COMPACT SPEZIAL 10 "Islam"
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>COMPACT</strong> Spezial<br />
_ Islam und Dschihad<br />
Die Macht der<br />
Vergangenheit<br />
ten gegründete Moslembruderschaft, die – nach<br />
eigenen Angaben – <strong>10</strong>0 Millionen Mitglieder in 70<br />
Ländern hat (siehe Seite xy).<br />
Die Dissidenten<br />
26<br />
Im April 2012 besuchte ich mit<br />
einer deutschen Journalistendelegation<br />
den Iran. Unter anderem<br />
konnten wir am großen<br />
Freitagsgebet in Teheran teilnehmen.<br />
In <strong>COMPACT</strong> 6/2012<br />
berichtete ich über diesen Gottesdienst.<br />
«Der Prediger, Ajatollah Dschanatti,<br />
brach in Tränen aus, als<br />
er über das Schicksal der Prophetentochter<br />
Fatima sprach –<br />
und viele der <strong>10</strong>0.000 Gläubigen<br />
auf dem Riesenareal weinten<br />
mit ihm. Das für uns Westler<br />
schwer Verständliche ist, dass<br />
diese Erinnerung an Ereignisse<br />
vor fast 1.500 Jahren für die<br />
Schiiten keine religiöse Folklore<br />
ist, sondern aktuelle politische<br />
Handlungsanleitung: Sie assoziieren<br />
die Kalifen, die sich (unter<br />
anderem) durch die Tötung<br />
Fatimas den Weg zur Nachfolge<br />
Mohammeds freikämpften,<br />
mit dem Macht- und Geldprinzip,<br />
das heute in den westlichen<br />
Staaten ebenso dominiert wie<br />
etwa in Saudi-Arabien. Demgegenüber<br />
verträten nur sie, die<br />
Partei (Schia) des von Mohammed<br />
designierten Nachfolgers<br />
Ali, die Reinheit des Glaubens<br />
ohne persönliche Bereicherung.<br />
Aus dieser Lesart der islamischen<br />
Geschichte ergibt sich ein<br />
starker sozialrevolutionärer Impuls,<br />
der den Iran auf den ersten<br />
Blick aussehen lässt wie früher<br />
die sozialistischen Staaten:<br />
Überall hängen in Teheran<br />
die riesigen Porträts der Revolutionsführer<br />
Chomeini und Chamenei,<br />
so wie früher in Moskau<br />
die Konterfeis von Marx und Lenin.<br />
Auch die Slogans auf den<br />
Spruchbändern («Für die Unterdrückten<br />
auf der Welt!») sind<br />
ähnlich.» (je)<br />
Unsere deutsche Journalistendelegation<br />
wurde im April 2012 auch<br />
vom damaligen Präsidenten Mahmud<br />
Ahmadinedschad empfangen.<br />
Foto: privat<br />
Die innere Repression, messbar zum Beispiel an<br />
der Zahl der Todesurteile, ist in Saudi-Arabien und<br />
dem Iran vergleichbar stark. Aber es gibt einen für<br />
Europa wichtigen Unterschied: Die Schiiten haben<br />
seit über 20 Jahren – seit dem Anschlag auf das<br />
Berliner Restaurant Mykonos – keine Selbstmordattentate<br />
mehr praktiziert, ihre von Teheran gesteuerten<br />
Milizen unterstützen in Syrien die weltliche<br />
Assad-Regierung und stellen sich auch schützend an<br />
die Seite bedrohter Christen und Kurden. Die Saudis<br />
dagegen finanzieren rund um den Globus sunnitische<br />
Terrorgruppen. Die Islamisierung Europas,<br />
vorangetrieben durch Steuerung der Migrationsströme,<br />
Moscheebau und bewaffnete Anschläge,<br />
ist derzeit nur ein Projekt der Sunniten – insbesondere<br />
die unheilige Trias Türkei, Saudi-Arabien und<br />
Islamischer Staat (IS).<br />
Alawiten wie Assad sind Schiiten,<br />
die Alkohol trinken.<br />
Syriens Präsident Baschar al-Assad ist der letzte<br />
Vertreter des arabischen Nationalismus in der Tradition<br />
von Gammad Abdel Nasser, Saddam Hussein<br />
und Muammar al–Gaddafi – einer proto-sozialistischen<br />
Ideologie, die sich seit den 1950er Jahren im<br />
Kampf gegen den Panislamismus der Moslembrüder<br />
herausgebildet hat. In Syrien werden die Rechte<br />
aller Glaubensrichtungen, einschließlich der Christen<br />
und Juden, verteidigt. Hauptstütze von Assads<br />
Macht sind die Alawiten, die ebenso wie die Aleviten<br />
in der Türkei eine Art Schiitentum light praktizieren.<br />
Flapsig könnte man sagen: Alawiten/Aleviten<br />
sind Schiiten, die Alkohol trinken. In der ersten<br />
Felsendom in Jerusalem. Foto: CC0 Public Domain, pixabay<br />
IS-Schergen zerstören einzigartiges Kulturgut aus assyrischer<br />
Zeit. Foto: picture alliance / dpa<br />
Generation der osmanischen Gastarbeiter bei uns<br />
findet man viele dieser relativ angenehmen Zeitgenossen;<br />
politisch handelt es sich um meist links stehende<br />
Kemalisten, also Anhänger von Kemal Atatürk,<br />
dem Gründer der modernen Türkei.<br />
Eine völlig andere Richtung des Islams verkörpern<br />
die Sufis. Sie suchen die Annäherung an Allah<br />
nicht über die strenge Befolgung der durch koranische<br />
Strafen und Drohungen verpanzerten Gebote,<br />
sondern über mystische Rauschzustände und esoterische<br />
Verzückung. Ihre im Westen bekanntesten<br />
Vertreter sind die Derwische (persisch für Bettelmönche),<br />
die sich über stundenlange Tänze in eine<br />
Art Trancezustand versetzen und dadurch Gott finden<br />
wollen. Unter den Sufis gibt es nur eine Minderheit,<br />
die strenge Anhänger der Scharia sind. Viele<br />
von ihnen glauben, dass in allen Religionen grundlegende<br />
Wahrheiten zu finden seien. Einige gehen<br />
deswegen sogar so weit, den Sufismus nicht innerhalb<br />
des Islams, sondern über allen Religionen stehend<br />
zu verorten. Kein Wunder, dass diese Sonderlinge<br />
von den dogmatischen Hauptströmungen der<br />
Mohammedaner erbittert bekämpft werden: In Saudi-Arabien<br />
sind sie des Götzendienstes («Schirk»)<br />
angeklagt und komplett verboten. Im Iran wurden<br />
2006 1.200 Wohnungen und Gebetshäuser von<br />
Derwischen in der Stadt Qom von regierungsnahen<br />
Milizen angezündet. Die Ableger von al-Qaida<br />
und IS machten durch spektakuläre Zerstörungen<br />
von Sufi-Heiligtümern vor allem in Afrika von sich<br />
reden. In der Türkei sind die Derwische zur Touristenattraktion<br />
verkommen.<br />
Für undogmatische Islam-Strömungen wie Alawiten/Aleviten<br />
und Sufis gilt, dass ihre Position<br />
innerhalb der islamischen Welt allein schon deswegen<br />
immer schwächer wird, weil sie sich nur partiell<br />
auf den Koran stützen können. Das macht es für die<br />
tonangebenden Dogmatiker leicht, sie als Ketzer<br />
und Ungläubige zu verteufeln. Die Zahl der Sufis in<br />
Deutschland schätzt Wikipedia auf gerade <strong>10</strong>.000<br />
– bei insgesamt 4,5 Millionen Muslimen im Land.