergänzende Überlegungen aus der psychoanalytischen Forschung & Praxis<br />
Marianne Leuzinger-Bohleber<br />
Thorsten Padberg schwimmt mit seinem<br />
provokativen, mutigen und relevanten<br />
Artikel gegen den Zeitgeist der „evidencebased-medicine“<br />
und greift eines der<br />
zentralen Probleme unseres Fachgebiets<br />
auf: die Spaltung zwischen der Welt der<br />
Psychotherapieforscher einerseits und der<br />
praktizierenden Psychotherapeuten andererseits.<br />
In der Tat muss es Psychotherapeuten<br />
aller Richtungen beunruhigen, ja<br />
sogar bestürzen, wenn die Forschung, die<br />
mit öffentlichen Mitteln und Mitteln der<br />
Fachgesellschaften getragen wird, zu einer<br />
„l’art pour l’art“ wird, einer Tätigkeit, die<br />
vor allem der Profilierung und der Karriere<br />
von Forschern in ihrem Elfenbeinturm<br />
dient und keinen nennenswerten Einfluss<br />
auf die Praxis der Psychotherapie ausübt,<br />
die sie zu erforschen vorgibt. Verfehlt sie<br />
nicht dadurch ihr eigentliches Ziel, neue<br />
Erkenntnisse zu generieren, die innovative,<br />
Fehlentwicklungen korrigierende Umsteuerungen<br />
„falscher Praxis“ im Dienste unserer<br />
Patienten bewirken können?<br />
Padberg nennt folgende Gründe für diese<br />
Entwicklung: „1. Forschungsliteratur instruiert<br />
nicht, 2. Forschungsliteratur informiert<br />
nicht und 3. Forschungsliteratur inspiriert<br />
nicht. Als gemeinsame Wurzel dieser drei<br />
Mängel wird ein Missverständnis bezüglich<br />
der Rolle der Schriften und Begriffe im<br />
Wissenschaftsbetrieb der Psychologie benannt.<br />
Sie transportieren keine allgemeingültigen<br />
Therapieregeln. Vielmehr sind sie<br />
Werkzeuge im Ablauf professioneller Praxis.“<br />
(Zusammenfassung, S.10)<br />
Da seine Analysen vorwiegend auf empirischen<br />
Untersuchungen und der ver<br />
224<br />
haltenstherapeutischen Tradition der Psychotherapie<br />
beruhen, möchte ich sie im<br />
Folgenden durch einige Überlegungen aus<br />
der psychoanalytischen Forschung und<br />
Praxis ergänzen, die allerdings in diesem<br />
Rahmen nur sehr fragmentarisch bleiben<br />
können (vgl. dazu u. a. LeuzingerBohleber,<br />
2010; LeuzingerBohleber & Haubl,<br />
2011).<br />
Lesen Psychotherapeuten<br />
überhaupt?<br />
Veränderung der Kommunikationsstrukturen<br />
in der heutigen Wissensgesellschaft<br />
(Weingart, Carrier & Krohn,<br />
2002): Bekanntlich beklagen viele Herausgeber<br />
psychoanalytischer Zeitschriften das<br />
mangelnde Interesse ihrer niedergelassenen<br />
Kolleginnen und Kollegen auch an<br />
klinischen und konzeptuellen Beiträgen.<br />
Lesen Praktiker überhaupt noch Fachliteratur?<br />
Stellt Padberg in seinen Analysen in<br />
Rechnung, dass sich die Kommunikationsstrukturen<br />
in der heutigen globalisierten<br />
Wissensgesellschaft ganz allgemein – und<br />
daher auch bei Psychotherapeuten – in einem<br />
Maße verändert haben, wie wir dies<br />
uns immer und immer wieder kaum vorstellen<br />
können? Die intellektuellen, auf<br />
Bücher und Schriften konzentrierten Psychotherapeuten<br />
waren vielleicht schon<br />
immer, sind aber in heutigen Zeiten, in denen<br />
Psychotherapie zu einem verbreiteten<br />
Heilberuf geworden ist, bestimmt zu einer<br />
kleinen Minderheit geworden (vgl. dazu<br />
u. a. Makari, 2008; Zaretzki, 2004/2006;<br />
LeuzingerBohleber & Haubl, 2011). Es ist<br />
die gleiche Minderheit, die sich für Literatur,<br />
Kunst und Film interessiert, wie der<br />
Besuch entsprechender Fachtagungen<br />
zeigt. – Daher bin ich unsicher, ob Padbergs<br />
Analysen in diesem Punkt zutreffen:<br />
Sind Psychotherapeuten wirklich kaum an<br />
der Psychotherapieforschung interessiert –<br />
oder müssen die Kommunikationsformen<br />
den heutigen Bedürfnissen und Usancen<br />
angepasst werden? Ein kleines Beispiel: An<br />
vielen der Hauptvorträge des letzten Kongresses<br />
der International Psychoanalytical<br />
Association (IPA) in Mexico City, Juli 2011,<br />
bezogen sich die Vortragenden auf Forschung<br />
aus anderen Feldern, auch auf die<br />
Mentalisierungs, Bindungs und Psychotherapieforschung.<br />
Allerdings verbanden<br />
sie deren Befunde mit ihren Überlegungen<br />
zum Unbewussten, der Sexualität und<br />
dem Traum, den Kongressthemen. Doch<br />
auch die explizit als Forschungspanel zur<br />
Depression angekündigte Veranstaltung<br />
spät abends war gut besucht. Auch an den<br />
Kongressen der verschiedenen psychoanalytischen<br />
Gesellschaften werden regelmäßig<br />
Bezüge zur aktuellen Forschung, auch<br />
zur Psychotherapieforschung, hergestellt<br />
und stoßen bei den Zuhörern meist auf<br />
großes Interesse. – Vermutlich ziehen es<br />
psychotherapeutische Praktiker heute vor,<br />
mündlich im Rahmen von social events<br />
wie ihren Fachtagungen (oder über Medien,<br />
Filme etc.) über Forschungsergebnisse<br />
informiert zu werden, statt zuhause, alleine<br />
für sich, Artikel aus dem Bereich der<br />
Psychotherapieforschung zu studieren. Ist<br />
dies wirklich so spezifisch für unsere Berufsgruppe?<br />
Gilt dies nicht ebenso für Mediziner,<br />
Lehrer und Sozialarbeiter?<br />
<strong>Psychotherapeutenjournal</strong> 3/<strong>2012</strong>