Transgourmet Spezial Mehrwert - spezial_mehrwerte_2016.pdf
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Die Wirtschaftsfachzeitschrift für professionelle Gemeinschaftsgastronomie<br />
Essen<br />
ist<br />
MehrWert<br />
Ein Special der Wirtschaftsfachzeitschriften<br />
gv-praxis und food-service sowie<br />
des Handelsunternehmens <strong>Transgourmet</strong>.<br />
BUSINESS · CARE · EDUCATION<br />
D 7682 E
SPECIAL<br />
INHALT<br />
17<br />
Frisch vom Bauern<br />
auf das Brett: Vier<br />
Beispiele zeigen,<br />
wie Transparenz<br />
vom Acker bis zum<br />
Teller gelingt.<br />
49<br />
Reinbeißen und genießen! So<br />
schmeckt der Sommer. Doch in<br />
der Küche wird die Karte mit<br />
frischer Saisonware selten<br />
richtig ausgespielt.<br />
4<br />
Ernährungsbildung ist<br />
die Basis für verantwortungsvolle<br />
Genießer,<br />
findet Fernsehköchin<br />
Sarah Wiener.<br />
54<br />
Sie wollen die Welt retten:<br />
Deshalb bekommen aussortierte<br />
Lebensmittel von der Initiative<br />
„Restlos Glücklich“ eine Chance.<br />
Die Macher im Porträt.<br />
2 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Sarah Wiener Stiftung, Studio (photocuisine.de), Dionisvera (shutterstock.com), Restlos Glücklich e.V. (Fotograf: Lars Bösch)
EDITORIAL<br />
INHALT<br />
3 Editorial Esskultur 2016+<br />
4 Bildung Gastbeitrag Sarah Wiener:<br />
„Ich will Achtsamkeit vermitteln“<br />
7 Trends Gastbeitrag Hanni Rützler:<br />
Von Ultra-Lokal bis Fast-Good<br />
10 Umfrage Einkauf & Kommunikation:<br />
Gast honoriert <strong>Mehrwert</strong>e<br />
12 Dialog Vertrauen: Transparenz – ein Muss<br />
14 Interview Harald Lemke, Philosoph und<br />
Buchautor: „Erzählen Sie Geschichten!“<br />
17 Trendsetter Farm to Fork Reha-Klinikum<br />
Oberlinhaus, Bad Belzig: Fern aller Hektik<br />
20 Restaurant „De Kas“: Holländischer Pionier<br />
22 Fritz Braugasthäuser: Bauer & Brauer<br />
24 Kinderkrankenhaus St. Marien, Landshut:<br />
Vom Hof nebenan<br />
26 Nachgefragt Frank Seipelt, Vorsitzender der<br />
Geschäftsführung von <strong>Transgourmet</strong> Central &<br />
Eastern Europe: „Essen zeigt unsere Identität“<br />
29 Premium Edel-Burger & Craft Beer:<br />
Aufstieg aus der Masse<br />
30 Hans im Glück: Burger im Märchenwald<br />
32 Braugasthaus Altes Mädchen:<br />
Craft Beer & Storytelling<br />
34 Wissen Superfood: Heimische Kraftprotze<br />
36 Management Hotelgruppe Upstalsboom:<br />
Der Weg zum Miteinander<br />
38 SV Schweiz: Den Hebel umlegen<br />
40 Initiative Seniorenverpflegung:<br />
Vom Kostenfaktor zum Glücksfaktor<br />
46 Wissen Neue Lust auf altes Gemüse<br />
48 Impressum<br />
49 Marketing Saisonale Klassiker:<br />
So schmeckt der Sommer<br />
52 Food-Retter Coop Schweiz:<br />
Ein Herz für krummes Gemüse<br />
54 Restlos glücklich, Berlin: Nichts für die Tonne!<br />
56 Tradition Die Story zum Wein:<br />
Zwei familiengeführte Weingüter im Porträt<br />
60 Konzept Origin Green:<br />
Irlands couragierte Initiative<br />
Burkart<br />
Schmid<br />
Ein erfolgreiches norddeutsches Cateringunternehmen positioniert sich<br />
seit vielen Jahren mit einem einzigen Begriff gegenüber dem Wettbewerb:<br />
<strong>Mehrwert</strong>-Ernährung. Hinter dem Wording steckt eine Synthese aus verschiedenen<br />
Aspekten: saisonale Vielfalt, liebevolle frische Zubereitung und<br />
aus ökologischer Landwirtschaft stammende Lebensmittel. Storytelling inklusive,<br />
denn der Verbraucher wünscht Transparenz – vom Acker bis zum<br />
Teller. Damit bedienen Dienstleister wichtige Sehnsuchtsgrößen der Gäste.<br />
Sehnsucht nach Idealzuständen wie Frische, Sicherheit, Gesundheit und<br />
Wohlbefinden in einer immer fragileren Welt. Soll heißen: Immer mehr<br />
Menschen passen ihre Ernährung der jeweiligen Lebensphase und ihrem<br />
Lebensstil an. Die Selbstidentifikation der Verbraucher geschieht mehr und<br />
mehr über das, was, wo und wie sie essen.<br />
Mit Folgewirkung auf Gastronomie, Handel und Zulieferindustrie, deren<br />
Produkte und Konzepte sich immer mehr auf die speziellen Ansprüche der<br />
Gäste fokussieren. Eine regelrechte Maßarbeit. Dabei gilt das Augenmerk<br />
nicht nur den Veganern oder Vegetariern. Hochgradig an Marktrelevanz<br />
gewinnen die Flexitarier, die auch dem gesamten Außer-Haus-Markt neue<br />
Nischen öffnen. Dazu gehört unbedingt auch die steigende Zahl der Menschen,<br />
die sich selbst zu den Allergikern zählen: 2015 schon 12,9 Millionen.<br />
Heißt: Die Zahl der Verbraucher wächst, die vermehrt Wert legen auf eine<br />
offene und klar verständliche Inhaltsstoffangabe der Lebensmittel.<br />
Esskultur 2016+<br />
Frank<br />
Seipelt<br />
Nichts ist heute fühlbarer als die Veränderungsdynamik zwischen Gast und<br />
Gastgeber. Viele Speisenangebote der Profi-Gastronomie kennzeichnet eine<br />
veränderte Angebotsarchitektur – statt nur fleischlos als Alibigröße, müssen<br />
für vegan/vegetarische Nachfrager neue Menüs oder gar Menülinien kreiert<br />
werden. In jedem Fall geht es um „genussvolle Kulinarik mit Raffinesse“, wie<br />
ein Produktentwickler verrät. Wie wir diesen Wandel im Spannungsfeld<br />
zwischen Sehnsuchtsräumen und einer zunehmenden Moralisierung des<br />
Essens auch immer bewältigen, wir spüren auf alle Fälle eine höhere Wertschätzung<br />
für unsere Lebensmittel. Darin stecken für alle Branchenplayer<br />
große Chancen. Auf den folgenden Seiten haben 16 Autoren die Schlüsselkriterien<br />
für mehr Wertschätzung und Wertschöpfung herausgearbeitet.<br />
Dabei gilt: Vertrauen ist die wichtigste Währung zwischen Lebensmittelwirtschaft,<br />
Handel, Gastronomie und Konsumenten. Lesen Sie in unserem dritten<br />
gemeinsamen Special „Essen ist MehrWert“, worauf es wirklich ankommt.<br />
Viel fachliches Lesevergnügen wünschen<br />
Zum Titel: Fotos von <strong>Transgourmet</strong>, Jenny<br />
Sturm (fotolia.de) und Nicole Heiling.<br />
Burkart Schmid ⎮ Chefredakteur ⎮<br />
gv-praxis<br />
Frank Seipelt ⎮ Geschäftsführung (Vorsitz)<br />
<strong>Transgourmet</strong> Central and Eastern Europe<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
3
SPECIAL<br />
„Ich will Achtsamkeit vermitteln“<br />
Wie werden Kinder zu verantwortungsvollen Genießern? Und was heißt überhaupt schmecken<br />
lernen? Ein Gastbeitrag von Fernsehköchin Sarah Wiener über Ernährungsbildung, fehlende<br />
Vorbilder und die Magie des Selbermachens.<br />
Sarah Wiener engagiert sich seit 2007 mit<br />
ihrer Stiftung für Ernährungsbildung.<br />
Als Kind hatte ich Glück. Kulinarisches<br />
Glück. Weil<br />
Fertigprodukte in den 60er Jahren<br />
noch etwas Besonderes und<br />
damit viel teurer als heutzutage<br />
waren, gab es bei uns zu Hause nur<br />
Selbstgekochtes. Und da der Typ<br />
„Helikopter-Eltern“ noch nicht erfunden<br />
war, hatten wir Kinder viel<br />
Zeit, umherzustreunen und den Geschmack<br />
von Äpfeln und Beeren zu<br />
kosten. Ein halbes Jahrhundert später<br />
haben sich die Voraussetzungen unserer<br />
Ernährung radikal gewandelt. Im<br />
Discounter gibt es immer mehr Fertiggerichte<br />
zum Billigpreis zu kaufen.<br />
Und an jeder Straßenecke lauern Pizza,<br />
Döner und Currywurst. Wenn es<br />
heute um Ernährungskompetenz<br />
geht, sind also auch die Fähigkeiten gefragt,<br />
den ständigen Verlockungen zu<br />
widerstehen und den natürlichen Geschmack<br />
unserer Nahrungsmittel<br />
überhaupt wieder kennenzulernen.<br />
Nur wer weiß, was Qualität und guter<br />
Geschmack sind, kann auch eine<br />
Sehnsucht danach entwickeln. Wer<br />
schon als Kind nur überzuckerten<br />
Erdbeer-Joghurt mit künstlichem<br />
Aroma zu essen bekommt, dem<br />
schmecken die „echten“ Erdbeeren<br />
womöglich nicht süß genug. Eine weitere<br />
Entwicklung ist ebenso entscheidend<br />
für unsere neuen Ernährungsgewohnheiten:<br />
Während früher die<br />
Hausfrauen-Ehe das meistgelebte<br />
Modell in Westdeutschland war,<br />
sind heute – zum Glück! – immer<br />
mehr Frauen erwerbstätig. Wenn beide<br />
Elternteile arbeiten, bleibt aber oft<br />
4 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Sarah Wiener Stiftung | Thomas Ladenburger, Christian Kaufmann, Marco Urban
BILDUNG<br />
nur noch wenig Zeit, um mit den Kindern<br />
eine gemeinsame Mahlzeit einzunehmen.<br />
Mittags isst nur noch etwa<br />
die Hälfte der 6- bis 9-Jährigen zu<br />
Hause. Bei Kindern im Kindergartenalter<br />
ist der Anteil noch geringer. Und<br />
da viele Schulkinder Ganztagsschulen<br />
besuchen, bleibt häufig nur der Abend<br />
für ein gemeinsames Essen. Eltern haben<br />
so immer weniger Einfluss, welche<br />
Lebensmittel ihre Kinder zu sich nehmen.<br />
Umso wichtiger ist es, dass die<br />
Kinder möglichst früh eine eigene Ernährungskompetenz<br />
entwickeln. Es<br />
berührt mich, dass immer mehr Kinder<br />
an ernährungsmitbedingten<br />
Krankheiten leiden und viele Kinder<br />
kaum eine selbstgekochte Mahlzeit<br />
bekommen. Ein Kind, das ohne Frühstück<br />
in die Schule geht, kann sich<br />
noch so sehr anstrengen, wenn die<br />
Es bleibt nur der Abend<br />
für gemeinsames Essen.<br />
wichtigste Basis fehlt: Es ist nicht genügend<br />
genährt und kann sich so<br />
nicht auf den Unterricht konzentrieren.<br />
Ebenso sehr empfinde ich es als<br />
untragbar, dass immer mehr Kinder<br />
an Zivilisationskrankheiten wie<br />
Übergewicht und Diabetes Typ 2 leiden,<br />
weil sich ihre Eltern und damit<br />
auch die Kinder falsch, also mit zu viel<br />
Zucker und Fett ernähren. An dieser<br />
Stelle setzt die Sarah Wiener Stiftung<br />
an, die versucht, möglichst vielen Kindern<br />
praktische Ernährungskompetenz<br />
für den Alltag beizubringen und<br />
sie für die Vielfalt unserer Nahrungsmittel<br />
zu begeistern. Wir verfolgen dabei<br />
einen Multiplikatorenansatz, das<br />
heißt, wir richten uns mit unseren<br />
Programmen an die Personen, die mit<br />
Kindern leben und arbeiten. Nach<br />
Gründung der Stiftung im Jahr 2007<br />
haben wir ein Fortbildungsangebot<br />
für pädagogische Fach- und Lehrkräfte<br />
kreiert und in den vergangenen Jahren<br />
knapp 3.000 Pädagoginnen und<br />
Pädagogen zu sogenannten Genussbotschaftern<br />
fortgebildet. Sie geben<br />
ihr Können und Wissen an Kinder in<br />
Kitas und Grundschulen weiter und<br />
zeigen ihnen auf ganz niedrigschwellige<br />
Weise, wie einfach sich etwas<br />
Köstliches aus frischen Lebensmitteln<br />
zaubern lässt. Dass über 60 Prozent<br />
der Einrichtungen dauerhaft dabeibleiben,<br />
zeigt uns, dass das Programm<br />
wirkt. Wir wollen, dass Kinder mit<br />
Freude und Genuss frische Lebensmittel<br />
entdecken – und dies mit allen<br />
Sinnen. In den Genussbotschafter-<br />
Schulungen stellen wir den Teilnehmern<br />
daher beispielsweise vor, wie sie<br />
mit den Kindern Geschmacksschulungen<br />
machen können. Ich liebe es,<br />
Kinder auf den Geschmack vieler toller<br />
Kräuter zu bringen, sie sehen, hören,<br />
tasten, riechen und schmecken zu<br />
lassen. Es ist wunderbar, wie achtsam<br />
sie nach einer solchen Schulung mit<br />
den Kräutern umgehen und wie stolz<br />
sie sind, wenn sie im Anschluss ihren<br />
eigenen selbstgemachten Kräuterquark<br />
mit nach Hause nehmen dürfen.<br />
Wenn Kinder sich mit den Lebensmitteln<br />
verbinden können, wenn<br />
sie sich ohne Verbote einfach einmal<br />
ausprobieren dürfen und hinterher<br />
Ohne Verbote alles<br />
ausprobieren dürfen.<br />
ein eigenes kleines Werk geschaffen<br />
haben, dann werden aus den größten<br />
Kräuter- und Gemüsemuffeln kleine<br />
Feinschmecker, die zu Hause voller<br />
Stolz berichten: „Ich kann kochen!“<br />
Mich freut, dass auch die Politik erkennt,<br />
wie dringend wir etwas für unsere<br />
Kinder und ihre Alltagskompetenz<br />
Ernährung tun müssen. Durch<br />
das neue Präventionsgesetz kann die<br />
Sarah Wiener Stiftung nun gemeinsam<br />
mit der Krankenkasse Barmer<br />
GEK noch mehr Kinder erreichen<br />
und mit der Initiative für praktische<br />
Ernährungsbildung „Ich kann kochen!“<br />
bundesweit Fortbildungen für<br />
Erzieher(innen) und Lehrer(innen)<br />
anbieten. Wir haben das ehrgeizige<br />
Sarah Wiener Stiftung<br />
Sarah Wiener will<br />
Kinder mit allen<br />
Sinnen für Lebensmittel<br />
und die<br />
kreative Arbeit des<br />
Kochens begeistern.<br />
„Für gesunde Kinder und was Vernünftiges zu essen" ist seit<br />
2007 die Mission der Sarah Wiener Stiftung. Antrieb für<br />
Stiftungsgründerin und Köchin Sarah Wiener ist das schwindende<br />
Wissen der Kinder über Zubereitung, Herkunft und<br />
Vielfalt unserer Lebensmittel. Kern der Stiftungsarbeit sind<br />
Fortbildungen für pädagogische Fach- und Lehrkräfte, damit<br />
diese in ihren Einrichtungen praktische Koch- und Ernährungskurse<br />
für Kinder anbieten können. In einer Partnerschaft<br />
mit der Barmer GEK will die Stiftung mit ihrer Initiative<br />
„Ich kann kochen!“ in den kommenden fünf Jahren<br />
bundesweit 56.000 Genussbotschafter fortbilden und<br />
damit 1,4 Millionen Kindergartenkinder und Schüler erreichen.<br />
Zudem bietet die Stiftung Exkursionen zu Bauernhöfen<br />
an und zeigt den Kindern, wo die Zutaten für unser<br />
Essen ihren Ursprung haben. www.ichkannkochen.de<br />
www.sarah-wiener-stiftung.de<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
5
BILDUNG<br />
Kinder sollten<br />
Lebensmittel mit<br />
allen Sinnen<br />
erfahren können.<br />
„Ich liebe es,<br />
Kinder auf den<br />
Geschmack verschiedener<br />
Kräuter<br />
zu bringen“, sagt<br />
Sarah Wiener.<br />
Kinder dort abholen, wo<br />
sie tagtäglich sind.<br />
Ziel, in den nächsten fünf Jahren über<br />
eine Million Kinder zu erreichen. Unser<br />
Ansatz lautet, die Kinder dort abzuholen,<br />
wo sie sind: in der Kita, in der<br />
Schule, und ihnen das beizubringen,<br />
was vielleicht zu Hause nicht (mehr)<br />
weitergegeben wird. Zu unserem Programm<br />
für praktische Ernährungsbildung<br />
gehört auch, mit den Kindern<br />
zum Ursprung der Lebensmittel zu<br />
gelangen. Auf den Bauernhoffahrten,<br />
die meine Stiftung organisiert, lernen<br />
Mädchen und Jungen, woher die<br />
Milch kommt, wie Käse gemacht wird<br />
oder wie überhaupt eine Kartoffelpflanze<br />
aussieht. Wichtig ist, dass sie<br />
nicht nur schauen, sondern selbst mitmachen<br />
dürfen. Auch wenn die Politik<br />
sowie Kitas und Schulen sich verstärkt<br />
um die Gesundheit der Kinder<br />
kümmern, entlässt das die Eltern<br />
nicht aus ihrer Verantwortung. Denn<br />
ob wir ein Vorbild sein wollen oder<br />
nicht, wir sind es. Die Kinder orientieren<br />
sich an uns. Dieser Verantwortung<br />
sollten wir gerecht werden, indem<br />
wir unseren Kindern ein möglichst<br />
ausgewogenes Essverhalten vorleben<br />
und sie neugierig machen auf die<br />
wunderbare Welt der Kulinarik. Die<br />
gute Nachricht: Das ist gar nicht<br />
schwer. Schon in der Schwangerschaft<br />
bekommt das Kind eine erste Prägung<br />
seines Geschmackssinns. Ist das Baby<br />
auf der Welt, nimmt es über die Muttermilch<br />
die kulinarischen Vorlieben<br />
der Mutter auf. So lernt es früh: Was<br />
ich zu mir nehme, schmeckt immer<br />
ein bisschen anders. Flaschennahrung<br />
hingegen schmeckt immer gleich.<br />
Wächst das Kind heran, ist die Vorliebe<br />
für Süßes für viele Eltern eine<br />
Herausforderung. Während Brokkoli,<br />
Spinat oder Paprika verschmäht<br />
werden, können Kinder Unmengen<br />
an Süßigkeiten verspeisen. Das sollte<br />
Eltern nicht gleich zur Verzweiflung<br />
bringen, denn es gibt einen genetisch<br />
bedingten Grund für diese Vorliebe:<br />
Süßes ist in der Regel nicht giftig und<br />
hat einen hohen Nährstoffgehalt,<br />
während Gemüse mit einem bitteren<br />
Geschmack potenziell giftig sein<br />
könnte. Kinder sind durchaus offen,<br />
auch neue Geschmäcker zu probieren,<br />
wenn sie sehen, dass es ihrem „Vorbild“<br />
– also den Eltern oder anderen<br />
engen Bezugspersonen – sichtbar<br />
schmeckt. Wichtig ist, nicht gleich<br />
aufzugeben, sondern es immer einmal<br />
wieder anzubieten. Denn auch hier<br />
spielen unbewusste „Vorsichtsmaßnahmen“<br />
des Kindes eine Rolle: Sehe<br />
ich als Kind wiederholt, dass etwa<br />
mein Vater ein Stück grünes Gemüse<br />
mit Genuss isst, kann ich daraus<br />
schließen, dass es nicht giftig ist. Was<br />
Kinder wirklich nicht brauchen, sind<br />
als „Kinderlebensmittel“ vermarktete<br />
Produkte, die oft viel Zucker enthalten.<br />
Damit bekommen sie das Bild<br />
vermittelt, Kinder bräuchten spezielle<br />
Lebensmittel. Und auch wenn in den<br />
Familien der Alltag hektisch ist, für eine<br />
gemeinsame Mahlzeit am Tag sollte<br />
Zeit sein. Gemeinsam essen bedeutet<br />
so viel mehr, als nur satt zu werden.<br />
Als Köchin möchte ich eine Lanze<br />
brechen für dieses schöne Ritual.<br />
Wenn wir unseren Kindern bei einem<br />
Eltern sind in der<br />
Verantwortung.<br />
guten Essen Aufmerksamkeit schenken,<br />
können wir ihnen neben unserer<br />
Liebe auch die Wertschätzung für gute<br />
Lebensmittel und Achtsamkeit<br />
beim Essen vermitteln. Wenn unsere<br />
Kinder wissen, was sie essen und wie<br />
ihr Essen zubereitet wird, macht sie<br />
das stark und unabhängig. Sie können<br />
lernen, dass es eine Jahreszeit für jedes<br />
Obst und Gemüse gibt und dass die<br />
Wurst auf dem Brot von einem Tier<br />
stammt – und diese Tiere für uns sterben.<br />
So werden sie zu verantwortungsvollen,<br />
genussvollen Essern und aufmerksamen<br />
Verbrauchern, die mit<br />
viel Selbstvertrauen als junge Erwachsene<br />
die Welt der Kulinarik weiter für<br />
sich entdecken. Und wenn Sie mich<br />
zum Abschluss fragen, wie ich es mit<br />
der Ernährung halte, dann kann ich<br />
Ihnen meinen einfachen Grundsatz<br />
mit auf den Weg geben: Möglichst oft<br />
frisch kochen und dabei saisonale und<br />
regionale Zutaten verwenden. Am<br />
besten aus Bio-Anbau. Ab und zu eine<br />
Leckerei ist vollkommen in Ordnung.<br />
Und wenn es mal ein Stück Kuchen<br />
mehr geworden ist, geht die Welt auch<br />
nicht unter. Wichtig ist die Wertschätzung<br />
und Achtsamkeit den Lebensmitteln<br />
gegenüber.<br />
6 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
SPECIAL
TRENDS<br />
Von Ultra-Lokal bis Fast-Good<br />
Welche <strong>Mehrwert</strong>e schätzt und honoriert der Gast auf dem Teller? Was liebt, was meidet er?<br />
Eine Trend-Analyse von Hanni Rützler – Ernährungsforscherin, Esskultur-Expertin und Verkosterin<br />
des ersten In-vitro-Burgers der Welt.<br />
Von der Nase bis zum Schwanz,<br />
von der Wurzel bis zum Blatt,<br />
vom Acker bis zum Teller – so lauten<br />
seit einigen Jahren die Überschriften<br />
vieler Beiträge zur Zukunft des Essens.<br />
In der Trendsprache Englisch hört<br />
sich das so ähnlich an: Nose to Tail,<br />
Root to Leaf, Farm to Fork. Sie alle haben<br />
eines gemeinsam: In ihnen<br />
kommt der (neue) Respekt der Konsumenten<br />
vor ihren Lebensmitteln<br />
zum Ausdruck, das Wissen oder zumindest<br />
die Ahnung, dass man nur<br />
wirklich genießen kann, was nicht nur<br />
im kulinarischen Sinn „gut“ ist. Für<br />
mehr und mehr Konsumenten ist ein<br />
Essen erst dann gut, wenn es ihnen<br />
über gustatorische Empfindungen hinaus<br />
„schmeckt“, wenn ihre Lebensmittel<br />
und Speisen einen <strong>Mehrwert</strong><br />
haben, den sie auch zu honorieren bereit<br />
sind: durch Markentreue oder<br />
Akzeptanz höherer Preise. Ein solcher<br />
<strong>Mehrwert</strong> stellt sich ein, wenn die<br />
Produktion von Lebensmitteln den<br />
ethischen Werten, die einem wichtig<br />
sind, entgegenkommt. Oder wenn<br />
Speisen den Wunsch nach einer gesunden<br />
Lebensführung unterstützen<br />
– oder Verpflegungsangebote und<br />
Services die Ernährung im stets stressigen<br />
Alltag erleichtern. Nicht zuletzt<br />
stellt sich ein <strong>Mehrwert</strong> auch dann<br />
ein, wenn bestimmte Produkte und<br />
<strong>Mehrwert</strong>e auf dem<br />
Teller erzeugen.<br />
Zur Autorin<br />
Hanni Rützler zählt zu den renommiertesten Ernährungsforscherinnen<br />
in Europa. Die Österreicherin leitet das von ihr<br />
gegründete Futurefoodstudio in Wien und ist Autorin<br />
zahlreicher Bücher rund um unser Ess- und Trinkverhalten.<br />
Gemeinsam mit der Lebensmittel Zeitung der dfv Mediengruppe<br />
hat sie in diesem Jahr bereits den vierten Food<br />
Report veröffentlicht. Er gilt als Trendbibel für die Außer-<br />
Haus-Branche und zeigt, wohin die Reise geht.<br />
www.futurefoodstudio.at<br />
Zubereitungsarten dazu taugen, der<br />
persönlichen Individualität und dem<br />
jeweiligen Lebensstil Ausdruck zu<br />
verleihen. All das spiegelt sich in unterschiedlichen<br />
Food-Trends wider.<br />
Food-Trends, so könnte man also daraus<br />
schließen, sind Entwicklungen<br />
innerhalb einer Esskultur, die – so sie<br />
sich durchsetzen – <strong>Mehrwert</strong>e versprechen.<br />
Seit es beim Essen nicht<br />
mehr nur darum geht, satt zu werden,<br />
fällt unser Blick auf die sich in Food-<br />
Trends manifestierenden Lösungsan-<br />
Fotos: Dan Barbers Blue Hill, freiluftsupermarkt.de, Lars Hübner (Wild & Root), Nobelhardt & Schmutzig,<br />
Thomas Wunderlich, Sons & Daughters, Endless Simmer | Naomi Robinson (Elle Germany | pinterest.com)<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
7
SPECIAL<br />
TRENDS<br />
Das Restaurant<br />
Dan Barbers Blue<br />
Hill in New York<br />
setzt lokale Zutaten<br />
als Tischdeko<br />
gekonnt in Szene.<br />
langsam auch in der Gemeinschaftsgastronomie<br />
durch. Insbesondere für Betriebsrestaurants<br />
werden die Verwendung<br />
regionaler Produkte sowie die<br />
wertschätzende Verarbeitung zu einem<br />
wichtigen Corporate Identity Tool.<br />
Unternehmen, die eine hohe Produktqualität,<br />
Nachhaltigkeit bei den Herstellungsverfahren<br />
und Social Responsibility<br />
zu ihren zentralen Werten zählen,<br />
versuchen diese auch nach innen<br />
durch korrespondierende Maßnahmen<br />
bei der Verpflegung zum Ausdruck zu<br />
bringen. Apropos Identity: Essen wird<br />
Immer mehr<br />
Restaurants setzen<br />
auf den Trend<br />
„Brutal Lokal“.<br />
gebote für unsere Ernährungsprobleme<br />
sowie unsere kulinarischen Sehnsüchte.<br />
Naturgemäß sind diese Sehnsüchte<br />
und Probleme in komplexen<br />
Gesellschaften sehr unterschiedlich.<br />
Das heißt: Die Zukunft unseres Essens<br />
wird von vielen sich zum Teil<br />
überlagernden, verstärkenden, zum<br />
Teil aber auch widersprechenden<br />
Food-Trends bestimmt werden. Neben<br />
Fast Food und Convenience –<br />
zwei wichtigen Trends des ausgehenden<br />
20. Jahrhunderts – gewinnen seit<br />
einigen Jahren andere Trends an Einfluss.<br />
Es sind besonders jene Trends, in<br />
denen sich die Konsum- und Lifestyle-Bedürfnisse<br />
der Verbraucher<br />
mit dem Stand des Wissens über die<br />
globale Agrar- und Lebensmittelproduktion<br />
vereinen. Immer mehr Konsumenten<br />
suchen daher nach Orientierungshilfen<br />
bei der Wahl ihrer Lebensmittel,<br />
deren Herstellung nicht<br />
die Umwelt belastet oder unnötiges<br />
Tierleid verursacht. Produkte aus regionaler<br />
Herkunft, die eng mit dem<br />
„Terroir“ und den Menschen, die sie<br />
herstellen, verbunden sind, erzählen<br />
Geschichten, die Orientierung geben<br />
und der Sehnsucht der Konsumenten<br />
nach Vertrautheit, Natürlichkeit und<br />
Authentizität entgegenkommen. Zugleich<br />
begünstigt der Local Food<br />
Trend die Wiederentdeckung regionaler<br />
Speisen und die Renaissance<br />
handwerklicher und manufaktureller<br />
Produktionsweisen. Die wachsende<br />
Verbraucher suchen nach<br />
Orientierung.<br />
Fokussierung auf regionale Lebensmittel<br />
geht auch einher mit einer Rückbesinnung<br />
auf saisonale Verfügbarkeit sowie<br />
auf spezifische Sorten und Rassen.<br />
Was in der gehobenen Gastronomie<br />
heute schon fast Standard ist, setzt sich<br />
Essen wird immer mehr<br />
zum Stilmittel.<br />
auf individueller Ebene immer mehr<br />
zum Stil- und Identifikationsmittel.<br />
So definieren wir uns heute mehr und<br />
mehr über unsere Ernährung statt<br />
über Mode, Musikvorlieben und Autos,<br />
die wir fahren. Insbesondere darüber,<br />
was wir nicht essen: Durch das<br />
Weglassen bestimmter Lebensmittel<br />
und Inhaltsstoffe kann man signalisieren,<br />
wer oder was man ist oder zumindest<br />
sein will. Das wird besonders<br />
deutlich bei religiös oder ethisch begründeten<br />
Ernährungsweisen, die mit<br />
klaren Esstabus und Speisevorschriften<br />
die Abgrenzung von Mainstream-<br />
Essern ermöglichen. Spätestens mit<br />
der Popularisierung des Veganismus<br />
ist Spiritual Food zu einem markanten<br />
Trend geworden. Auch koschere<br />
und Halal-Lebensmittel rücken wie-<br />
8 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
TRENDS<br />
der verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit.<br />
Nicht nur aufgrund der<br />
zunehmenden ethischen Durchmischung<br />
unserer Gesellschaft, sondern<br />
weil sie oft auch von nicht-religiösen<br />
Konsumenten als „sicherer“ oder authentischer<br />
eingestuft werden als die<br />
Durchschnittsware. Neben Vertrautheit,<br />
Natürlichkeit und Authentizität<br />
ist nach wie vor Gesundheit für viele<br />
ein zentraler Wert. Die Ernährung<br />
spielt hierbei eine tragende Rolle. Für<br />
die meisten Konsumenten bestimmen<br />
dabei nicht klassisch naturwissenschaftliche<br />
Argumente – wie sie<br />
bei der Promotion von Functional<br />
Food überstrapaziert werden – die<br />
Wahrnehmung, sondern das überlieferte<br />
Alltagswissen, dass der Konsum<br />
pflanzlicher Lebensmittel wie Obst,<br />
Gemüse und Getreideprodukte auf<br />
natürliche Weise zu einer optimalen<br />
Ernährung beiträgt. Besonders Ernährungssysteme<br />
aus Fernost vereinen<br />
scheinbar mühelos die zyklisch<br />
wechselnden, gesundheitlich motivierten<br />
Diätbewegungen in den westlichen<br />
Gesellschaften: weniger Fett,<br />
weniger Salz und weniger Zucker. Die<br />
kulinarischen Vorbilder aus Thailand,<br />
Japan und Indien mit ihrem hohen<br />
Anteil an vegetabilen Lebensmitteln<br />
tragen dazu bei, den scheinbaren<br />
Widerspruch zwischen gesundem Essen<br />
und Genuss aufzuheben. Sie fokussieren<br />
unter dem Gesundheitsaspekt<br />
nicht auf Verzicht, Kontrolle<br />
und Zwang, sondern auf eine Ernährung,<br />
die kulinarisch anregend und<br />
⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖⌖<br />
CON-<br />
VENIENCE<br />
FUNCTIONAL<br />
FOOD<br />
trotzdem gesund ist. Und auf Lebensmittel<br />
und Speisen, die uns auch im<br />
Alltag eine gesunde Lebensweise erleichtern,<br />
weil sie uns schmecken und<br />
ohne strikten Diätplan zuzubereiten<br />
sind. Ein Trend, der mit dem Begriff<br />
Speisen aus allen Teilen<br />
der Pflanze zubereiten.<br />
LOCAL<br />
FOOD<br />
SPIRITUAL<br />
FOOD<br />
FAST<br />
FOOD<br />
Soft Health Food am besten zu beschreiben<br />
ist. Infolge dieser Einflüsse<br />
wird Gemüse auch von traditionellen<br />
Köchen in Europa mit größerem Respekt<br />
zubereitet. Die kulinarische Aufwertung<br />
pflanzlicher Nahrung erleichtert<br />
es, den Fleischanteil an unserer<br />
Nahrung zu verringern und erübrigt<br />
zunehmend auch die Herstellung<br />
fleischähnlicher Produkte, beispielsweise<br />
aus Soja. Mit ihr einher geht eine<br />
neue Wertschätzung der ganzen<br />
Pflanze beziehungsweise der ganzen<br />
Frucht, die sich auch in vielen neuen<br />
Kochbüchern widerspiegelt (Root to<br />
Leaf). Sie enthalten anregende Rezepte,<br />
in denen auch jene Teile kulinarisch<br />
geadelt werden, die sonst häufig<br />
im Mülleimer landen: von der Schale<br />
der Wassermelone bis zu den Blättern<br />
der Kohlrabi-Knolle. Im Foodie-Milieu<br />
gehört es längst zur besonderen<br />
Auszeichnung, wenn Speisen aus allen<br />
Teilen des Tieres oder der Pflanze zubereitet<br />
werden.<br />
Food-Trends auf<br />
dem Teller erzeugen<br />
<strong>Mehrwert</strong>e<br />
für den Gast.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
9
UMFRAGE<br />
Der Preis verliert als<br />
wichtigstes Einkaufskriterium<br />
an Gewicht.<br />
Frische lautet stattdessen<br />
das neue Zauberwort.<br />
Doch nicht nur dafür<br />
zahlt der Gast heute<br />
gerne mehr, wie eine<br />
exklusive Umfrage mit<br />
300 Profis aus GV und<br />
Gastronomie zeigt.<br />
Gast honoriert <strong>Mehrwert</strong>e<br />
Geiz ist geil war gestern. Heute<br />
schauen Gemeinschafts- und<br />
Profigastronomen zunächst auf<br />
Qualität und Frische beim Einkauf<br />
ihrer Produkte, gefolgt von den Kriterien<br />
„Nachhaltig“ und „Clean Label“.<br />
Erst der zweite Blick fällt bei der<br />
Gäste lieben Front-Cooking<br />
Für welche Produkte/Menüs sind die Gäste<br />
am ehesten bereit, mehr zu zahlen?<br />
Front-Cooking 59,9<br />
Fleisch aus artgerechter Haltung 46,3<br />
Menüs mit regionalen Zutaten 46,3<br />
Bio-Gericht 41,2<br />
Fisch aus nachhaltigem Fang 35,6<br />
Produkte aus fairem Handel 26,6<br />
Gesunde Speisen 26,0<br />
Vegane Speisen 24,9<br />
Vegetarische Speisen 16,9<br />
Gericht vom Sternekoch 13,6<br />
%<br />
Quelle: gv-praxis/food-service, Mehrfachnennungen möglich, n = 182<br />
© gv-praxis-grafik<br />
Mehrheit der Entscheider auf den<br />
Preis. Dies zeigt eine exklusive Umfrage<br />
von gv-praxis und food-service,<br />
bei der 300 Entscheider ihr Votum<br />
zu Einkaufsverhalten und Gastkommunikation<br />
abgaben. Was überrascht:<br />
Lebensmittel ohne „Makeup“<br />
– kurzum ohne Zusatzstoffe wie<br />
künstliche Aromen und Farbstoffe –<br />
avancieren zur begehrten Ware, für<br />
die jeder vierte Einkäufer auch bereit<br />
ist, mehr zu zahlen. Gleichzeitig prägt<br />
der Nachhaltigkeitsgedanke immer<br />
stärker das Einkaufsverhalten – insbesondere<br />
in der Gemeinschaftsgastronomie.<br />
Hier schaut jeder Zweite,<br />
ob die Ware „grüne“ Pluspunkte verspricht.<br />
Insgesamt wächst der Anspruch<br />
an den Handel. Die Einkäufer<br />
erwarten heute eine aufrichtige und<br />
faire Partnerschaft. Ebenso gefragt<br />
Der Anspruch an den<br />
Handel wächst.<br />
sind ehrliche Produkte zu fairen Preisen,<br />
die Bauern und Herstellern ein<br />
gerechtes Einkommen garantieren.<br />
Keine Selbstverständlichkeit bei den<br />
Dumpingpreisen in Deutschland.<br />
Ein Systemgastronom merkt dazu<br />
kritisch an: „Bei nachhaltigen Lebensmitteln<br />
mit <strong>Mehrwert</strong>en wie<br />
Bio, fair und regional sollte der Handel<br />
mit niedrigeren Gewinnen zufrie-<br />
10 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Foto: Thomas Fedra<br />
SPECIAL
UMFRAGE<br />
Der Preis dominiert nicht mehr den Einkauf<br />
Welches Einkaufskriterium ist Ihnen sehr wichtig?<br />
66,3<br />
61,4<br />
Gemeinschaftsgastronomie<br />
50,6<br />
48,7<br />
44,2<br />
35,2<br />
22,0<br />
18,6<br />
15,9<br />
8,7<br />
8,5<br />
8,1<br />
7,1<br />
6,1<br />
Top-Qualität<br />
Hoher Frischegrad<br />
Nachhaltigkeit<br />
Produkt aus Region<br />
Clean Label<br />
Profigastronomie<br />
33,3<br />
28,9<br />
38,2<br />
32,6<br />
33,7<br />
19,1<br />
17,8<br />
18,0<br />
16,9<br />
15,3<br />
19,5<br />
11,4<br />
Werte gerankt nach: Gemeinschaftsgastronomie Quelle: gv-praxis/food-service, n = 189<br />
Preis<br />
Produkt mit garantierter Ursprungsbezeichnung<br />
Produkt aus fairem Handel<br />
Bio-Produkt<br />
Frei-von-Produkt<br />
Produkt aus handwerklicher Herstellung<br />
Top-Hersteller-Marke<br />
Hoher Conveniencegrad<br />
Eigenmarke Handel<br />
%<br />
84,6<br />
70,0<br />
© gv-praxis-grafik<br />
Die ersten fünf<br />
Kriterien sind den<br />
Gastro-Profis beim<br />
Einkauf nicht nur<br />
wichtig, sie sind<br />
ebenso bereit, für<br />
die Attribute Top-<br />
Qualität, Frische,<br />
Nachhaltigkeit,<br />
Regional und Clean<br />
Label mehr zu<br />
zahlen.<br />
den sein und die geringere Marge<br />
nicht ausschließlich an den Endverkäufer<br />
abwälzen.“ Schließlich haben<br />
Fleisch aus artgerechter Haltung und<br />
Paprika aus Bio-Anbau ihren Preis,<br />
den der Gastronom nur zu einem gewissen<br />
Grad an den Gast weitergeben<br />
kann, wie die Umfrage zeigt. Bei einem<br />
Aufschlag von 25 Prozent ist bei<br />
den meisten Gästen allerspätestens<br />
die finanzielle Schmerzgrenze erreicht.<br />
Der Großteil der Restaurantbesucher<br />
honoriert ein höherwertiges<br />
Angebot mit einem Aufpreis von maximal<br />
10 Prozent, beobachten rund 45<br />
Prozent der Befragten. Vor allem für<br />
frisch zubereitete Menüs greift der<br />
Gast gerne tiefer in die Tasche, wie die<br />
Umfrage zeigt (siehe Grafik ). Erst danach<br />
folgen <strong>Mehrwert</strong>-Faktoren wie<br />
„Regional“ oder „Fleisch aus artgerechter<br />
Tierhaltung“. Positiv: Der<br />
Gast honoriert immer häufiger eine<br />
nachhaltige und transparente Einkaufspolitik<br />
und schaut nicht mehr allein<br />
auf Schnitzelgröße und Preis.<br />
Gleichzeitig fragen die Kunden im<br />
Vergleich zu 2010 vermehrt nach, woher<br />
Steak und Salat auf dem Teller eigentlich<br />
stammen. Zwei Drittel der<br />
Entscheider informieren ihre Gäste<br />
wohl auch deshalb über Lieferanten<br />
Persönliches Gespräch<br />
mit Gast wichtig.<br />
Herkunft der Produkte<br />
Interessieren sich heute mehr Gäste für die<br />
Herkunft der Produkte im Vergleich zu 2010?<br />
75,9<br />
11,2<br />
12,9<br />
Quelle: gv-praxis/food-service, n = 170<br />
Nein<br />
Ja<br />
Weiß nicht<br />
%<br />
© gv-praxis-grafik<br />
und Hersteller. Während Profigastronomen<br />
dafür neben persönlichem Gespräch<br />
und Homepage Social-Media-<br />
Plattformen wie Facebook nutzen,<br />
setzen die Kollegen in Betriebsrestaurants,<br />
Kliniken und Mensen auf den<br />
klassischen Aushang im Speisenraum,<br />
gefolgt vom persönlichen Gespräch<br />
und Intranet. Neben Herkunft gewinnt<br />
das Thema Gesundheit an Gewicht:<br />
Zwei Drittel der Gastroprofis<br />
glauben, dass sich mit einem betont<br />
gesunden Angebot mehr Umsatz machen<br />
lässt. Doch was heißt beim Gast<br />
gesund? Ein hoher Frischegrad sei hier<br />
das Nonplusultra, gefolgt von Kriterien<br />
wie Veggie, ohne Gentechnik und<br />
Zusatzstoffe, so die Meinung der Befragten.<br />
Frische – so viel steht fest – ist<br />
heute die Basis für mehr Wertschätzung<br />
auf dem Teller. Claudia Zilz<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
11
SPECIAL<br />
Transparenz – ein Muss<br />
Vertrauen ist die wichtigste Währung der Lebensmittelwirtschaft, die in jahrelanger<br />
Anstrengung aufgebaut und entwickelt werden muss. Manchmal reicht eine Sekunde –<br />
und gewonnenes Vertrauen ist dahin.<br />
Nahrungsmittel reisen um die halbe<br />
Welt, bevor sie beim Endverbraucher<br />
ankommen – schwierig für<br />
die Industrie, hier eine hundertprozentige<br />
Sicherung der gesamten Lieferkette<br />
zu gewährleisten. In den Medien<br />
reißerisch behandelte Lebensmittelskandale<br />
nagen am Vertrauen der<br />
Konsumenten. Gleichzeitig steigert<br />
eine kaufkräftige Mittelschicht ihre<br />
Ansprüche an Qualität und Sicherheit<br />
von Lebensmitteln. In einer Zeit, in<br />
der die Qualitätskontrollen so gut,<br />
umfassend und tiefgreifend wie nie zuvor<br />
sind, registrieren wirauf Käuferseite<br />
dennoch eine Verunsicherung.<br />
Doch nicht alle Verbraucher haben gegenüber<br />
Lebensmitteln ein grundsätzliches<br />
Misstrauen. „Die meisten Menschen<br />
wollen vertrauen. Wir sind einfach<br />
nicht dazu gemacht, permanent<br />
12 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
abzuwägen“, sagt Jens Krüger, Geschäftsführer<br />
des Marktforschungsinstituts<br />
TNS Infratest. Das Gros geht<br />
davon aus, dass mit den Produkten in<br />
Supermarkt und Gastronomie schon<br />
alles in Ordnung ist und verschwendet<br />
keine größeren Gedanken an Herkunft<br />
und Verarbeitung. Aber: Immer<br />
Die meisten Menschen<br />
wollen vertrauen.<br />
mehr Konsumenten schauen genau<br />
hin und fragen nach– besonders beim<br />
Essen. Die eine Studie nennt sie Quality<br />
Eaters, eine andere Food eVangelists.<br />
Gemeinsam ist ihnen ein sehr reflektiertes<br />
Kaufverhalten und ein hoher<br />
Anspruch an das eigene Verhalten<br />
und an das der Lebensmittelhändler<br />
Fotos: Kasto (fotolia.de), Transfair<br />
und Gastronomen. Sie wollen alles<br />
richtig machen und reagieren hochsensibel,<br />
wenn sie sich getäuscht fühlen.<br />
Sie engagieren sich, um Produktion,<br />
Verarbeitung sowie den Vertrieb<br />
von Lebensmitteln zu beeinflussen<br />
und fordern von der Industrie mehr<br />
Transparenz und Ehrlichkeit. Sie sind<br />
das, was die Marktforschung „Early<br />
Adopter“ nennt. Damit ist absehbar,<br />
dass eine engagierte, kritische Haltung<br />
zunehmend zum normalen Verbraucherverhalten<br />
wird, so die Ergebnisse<br />
der aktuellen Studie „Food 2020“ der<br />
Agentur Ketchum Pleon. Insgesamt<br />
sind die Verbraucher mündiger und<br />
wacher geworden. Portale wie etwa<br />
foodwatch.de oder lebensmittelwarnung.de<br />
erfreuen sich sehr guter Besucherzahlen<br />
– die Menschen sind auf<br />
der Suche nach vertrauenswürdigen
DIALOG<br />
In Deutschland gibt es<br />
eine Vertrauenskrise.<br />
Quellen und wollen sicher sein bei<br />
dem, was sie selbst konsumieren oder<br />
ihrer Familie vorsetzen. Dabei ist es<br />
gerade um die Sicherheit bei Lebensmitteln<br />
in Deutschland gut bestellt. In<br />
den letzten fünf Jahren wurden im<br />
Schnitt jährlich gerade einmal 100 Lebensmittelwarnungen<br />
über den Twitter-Kanal<br />
von www.lebensmittelwarnung.de<br />
veröffentlicht. Die Seite wird<br />
vom Bundesamt für Verbraucherschutz<br />
und Lebensmittelsicherheit<br />
betrieben. „Das Vertrauen in die deutsche<br />
Lebensmittelindustrie ist durchaus<br />
zufriedenstellend und liegt weit<br />
vor dem gegenüber der Automobilund<br />
Bankenbranche“, weiß Jens Krüger,<br />
der für den Verein Lebensmittelwirtschaft<br />
im vergangenen Jahr Verbraucher<br />
befragte, wie es um ihre Meinung<br />
zu unterschiedlichen Branchen<br />
bestellt ist. „Wir haben allerdings<br />
prinzipiell in Deutschland eine Vertrauenskrise,<br />
was auch mit der Digitalisierung<br />
zu tun hat.“ Durch eine „Wiki“-isierung<br />
des Wissens gibt es zu viele,<br />
auch widersprüchliche Informationen.<br />
Damit wird es immer<br />
schwieriger, zu einer fundierten Meinung<br />
zu gelangen. Krüger ist überzeugt,<br />
dass der Verbraucher heute nur<br />
noch der Stiftung Warentest als neutraler<br />
Quelle vertraut. Direkt danach<br />
Der Weg zum Vertrauen<br />
Die Führungsebene muss engagiert vorangehen und<br />
nach innen und außen ein Vorbild sein.<br />
Unternehmen sollten verbindlich, schnell, freundlich und<br />
kompetent mit Input von außen umgehen.<br />
Im ständigen Optimierungsprozess das eigene Verhalten<br />
und das der Mitarbeiter auf den Prüfstand stellen.<br />
Immer die Mitarbeiter mit ins Boot holen, um bei Kritik<br />
professionell reagieren zu können.<br />
Zulieferkette samt Lieferpartner so gut wie möglich<br />
kennen und Risikomanagement vorbereiten und mit<br />
gesamtem Team absprechen.<br />
Transparenz gegenüber den Kunden zeigen, z. B. mit<br />
Lieferanten-Fibel (Profil der Partner) oder Storytelling.<br />
Kommunikationskanäle wie Social-Media-Einträge im<br />
Blick behalten und bei Kritik sofort besonnen reagieren.<br />
Smartphones schnell gezückt<br />
Jeder Fünfte googelt beim Einkauf<br />
29<br />
Jahre 14-18<br />
26<br />
19-29<br />
Quelle: BMEL – Ernährungsreport 2016<br />
22<br />
30-44<br />
Unternehmen spüren<br />
Veränderungsdruck.<br />
45-59<br />
kommen Freunde und Bekannte. Diese<br />
Einschätzung teilen auch die Studien<br />
Ketchum Food 2020 und das Edelman-Trust-Barometer.<br />
„Im Bereich<br />
Lebensmittel und Ernährung haben<br />
wir in Deutschland 80 Millionen Experten.<br />
Das Thema betrifft jeden Einzelnen“,<br />
sagt Ulrich Helzer, Leiter des<br />
Corporate-Affairs-Geschäfts bei<br />
Edelman.ergo. Ein großer Teil sei jedoch<br />
beim Vertrauen noch nicht festgelegt,<br />
sondern wäge je nach gesellschaftlicher<br />
und medialer Diskussion<br />
ab.<br />
Beim Spiel der medialen Diskussion<br />
sind die Gastronomen bisher aktiver<br />
als die Lebensmittelindustrie. Restaurants<br />
konnten in den vergangenen<br />
Jahren über das unmittelbare Feedback<br />
auf Portalen wie Yelp oder Tripadvisor<br />
die Auswirkungen einer einzelnen<br />
harschen Kritik am eigenen<br />
Leib spüren. Sie haben den Dialog mit<br />
den Kunden aufgenommen und reagieren<br />
inzwischen professionell mit<br />
entsprechenden Gegenmaßnahmen.<br />
In diesem Punkt hinkt die Industrie<br />
noch hinterher. Die Zeiten sind vorbei,<br />
dass Kunden zwar vorher befragt<br />
werden, man die Produkte jedoch<br />
dann hinter verschlossenen Türen<br />
nach Gutdünken entwickelt – in der<br />
selbstbewussten Überzeugung, dass<br />
sich diese mit dem richtigen Marketing<br />
schon verkaufen lassen. „Die Industrie<br />
muss lernen, zuzuhören – und<br />
tut das an vielen Stellen auch schon.<br />
Ich erlebe das als echten Veränderungswillen,<br />
weil alle eben auch den<br />
Veränderungsdruck spüren“, berichtet<br />
Krüger und ergänzt: „Hersteller<br />
hören auf Konsumenten heute nicht<br />
nur über Marktforschung und Trendstudien,<br />
sondern auch über eigens dafür<br />
kreierte Plattformen und Verbraucherbeiräte.<br />
Von dort kommen die Innovationen!“<br />
Eine enge Kooperation<br />
zwischen Gastronomie und Lebensmittelhersteller<br />
wird immer wichtiger,<br />
um den Informationsbedarf der<br />
Kundschaft stillen zu können –<br />
schließlich steigt von Tag zu Tag der<br />
Anspruch, die gewünschten Informationen<br />
sofort, mundgerecht und auf<br />
dem Silbertablet(t) zu erhalten.<br />
Laut Krüger könnte es durchaus noch<br />
Dekaden dauern, bis das in der Branche<br />
durchweg gelebt wird. Ob der<br />
Zeitgeist allerdings so geduldig sein<br />
wird, bleibt fraglich. Zu leicht kann<br />
dieser Wissensdrang jederzeit in eine<br />
Vorwurfhaltung kippen: Unternehmen,<br />
die nicht aus eigenem Antrieb<br />
ihre Lieferketten und Produktionsstätten<br />
transparent darstellen und den<br />
Dialog mit dem Abnehmer scheuen,<br />
könnten schnell unter dem Generalverdacht<br />
des „Etwas-Verbergen-Müssens“<br />
stehen.<br />
Daniela Dietz<br />
15<br />
%<br />
17<br />
60 Jahre<br />
und älter<br />
© gv-praxis-grafik<br />
Ein Fünftel der<br />
Smartphone-Besitzer<br />
googelt beim<br />
Einkauf, 14 Prozent<br />
rufen QR-Codes auf,<br />
wenn sie mehr<br />
wissen wollen.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
13
SPECIAL<br />
„Erzählen Sie Geschichten!“<br />
Nicht mehr und nicht weniger als eine<br />
Ernährungswende fordert Harald Lemke,<br />
Buchautor und freier Philosoph mit<br />
Schwerpunkt Gastrosophie. Seine These:<br />
Ein gutes Leben ist ohne gut zu essen<br />
nicht möglich.<br />
Herr Lemke, was gab es bei Ihnen heute zu Mittag?<br />
Harald Lemke: Reste – darauf greife ich manchmal<br />
zurück, wenn es schnell gehen muss. Diesmal gab es Sauerkraut<br />
mit Nudeln, etwas Speck und Schafskäse. Sehr zu<br />
empfehlen!<br />
Bei mir musste es auch schnell gehen, aber ich habe<br />
TK-Pizza und TK-Desserts aus der Truhe geholt. Muss<br />
ich ein schlechtes Gewissen haben?<br />
Lemke: Ich bin kein Freund von moralischem Rigorismus.<br />
Mit anderen Worten: Ausnahmen sind möglich. Wenn allerdings<br />
jede Mahlzeit aus der Truhe käme, hätte ich schon<br />
Zweifel, ob Sie die beste Option wählen.<br />
Eine Alternative zu TK-Gerichten wäre beispielsweise<br />
Hello fresh – ein Lieferdienst, der Lebensmittel an-<br />
14 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
INTERVIEW<br />
Harald Lemke<br />
Der 1965 in Baden-Württemberg geborene Professor der Philosophie lehrt an den<br />
Universitäten in Hamburg und Salzburg und ist Gastprofessor in Shanghai und<br />
Kyoto sowie an der Slow-Food-Universität in Pollenzo. In Österreich leitet Harald<br />
Lemke das von ihm ins Leben gerufene Internationale Forum Gastrosophie<br />
(www.gastrosophie.net). Diese wissenschaftliche <strong>Spezial</strong>disziplin beschäftigt sich<br />
mit Essen in seiner ganzheitlichen Form – politische, gesundheitliche, soziale<br />
Aspekte inklusive. In zahlreichen Büchern und anderen Publikationen engagiert<br />
sich Lemke für eine verantwortungsvolle Esskultur ohne Massentierhaltung und<br />
Billigprodukte.<br />
hand von vorher ausgewählten Rezepten auf das<br />
Gramm genau konfektioniert. Sprich: Man bekommt<br />
im Paket nur geliefert, was als Zutat gebraucht wird.<br />
Entspricht das eher dem gastrosophischen Ideal?<br />
Lemke: Für mich ist das ein Beispiel für eine neue Spezies<br />
von Food-Entrepreneurship vor dem zeitgeschichtlichen<br />
Hintergrund wachsender Flexibilisierung und Individualisierung.<br />
Solche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen,<br />
ist sicherlich eine Möglichkeit, bestimmte<br />
Lebensstile zu optimieren.<br />
Aber ist es denn sinnvoll, sich<br />
sein Leben so einzurichten, dass für<br />
den Anbau von Lebensmitteln, für<br />
Einkaufen und Kochen zu wenig Zeit bleibt? Schließlich<br />
haben wir in unserer Gesellschaft noch nie so viel freie Zeit<br />
zur Verfügung gehabt wie heute.<br />
„Unser Essverhalten ist derzeit<br />
das größte globale Problem.“<br />
Wie ist es aus Ihrer Sicht um das Ernährungsverhalten<br />
der Deutschen bestellt?<br />
Lemke: Nicht gut. Denn Essen und Trinken werden als<br />
Teil des eigenen Lebens so weit wie möglich zur Nebensache<br />
gemacht – auf alle Fälle muss es schnell gehen und<br />
möglichst billig sein. Statistiken belegen, dass es in der Hinsicht<br />
nicht wirklich Veränderungen gibt, obwohl sich in<br />
den Medien eine größere gesellschaftliche Hinwendung<br />
zum Thema beobachten lässt und auch eine verstärkte<br />
Wertschätzung. Die Realität aber hinkt hinter dieser Zuschreibung<br />
her. Allerdings bin ich optimistisch, dass sich<br />
diese Diskrepanz verringern wird.<br />
Warum?<br />
Lemke: Jeden Tag wächst das Problembewusstsein für die<br />
mit unserem Ernährungsstil verbundenen Folgeerscheinungen<br />
– Massentierhaltung, Monokulturen in der Landwirtschaft,<br />
ernährungsbedingte Erkrankungen. Unser Essverhalten<br />
bildet die Schnittstelle, an der wir Menschen am<br />
unmittelbarsten mit der Natur interagieren – derzeit das<br />
global größte gesellschaftliche Problem! Denn angesichts<br />
der rasant wachsenden Weltbevölkerung können wir uns<br />
ineffiziente Produktionsmethoden und Unmengen weggeworfener<br />
Lebensmittel nicht mehr leisten. Noch vor<br />
zehn Jahren waren volle Supermarktregale ein wichtiger<br />
Faktor für den sozialen Frieden, demonstrierten die Leistungsfähigkeit<br />
unserer Volkswirtschaft; das Schlaraffenland<br />
– uralter Menschheitsmythos – war Realität. Jetzt bekommen<br />
wir genau dafür die Rechnung präsentiert.<br />
Wie erklären Sie sich, dass Eltern für ein Happy Meal bei<br />
McDonald's 5 Euro ausgeben, sich aber über den Preis<br />
von 3,50 Euro für eine Mittagsmahlzeit in der Schulmensa<br />
beschweren?<br />
Lemke: Unser Wertesystem folgt immer noch der Lehre<br />
Platons, wonach der Mensch als Homo sapiens in erster<br />
Linie Geist ist und der Körper und sein Nahrungsbedürfnis<br />
bloßes Anhängsel. Buddhistisch oder taoistisch beeinflusste<br />
Kulturen kennen diesen Dualismus und diese Geringschätzung<br />
nicht und messen dem Essen als wesentlichem<br />
Teil des menschlichen Lebens einen höheren Stellenwert<br />
zu. In unserer westlichen Kultur aber reicht angeblich für<br />
gutes Essen das Geld nicht, während man für Konzerte,<br />
Fußballspiele und Autos tief in die Tasche greift. Hier geht<br />
es um Fragen der Lebensqualität und um ein neues Bewusstsein<br />
– das sind zentrale Aufgaben der Gastrosophie.<br />
Wie wird man denn zum Gastrosophen?<br />
Lemke: Man muss unterscheiden zwischen Gastrosophie<br />
als universitärer Disziplin und der<br />
sozialen Bewegung. Denn man<br />
muss nicht Gastrosophie studieren,<br />
um Gastrosoph zu werden.<br />
Das kann vielmehr jeder – jeder<br />
Konsument, aber auch jedes Unternehmen, einfach indem<br />
man dem Thema Essen eine gelebte Wertschätzung entgegenbringt<br />
und die zahlreichen gesellschaftlichen Zusammenhänge,<br />
die damit verbunden sind, ernst nimmt. Wenn<br />
ich als Konsument und als Bürger Verantwortung übernehmen<br />
will, kann ich das beim täglichen Essen jederzeit.<br />
Ich kann zwar das Gesamtproblem nicht auf einmal lösen.<br />
Wohl aber kleine Impulse setzen in die richtige Richtung.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
15
SPECIAL<br />
INTERVIEW<br />
Auch der Streetfood-Hype illustriert ein wachsendes Interesse<br />
junger Leute an handwerklich hergestelltem Essen<br />
und Trinken ...<br />
Lemke: Dieses Phänomen sehe ich eher unter der Überschrift<br />
„Feinschmecker/Gourmet“. Man interessiert sich<br />
für Zubereitungsformen, Kochgerätschaften, Rezepturen.<br />
Ja sogar so intensiv, dass sich das ganze Leben darum dreht<br />
und man den ganzen Tag nur Bier braut oder an anderen<br />
Delikatessen werkelt. Der Gourmet macht ähnlich wie der<br />
Gastronom das Essen zum beruflichen Vollzeitjob beziehungsweise<br />
zum existenziellen Lebensschwerpunkt.<br />
Welche Bevölkerungsgruppen und Institutionen sehen<br />
Sie als Schrittmacher?<br />
Lemke: Es sind alle Beteiligten gefragt – die Konsumenten,<br />
die Politiker und die Wirtschaftsakteure. Natürlich ist es<br />
aus Kostengründen für manche Haushalte schwierig, auf<br />
Fair Trade oder Bio umzustellen. Aber man kann sich auch<br />
besser ernähren, indem man nur manches austauscht, etwa<br />
eine Tüte Chips gegen einen selbstgemachten Snack, der<br />
weniger kostet. Wichtig sind auch die Lebensmittelproduzenten,<br />
von denen viele umzudenken<br />
beginnen und auf andere Produktionsmethoden<br />
umstellen. Außerdem<br />
die Politik, die man bewegen<br />
müsste, die Ernährungswende<br />
ähnlich programmatisch anzugehen wie die Energiewende.<br />
Mit dem Unterschied, dass eine bessere Esskultur eine weit<br />
umfassendere, zukunftsethische Aufgabe ist.<br />
Die vegan-vegetarische Bewegung erhält zurzeit viel Zulauf<br />
von Menschen.<br />
Lemke: Ein beachtliches Phänomen. Aber es stellt sich die<br />
Frage, ob die Präsenz in den Medien die Bewegung nicht<br />
größer erscheinen lässt, als sie ist. Nicht bewusst – sondern<br />
weil Medienmacher oft Akademiker sind und selbst an einer<br />
besseren Esskultur interessiert sind. Positiv an dem Hype<br />
ist, dass sich die Öffentlichkeit mit Ernährung auseinandersetzt,<br />
gesundheitlicher wie politischer Art.<br />
16 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
„Man müsste die Ernährungswende<br />
ähnlich angehen wie die Energiewende.“<br />
Und der typische Gastrosoph? Wie sieht dessen Tag aus?<br />
Lemke: Er verwendet nur einen Teil seines täglichen Tuns<br />
auf Essen und Ernährung. Ähnlich wie Immanuel Kant<br />
lädt der ideale Gastrosoph möglichst täglich Freunde zu<br />
Tischgesellschaften ein. Man kocht zusammen, baut vielleicht<br />
auch noch selbst Obst und Gemüse an. Das ist ein<br />
menschenwürdiger Lebensinhalt, der nicht nur für sich allein<br />
lustvoll Gutes verspricht, sondern auch noch den Planeten<br />
rettet. Derartige Tischgesellschaften wären Keimzellen<br />
für eine wahre Humanität! Wie eine Sonne der humanen<br />
Werte könnte dieser gemeinsame Lebensgenuss ausstrahlen<br />
in viele Bereiche der Gesellschaft: die Wirtschaft,<br />
das Gesundheitssystem, Bildungsinstitutionen. Zwischen<br />
Genussfähigkeit und Intelligenz entstünde eine Wechselwirkung<br />
– Platons Welt- und Menschenbild, das die philosophischen<br />
Grundlagen für unsere Fast-Food-Zivilisation<br />
schuf, würde abgelöst. Bis es dazu kommt, vergehen<br />
vermutlich noch 100 bis 200, vielleicht sogar 2000 Jahre.<br />
Was können Gastronomen und Großverpfleger bewegen?<br />
Welchen Rat geben Sie unseren Lesern?<br />
Lemke: Erzählen Sie Geschichten! Wir können davon ausgehen,<br />
dass die Konsumenten sehr wohl bereit sind, ein wenig<br />
mehr von ihrem Wohlstand für gutes Essen auszugeben.<br />
Dem Thema Zeit und Wertschätzung widmen. Hintergründe<br />
verraten etwas über die Herkunft von Zutaten,<br />
ihre Besonderheiten, Details der Zubereitung und Beschaffung.<br />
Nicht aufgeregt oder<br />
aufdringlich, sondern in einem<br />
Modus, der dem Konsumenten<br />
den höheren Preis verständlich<br />
macht. Dann fühlt dieser sich<br />
nicht belehrt, sondern erkennt die Ernsthaftigkeit der Absicht.<br />
Raumgestaltung und Pausenregelung sollten ebenfalls<br />
Wertschätzung zum Ausdruck bringen, nicht nur gegenüber<br />
dem Mitarbeiter, sondern auch gegenüber dem Essen.<br />
Hervorragend wäre es, wenn in Unternehmen Mitarbeiter<br />
selber kochen könnten. Inzwischen werden für viel<br />
Geld bei externen Veranstaltern Kochkurse als Gemeinschaftsevent<br />
für die Belegschaft gebucht. Warum ermöglicht<br />
man Ähnliches nicht jeden Tag im eigenen Betrieb?<br />
Oder inszeniert Meetings als Tischgesellschaften ...?<br />
Lemke: Natürlich! In diesem Kontext lässt sich noch sehr<br />
viel experimentieren.<br />
Interview: Ulrike Vongehr
TRENDSETTER<br />
Patienten und Gäste im<br />
Reha-Klinikum Hoher<br />
Fläming im Oberlinhaus<br />
in Bad Belzig können<br />
Schweinebraten und<br />
Schnitzel mit gutem<br />
Gewissen genießen.<br />
Das Fleisch stammt<br />
von glücklichen<br />
Mecklenburger<br />
Strohschweinen.<br />
Fern aller Hektik<br />
Der Ort strahlt Ruhe aus. Etwa eine<br />
Autostunde südwestlich von<br />
Berlin liegt Bad Belzig mitten im brandenburgischen<br />
Naturpark Hoher Fläming.<br />
Weitere zehn Minuten braucht<br />
es bis zur gepflasterten Auffahrt und<br />
dem Blick auf das imposante Landhaus<br />
mit Fachwerk-umsäumten<br />
Wandelgängen. Auch wenn die Uhr<br />
auf dem zentralen Dachtürmchen die<br />
korrekte Zeit anzeigt – sie scheint hier<br />
stehengeblieben. Der geeignete Platz<br />
für die Genesung von Reha-Patienten!<br />
Das Oberlinhaus Hoher Fläming<br />
– umgeben von einer historischen<br />
Parklandschaft – war vor über 100<br />
Jahren eine angesagte Lungenheilstätte.<br />
Heute werden in der ländlichen<br />
Idylle Patienten nach orthopädischen<br />
Operationen wieder fit gemacht –<br />
nach den Regeln moderner Reha-Medizin<br />
und kulinarisch versorgt auf hohem<br />
gastronomischen Niveau. Die in<br />
weißem Tuch und mit Stoffservietten<br />
gedeckten Tische im hellen „Speisesaal“,<br />
in dem von freundlichem Servicepersonal<br />
am Platz serviert wird,<br />
wecken eher Assoziationen an ein gehobenes<br />
Restaurant als an eine diakonische<br />
Einrichtung für Kassenpatienten.<br />
Nein, die Zeit ist nicht stehengeblieben<br />
im Reha-Klinikum Hoher<br />
Fläming! Dafür sorgt an vorderster<br />
Stelle Katrin Eberhardt. Die 53-Jährige<br />
ist seit 23 Jahren in führender Position<br />
im Bad Belziger Haus und überzeugte<br />
Qualitäts-Verfechterin. Eine<br />
gesunde, frische Küche mit möglichst<br />
geringem Einsatz von Convenience-<br />
Produkten ist für sie eine Mindestanforderung.<br />
„Natürlich brauchen wir<br />
damit auch mehr Personal“, sagt sie<br />
Fotos: <strong>Transgourmet</strong><br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
17
SPECIAL<br />
Kochte einst in der<br />
Nationalmannschaft:<br />
Küchenchef<br />
Henning Gödecke.<br />
Frisch gebraten:<br />
Schnitzel vom<br />
Mecklenburger<br />
Strohschwein.<br />
kämpferisch und mit deutlichem Seitenhieb<br />
auf das allgegenwärtige Kostendiktat<br />
im Gesundheitssystem. Um<br />
die tägliche frische Zubereitung realisieren<br />
zu können, gibt es mittags in<br />
Bad Belzig nur ein Menü im Angebot.<br />
In Küchenchef Henning Gödecke hat<br />
sie von Anfang an hochprofessionelle<br />
Unterstützung erhalten. Der 60-jährige<br />
Küchenmeister war von 1992 bis<br />
1997 Mitglied der Nationalmannschaft<br />
der Köche Deutschlands. Im<br />
Haus Hoher Fläming ist er nicht nur<br />
für Frühstück, Mittag- und Abendessen<br />
von etwa 250 Patienten verantwortlich,<br />
sondern auch für das Angebot<br />
im „Waldcafé“, das sich zunehmender<br />
Beliebtheit auch bei Gästen<br />
von außen erfreut. Bereits vor etwa<br />
vier Jahren ist man in Bad Belzig dazu<br />
übergegangen, Obst und Gemüse vor<br />
allem aus der Region zu beziehen. Damit<br />
sollte nicht zuletzt die regionale<br />
Landwirtschaft gestärkt und Arbeitsplätze<br />
in der Region erhalten bleiben.<br />
Dazu starteten Eberhardt und Gödecke<br />
vor gut einem Jahr eine weitere Regionaloffensive.<br />
„Wir wollten genau<br />
wissen, woher das Fleisch kommt, das<br />
wir in unserer Küche verarbeiten – am<br />
besten aus der Region“, sagt Eberhardt.<br />
Anlass waren die seit Jahren immer<br />
häufiger hochkommenden Skandalmeldungen<br />
als Folge der verbreiteten<br />
Massentierhaltung. Der ursprüngliche<br />
Wunsch, direkt mit den<br />
Erzeugern in der brandenburgischen<br />
Umgebung von Bad Belzig ins Geschäft<br />
zu kommen, erwies sich als<br />
Wissen, woher das<br />
Fleisch kommt.<br />
schwer umsetzbar. „Es fehlt zum Teil<br />
an den Kapazitäten, aber auch am<br />
Know-how für die Vermarktung, und<br />
es gab gar keinen Betrieb, der die benötigten<br />
Mengen in der gewünschten<br />
Qualität liefern konnte“, lautet Eberhardts<br />
Resümee. An dieser Stelle kamen<br />
<strong>Transgourmet</strong> und Lübchiner<br />
Strohschweine ins Spiel. Der Großhändler<br />
hatte als Erster auf die Aufforderung<br />
reagiert, die an alle Lieferanten<br />
gegangen war: „Bitte mehr regionale<br />
Ware.“ Der Kölner Foodservice-<br />
Dienstleister gab mit seiner Marke<br />
„Ursprung“ eine passende Antwort.<br />
Sie verspricht den Kunden „Nachhaltigkeit<br />
für die Speisekarte!“ Beim<br />
Schweinefleisch steht dafür der Hof<br />
von Armin Roder, der am Rande des<br />
knapp 1000-Seelen-Dorfs Behren-<br />
Lübchen unweit der Ostseeküste gemeinsam<br />
mit seinem Sohn Schweine<br />
mästet. Entgegen der sonst in Mastbetrieben<br />
üblichen Haltung auf Spaltenböden<br />
haben die Schweine der Röders<br />
Auslauf im Stroh und können auf einer<br />
weichen Liegefläche ruhen.<br />
Katrin Eberhardt und Henning Gödecke<br />
konnten sich vor Ort von den<br />
Lebensbedingungen der Schweine ein<br />
Bild machen. „Sie machen einen zufriedenen<br />
Eindruck“, berichtet der<br />
Küchenchef, und die Geschäftsführerin<br />
erinnert sich an „hysterisches Gequieke“,<br />
das ihr in herkömmlichen<br />
Mastbetrieben zu Ohren kam: „Bei<br />
den Röders waren die Schweine sehr<br />
ausgeglichen.“ Gut 300 Kilometer<br />
entfernt, entspricht der Herkunftsort<br />
in Mecklenburg-Vorpommern zwar<br />
nicht ganz den strengen regionalen<br />
Vorstellungen im Bad Belziger Oberlinhaus<br />
– Fleisch vom Strohschwein<br />
aus dieser Entfernung sei aber immer<br />
noch „ein guter Kompromiss“. Damit<br />
habe man nicht nur ein gutes Gefühl,<br />
sondern bekomme auch eine bessere<br />
Fleischqualität. „Das fängt schon<br />
beim Geruch an“, berichtet Gödecke<br />
aus dem Küchenalltag und zählt wei-<br />
18 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
TRENDSETTER<br />
tere Unterschiede auf: „Das Fleisch ist<br />
kerniger, beim Braten tritt kein Wasser<br />
aus und der Schmorprozess ist<br />
deutlich kürzer.“ Der bessere Geschmack<br />
werde besonders offensichtlich<br />
bei den Steaks: „Da reichen Salz<br />
und Pfeffer“, sagt Gödecke und<br />
schließt genießerisch die Augen. Auch<br />
bei den Reha-Patienten kommt das<br />
Angebot an, das auf der Speisekarte<br />
beispielsweise so beschrieben wird:<br />
„Gebratenes Rückensteak vom Mecklenburgischen<br />
Strohschwein mit sautierten<br />
Locktower Champignons und<br />
Kartoffelgratin“. In den Aufenthalts-<br />
Bewertungen erhalten Küche und<br />
Service immer wieder Bestnoten von<br />
den Gästen – was natürlich nicht nur<br />
den Strohschweinen geschuldet ist,<br />
sondern auch sehr viel mit den Fähigkeiten<br />
von Gödecke samt Team zu tun<br />
habe, unterstreicht die Geschäftsführerin.<br />
Fleisch ist allerdings beim Oberliner<br />
Reha-Klientel besonders beliebt,<br />
hat Gödecke erfahren: „Aus gesundheitlichen<br />
Überlegungen wollten wir<br />
zweimal in der Woche Fisch auf den<br />
Speiseplan setzen. Das kam gar nicht<br />
gut an.“ So stehen neben Hack- und<br />
Rostbraten regelmäßig weitere Rezepturen<br />
vom mecklenburgischen<br />
Schwein auf dem Plan, wie etwa<br />
„Schnitzel vom Strohschwein in Butter<br />
und Brösel gebraten, Blumenkohl<br />
mit Holländischer Sauce und Petersilienkartoffeln“<br />
oder „Schinkenstreifen<br />
vom Strohschwein Stroganoff-Art<br />
auf Penne und Rucola“. Die bessere<br />
Wie im Restaurant:<br />
Das Essen wird am<br />
Tisch serviert.<br />
Regelmäßig Bestnoten<br />
für die Küche.<br />
Oberlinhaus Hoher Fläming<br />
Das Reha-Klinikum „Hoher Fläming“ in Bad Belzig gehört<br />
seit 2009 zur Unternehmensfamilie des Oberlinhauses,<br />
einem diakonischen Unternehmen aus Potsdam. Das Haus<br />
mit 240 Einzelzimmern ist eine der bekanntesten Rehabilitationsfachkliniken<br />
für Orthopädie in Brandenburg. Die<br />
Geschäftsführung liegt bei Katrin Eberhardt (links im Bild).<br />
Küchenchef Henning Gödecke steuert die hauseigene<br />
Küche, in der täglich etwa 300 Essen für Reha- und ambulante<br />
Patienten, Gäste sowie Mitarbeitende frisch zubereitet<br />
werden. Das öffentlich zugängliche Waldcafé mit zwei<br />
Außenterrassen bietet Snacks und selbstgebackenen Kuchen<br />
sowie Eis- und Kaffeekreationen. Insgesamt arbeiten<br />
im Haus Hoher Fläming 183 Mitarbeiter, davon fünf Köche<br />
sowie zehn Küchenhilfen und zwölf Serviererinnen.<br />
Qualität hat ihren Preis. „Statt 4,70<br />
zahlen wir jetzt 7,99 Euro für das Kilo“,<br />
rechnet Gödecke vor. Kleinere<br />
Fleischportionen könnten den Preisunterschied<br />
nur zu einem geringen<br />
Teil auffangen und auch eine Umstellung<br />
des Speiseplans ändere nichts am<br />
insgesamt höheren Wareneinsatz.<br />
„Wir geben auch für alle anderen Lebensmittel<br />
mehr aus“, sagt Eberhardt.<br />
Zugezogen aus dem niedersächsischen<br />
Hildesheim, hat sie sich längst<br />
zur engagierten Brandenburger Lokalpatriotin<br />
entwickelt. Sie ist Gründungsmitglied<br />
der Initiative Gesundheitswirtschaft<br />
Brandenburg, die den<br />
„Kulinarischen Kalender Brandenburg“<br />
unterstützt. Das Projekt wurde<br />
von der AOK Nordost und der Deutschen<br />
Rentenversicherung Berlin-<br />
Brandenburg ins Leben gerufen. Das<br />
Reha-Klinikum Hoher Fläming ist<br />
mit einer weiteren Brandenburger Reha-Einrichtung<br />
Pilotklinik des Projektes.<br />
Jeder Monat steht hier für eine<br />
regionale Obst- oder Gemüsesorte<br />
mit dazu passenden Rezepten und Aktivitäten.<br />
Als Nächstes ist ein Nachhaltigkeits-Zertifikat<br />
für Reha-Einrichtungen<br />
geplant. „So etwas gibt es<br />
bislang noch nicht“, sagt Eberhardt,<br />
die diesen Vorstoß als einen weiteren<br />
Beweis ihrer Überzeugung „Brandenburg<br />
ist Vorreiter“ sieht. Für das Belziger<br />
Oberlinhaus hat das Wirtschaftsforschungsinstitut<br />
WifOR aus Berlin<br />
längst die Rechnung aufgemacht. 80<br />
Prozent der Ausgaben kämen direkt<br />
der Region zugute. Bei Reha-Einrichtungen<br />
liegt dieser Satz in der Regel bei<br />
68 Prozent: „Wir geben jährlich mehr<br />
als 7 Mio. Euro in der Region aus und<br />
elf Patienten bei uns sichern einen Arbeitsplatz<br />
draußen.“ Zum Schluss<br />
empfiehlt sie für die allgemeine Kostendiskussion<br />
im Gesundheitswesen<br />
eine andere Perspektive: „Jeder Patient<br />
bringt durch unsere Arbeitsleistung<br />
und die unserer Zulieferer 300<br />
Euro in die Sozialkassen.“ Daher<br />
lohnt es sich, den eingeschlagenen<br />
Weg fortzusetzen. Ingeborg Sichau<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
19
TRENDSETTER<br />
SPECIAL<br />
Das Casual-Fine-Dining-Restaurant „De Kas“ in<br />
Amsterdam gilt seit 15 Jahren als Pilgerplatz. Dabei<br />
versteht sich seine radikale Frischeküche mit<br />
pflanzlichen Produkten aus eigenem organischem<br />
Anbau als zentrales Erfolgsmoment.<br />
Holländischer Pionier<br />
Gert Jan Hageman,<br />
Sternekoch und<br />
gastronomischer<br />
Pionier.<br />
Ich war begeistert vom Geschmack<br />
frisch geernteten, organisch angebauten<br />
Gemüses. So intensiv, so unvergleichlich<br />
aromatisch, so wertvoll“,<br />
erinnert sich Gert Jan Hageman. Es<br />
war der Impuls und wurde der tragende<br />
Pfeiler seines vertikal integrierten<br />
Betriebes – damit war er beim Start im<br />
Januar 2001 seiner Zeit voraus. Konzept<br />
und Philosophie sind einzigartig<br />
und eigenwillig. Es geht um authentische<br />
Küche, die Vegetarisches ins Zentrum<br />
rückt. Was aus der Küche<br />
kommt, richtet sich nach dem, was<br />
Acker und Gewächshaus hergeben.<br />
Die Ernte als Dreh- und Angelpunkt<br />
der Menüplanung. Garten- und Küchenchef<br />
arbeiten Hand in Hand.<br />
Klingt simpel – ist aber oft ein kompliziertes<br />
Puzzlespiel. Ein vegetarisches<br />
Restaurant ist De Kas trotz „grüner“<br />
Orientierung nicht, Fleisch und<br />
Fisch – bezogen von handverlesenen<br />
Lieferanten – gehören fest ins Programm.<br />
Hageman: „Im Sommer kommen<br />
rund 70 Prozent der pflanzlichen<br />
Produkte aus unserem eigenen Anbau,<br />
im Winter kann dieser Wert für<br />
kurze Zeit auf 25 bis 40 Prozent fallen.“<br />
Über 75 verschiedene Pflanzen<br />
werden angebaut, angefangen bei<br />
Restaurant De Kas<br />
Standort Amsterdam<br />
Konzept Casual Fine Dining im Glashaus, Vegetarisch<br />
orientierte Frischküche auf Basis des eigenen<br />
Gemüse-Anbaus.<br />
1Hektar Fläche, davon 30 % unter Glas<br />
Unternehmer Gert Jan Hageman<br />
Angebot je 1 Lunch- und Dinner-Menü,<br />
Festpreis 39 bzw. 49,50 € plus Getränke<br />
Kapazitäten 120 + 50 separate Sitzplätze<br />
Mitarbeiter 65 (davon 5 Garten, 60 Gastro)<br />
Gäste 51.500 im Bestjahr 2015<br />
Ø-Bons mittags 50 €, abends 80 bis 85 €<br />
Homepage www.restaurantdekas.nl<br />
Fotos: Gretel Weiß, Hotze Eisma, Jet van Fastenhout, Ronald Hoeben
TRENDSETTER<br />
Kräutern über Erdbeeren, Tomaten,<br />
Kraut bis zu Kartoffeln. „Jede Saison<br />
hat ihre Highlights – unsere Köche<br />
wissen sie zu interpretieren, unsere<br />
Gäste zu schätzen, ja zu lieben.“ Die<br />
gehören eher zum gehobenen Publikum–<br />
also Leute mit Affinität zum<br />
Gedankengut des Konzeptionisten.<br />
Heimisches Business-Publikum einerseits,<br />
Touristen aus aller Welt andererseits.<br />
Es gab sofort nach dem<br />
Start zahllose Berichte in internationalen<br />
Magazinen wie Wallpaper, New<br />
York Times oder Wall Street Journal.<br />
Und es gibt die Website. Klassische<br />
Werbung? Gab es nie! Das außergewöhnliche<br />
Restaurant in seinem gläsernen<br />
Domizil samt offener Küche<br />
sowie angegliederten Kräuterbeeten<br />
und Gewächshaus am östlichen Stadtrand<br />
verkauft sich von selbst. Auch<br />
der Standort in einem naturbelassenen<br />
Biotop ist Teil des Erfolgs. Von<br />
Anfang an waren Frequenz und Erlöse<br />
gut und stabil. Gestartet ist De Kas mit<br />
45.000 Gästen und knapp 3 Mio. Euro<br />
Umsatz – „2015 war unser Rekordjahr<br />
mit 51.500 Personen“.<br />
Biografischer Rückblick: 1993 erkochte<br />
Hageman dem Restaurant<br />
Vermeer im Amsterdamer Tulip Hotel<br />
einen Michelin-Stern. Als Selbstständiger<br />
steht er nicht mehr selbst am<br />
Herd, sieht sich aber als Teil des<br />
Teams: „Wir alle lieben, was wir tun!<br />
Und geben unser Bestes, um jedem<br />
Gast ein rundum erstklassiges Ausgeherlebnis<br />
zu bieten.“ Gretel Weiß<br />
Die Ernte bestimmt<br />
die Speisekarte.<br />
Auch Fisch gehört<br />
zum Angebot.<br />
Kreativität ist ein<br />
Markenzeichen der<br />
Küche.
TRENDSETTER<br />
SPECIAL<br />
Bauer & Brauer<br />
Süffiges Craft Beer zur deftigen Brauernpfanne mit Freilandschwein – das Konzept der Fritz<br />
Braugasthäuser verbindet auf überzeugende Weise Nachhaltigkeit mit hoher Produktqualität.<br />
Das Bekenntnis zum Handwerk ist der gemeinsame Nenner der Partnerunternehmen.<br />
Von Bauern und Brauern – unter<br />
diesem griffigen Slogan offeriert<br />
die zur Nordmann-Gruppe zählende<br />
Gastronomiemarke an mittlerweile<br />
drei Standorten eine Trink- und Esskultur,<br />
die kommunikativ, modern<br />
und frisch daherkommt, gleichzeitig<br />
bodenständig ursprünglich. 1997 öffnete<br />
das erste Fritz Braugasthaus in<br />
Greifswald seine Pforten, 2003 folgte<br />
der erste Ableger in Binz auf Rügen.<br />
Als Flaggschiff fungiert seit 2012 Fritz<br />
Nummer drei in Stralsund mit rund<br />
250 Indoor-Plätzen, untergebracht in<br />
einem über 200 Jahre alten ehemaligen<br />
Lagerhaus am Sund, das früher zur
TRENDSETTER<br />
Fritz Braugasthäuser<br />
Gründung 1997<br />
Standorte 3(Greifswald, Binz, Stralsund)<br />
Betreiber Nordmann Gruppe<br />
Motto Von Bauern und Brauern<br />
Lieferanten unter anderem Landwert Hof (Erzeugergemeinschaft),<br />
Mecklenburg-Vorpommern,<br />
und Brauerei Ratsherrn, Hamburg – beides<br />
Töchter der Nordmann Gruppe<br />
Schlachtung in der<br />
hofeigenen Metzgerei.<br />
Artgerechte Tierhaltung<br />
auf dem Hof –<br />
modern-rustikales<br />
Ambiente im Gasthaus.<br />
Festung gehörte. Hier in der alten<br />
schwedischen Bastion wurde das Gastro-Konzept<br />
konzeptionell am weitesten<br />
ausformuliert. 30 unterschiedliche<br />
Craft-Biere kommen zu modernen<br />
Gasthausgerichten auf den Tisch:<br />
Premiumkotelett vom Freilandschwein,<br />
Weide-Burger oder Tafelspitzsülze.<br />
Das Ambiente: dank vieler<br />
Holzelemente gemütlich, gleichzeitig<br />
frisch und hell. Eine Etage tiefer im<br />
Erdgeschoss werden in der „Marktscheune“<br />
regionale Lebensmittel<strong>spezial</strong>itäten<br />
unter anderem vom „Land-<br />
Wert Hof“ verkauft.„Wir wollen unseren<br />
Gästen die Geschichte des Produktes<br />
vom Ursprung bis zum Teller<br />
erzählen“, erklärt Andreas Reitz, Geschäftsleiter<br />
der Nordmann Finefood.<br />
Weitere Vorteile der vertikalen Integration<br />
seien nicht nur die kurzen<br />
Kommunikations- und Lieferwege:<br />
„Durch die Einbindung in unser Konzept<br />
unterliegt der Landwert Hof<br />
nicht dem Druck, immer mehr Ware<br />
zu immer günstigeren Preisen verkaufen<br />
zu müssen.“<br />
Alle Bauern der Erzeugergemeinschaft<br />
halten ihre Tiere zu 100 Prozent<br />
artgerecht. Die Weiderinder und<br />
Freilandschweine leben auf weitläufigen<br />
650 Hektar Land in Küstennähe.<br />
Nach der Geburt bleiben die Jungrinder<br />
neun Monate bei der Mutter. Anschließend<br />
haben sie gut zwei Jahre<br />
Zeit, Fleisch anzusetzen. Zugefüttert<br />
wird Bio-Futter von der Insel Rügen,<br />
Medikamente kommen so wenig wie<br />
möglich zum Einsatz.<br />
Getreu dem Grundsatz „Respekt vor<br />
dem Tier“ erfolgt die Schlachtung in<br />
der hofeigenen Metzgerei auf schonende<br />
Weise. Nach traditionellen<br />
Methoden wird das Fleisch schlachtwarm<br />
weiterverarbeitet,<br />
was chemische Konservierungsstoffe<br />
überflüssig<br />
macht. Das ganze Tier „from nose<br />
to tail“ findet kulinarische Verwendung<br />
– Ausdruck für einen respektvollen,<br />
wertschätzenden Umgang mit<br />
dem Lebensmittel Fleisch. Die enge<br />
Kooperation mit den Produktentwicklern<br />
und Küchenchefs der Braugasthäuser<br />
macht das deutlich einfacher.<br />
Ein kleines, aber markantes Logo<br />
auf der Speisekarte kennzeichnet die<br />
Gerichte mit Landwert-Produkten.<br />
Das Bier, das dazu eingeschenkt wird,<br />
stammt von der Hamburger Nordmann-Tochter<br />
Ratsherrn, die hierzulande<br />
ein Teil der angesagten Craft-<br />
Beer-Bewegung ist. Handwerk und<br />
Heimat, Authentizität und Transparenz<br />
werden hier großgeschrieben, sodass<br />
auch das Beverage-Angebot den<br />
Manufaktur-Gedanken widerspiegelt.<br />
Das Thema soll in Zukunft noch<br />
stärker bespielt werden. Reitz will seine<br />
Gäste auf den Geschmack bringen<br />
nach „noch mehr Biersorten und<br />
Braustilen“. Ulrike Vongehr<br />
Fotos: Nordmann-Gruppe<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
23
TRENDSETTER<br />
SPECIAL<br />
Vom Hof nebenan<br />
Seit 2007 leitet Gilbert Bielen die Küche im Kinderkrankenhaus St. Marien in Landshut.<br />
Das Besondere: Eier, Gemüse, Fleisch und Co. stammen ganz aus der Nähe, von Gärtnern und<br />
Landwirten, die er kennt und denen er vertraut. Obendrein ist alles in Bioqualität.<br />
Gilbert Bielen trifft<br />
Andrea Vaas, Chefin<br />
der Gärtnerei Siebensee<br />
in Landshut.<br />
Was essen kranke Kinder besonders<br />
gern? Dasselbe wie gesunde,<br />
berichtet Gilbert Bielen: „Spaghetti<br />
Bolognese, Pizza und Schnitzel mit<br />
Pommes sind besonders beliebt.“ Was<br />
seine jüngsten Gäste zumeist nicht<br />
wissen: Die Zutaten stammen zum<br />
Großteil ganz aus der Nähe. Der 42-<br />
jährige Küchenchef setzt auf Regionales,<br />
Saisonales und zudem Bioqualität<br />
von Lieferanten, die er gut kennt.<br />
Zum Beispiel Josef Bauer und Birgit<br />
Haider vom Seepointerhof im Nachbarort<br />
Tiefenbach. Bauers Familie<br />
hält seit vier Generationen Legehennen,<br />
Josef Bauer hat die Haltung vom<br />
Bio-Anbauverband „Naturland“ zertifizieren<br />
lassen. Für die rund 4.500<br />
Hennen bedeutet das unter anderem:<br />
reichlich Auslauf, Sandbäder und<br />
selbst angebautes Bio-Getreide als<br />
Futter. „Wir möchten demnächst auf<br />
Zweinutzungshühner umstellen“, informiert<br />
Bauer – dann gibt es auf dem<br />
Hof außer Eier und Suppenhühner<br />
auch frisches Hähnchenfleisch. Doch<br />
da die weiblichen Tiere dieser Rassen<br />
Keine Filets und andere<br />
teuren Teile vom Tier.<br />
weniger Eier legen als typische Legehennen<br />
und die Hähne weniger<br />
Fleisch ansetzen als Masthähne, steigt<br />
der Preis. Bielen schreckt das nicht ab<br />
–er spart an anderer Stelle. Rinder etwa<br />
lässt er ohne Edelteile liefern,<br />
Schweine ohne Filet. Geschnetzeltes,<br />
Gulasch und Hackfleisch daraus gelingen<br />
bestens, weiß der Küchenchef.<br />
Gemüse, das gerade im Umland geerntet<br />
wurde, ist vergleichsweise günstig.<br />
Darum gab es im Juli zahlreiche Zucchinigerichte.<br />
Bielens Team arbeitet<br />
auch gern mit alten Gemüsesorten wie<br />
Pastinake und Mangold. Altbekanntes<br />
wird variiert – „Karotten mit Se-<br />
24 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Petra Plaum
Kinderkrankenhaus St. Marien<br />
Standort Landshut<br />
Anzahl Betten 120<br />
Patienten/Jahr Rund 40.000 ambulant und<br />
rund 6.700 stationär<br />
Küchenleiter Gilbert Bielen<br />
Mitarbeiter Küche: 10, Service: 4<br />
Anzahl Essen 350 für Patienten, Mitarbeiter und<br />
Mitarbeiter-Kita<br />
Angebot täglich 1 Fleisch- oder Fischgericht, ein<br />
vegetarisches Gericht sowie belegte Brote,<br />
Suppen, Salate und Snacks<br />
Essenspreis Mitarbeiter: 3,50 €, Externe: 5,40 €<br />
Homepage www.kinderkrankenhaus-landshut.de<br />
sam, süß angemacht, das mögen Kinder<br />
gern“. Viel Gemüse, Kräuter und<br />
Salate liefert die Bioland-Gärtnerei<br />
Siebensee aus Landshut. Andrea Vaas<br />
ist seit zwei Jahren die Chefin über 12<br />
Hektar Land, 14 Mitarbeiter, Marktstände<br />
und Hofladen. „Letztes Jahr<br />
hatten wir ein tolles Gurkenjahr, 2016<br />
wird ein Paprikajahr“, prognostiziert<br />
sie. Praktisch, dass sie gleich acht Sorten<br />
zur Auswahl hat! „Die Zitronengurken,<br />
fest und süß, sind ebenfalls zu<br />
empfehlen“, wirbt Vaas. Bielen ist<br />
gern bereit, sich und den Gästen neue<br />
Geschmackswelten zu erschließen –<br />
ob mit Fleisch oder ohne. Eine weitere<br />
Seit acht Jahren wird<br />
komplett Bio gekocht.<br />
Besonderheit seiner Küche ist ihre<br />
Bio-Ausrichtung. „Im April 2007 habe<br />
ich hier angefangen, im September<br />
bekamen wir die Bioland-Teilzertifizierung“,<br />
erinnert sich Bielen. „Schon<br />
im Januar 2008 waren wir bei 100 Prozent<br />
Bio.“ Das Kinderkrankenhaus St.<br />
Marien war somit Deutschlands erste<br />
Klinik mit kompletter Bioland-Küche.<br />
Für Bielen, der auf 27 Jahre Berufserfahrung<br />
zurückblickt, liegen die<br />
Vorteile auf der Hand: Pestizide oder<br />
Antibiotika werden nicht eingesetzt,<br />
kommen also auch nicht auf die Teller.<br />
Außerdem leistet er mit seiner<br />
Entscheidung einen Beitrag dazu, dass<br />
in der Region die artgerechte Tierhaltung<br />
und ökologische Landwirtschaft<br />
eine tragende Rolle spielen.<br />
Gilbert Bielen in der Küche von St. Marien.<br />
Dankesgrüße von den Kindern (Bild oben).<br />
Für die Kundschaft zählt etwas anderes:<br />
Es muss schmecken. Nicht nur<br />
den Kindern, sondern auch Mitarbeitern<br />
und Patienteneltern. Für alle, die<br />
aus gesundheitlichen oder religiösen<br />
Gründen auf bestimmte Zutaten verzichten,<br />
werden in der Klinikküche eigene<br />
Lösungen gefunden.<br />
Das Küchenteam erhält immer wieder<br />
gebastelte Dankeskarten von den Kindern.<br />
Erwachsene zeigen ihre Anerkennung<br />
anders: Der Küchenleiter<br />
wurde 2015 mit der Tierschutzkochmütze<br />
der Schweisfurth-Stiftung ausgezeichnet<br />
und – gemeinsam mit seiner<br />
Stellvertreterin Franziska Beck-<br />
Eller – 2016 für die Chefs-Trophy-<br />
Ausbildung nominiert. Und weil immer<br />
mehr Kollegen aus anderen Betriebsküchen<br />
wissen wollen, wie sein<br />
Konzept funktioniert, ist Bielen inzwischen<br />
auch als Referent und Bio-<br />
Coach gefragt. Petra Plaum<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
25
SPECIAL<br />
„Essen zeigt unsere Identität“<br />
Heute gilt: Je mehr wir haben, desto persönlicher wollen wir konsumieren. Darauf muss sich<br />
die gesamte Branche einstellen. Ein Gespräch mit Frank Seipelt, Vorsitzender der Geschäftsführung<br />
der <strong>Transgourmet</strong> Central and Eastern Europe, über den Wandel im Markt.<br />
<strong>Transgourmet</strong> in Kürze<br />
<br />
Deutschland-Sitz: Riedstadt<br />
Angebot: 35.000 Artikel (Trocken-, Frisch- und TK-Ware)<br />
Logistik: 15 Verteilerzentren und 10 Umschlagpunkte<br />
2Fleischmanufakturen (Hildesheim und Ulm), 1 Frischezentrum<br />
für Fisch und Meeresfrüchte (Bremerhaven)<br />
36.000 Kunden, 3.700 Mitarbeiter, 1,3 Mrd. € Umsatz<br />
www.transgourmet.de<br />
26 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Herr Seipelt, warum geben wir Deutschen so wenig<br />
Geld für Lebensmittel aus?<br />
Frank Seipelt: Wir sind ein sehr technisch orientiertes<br />
Volk, und dieses Denken prägt uns auch beim Essen und<br />
Trinken. Wir schauen mehr auf Kalorien und Inhaltsstoffe,<br />
während in anderen Ländern der soziale Aspekt der gemeinsamen<br />
Mahlzeit sehr viel wichtiger ist als bei uns. Allerdings<br />
beobachten wir in den letzten Jahren, dass sich<br />
diese typisch deutsche Effizienzhaltung auflöst, wenn wir<br />
Gründe liefern, warum eine Ware teurer sein muss.<br />
Das hat mit dem Verbraucherwunsch nach Ehrlichkeit<br />
und Transparenz zu tun. Woher kommen dieses Motive?<br />
Seipelt: In den letzten Jahren haben Industrie und Handel<br />
durch Negativschlagzeilen Vertrauen verloren. Deshalb<br />
haben wir den Weg der Eigenmarke „Ursprung“ eingeschlagen,<br />
um nach unseren Kriterien die gesamte Kette<br />
vom Futter über die Einstallung und Schlachtung bis zum<br />
Verkauf zu kontrollieren. Damit wollen wir der zunehmenden<br />
Nachfrage nach nachhaltigen Produkten auf der<br />
Speisekarte gerecht werden – mit jeweils umfangreichen<br />
Informationen zur Herkunft der Lebensmittel und hochwertigem<br />
Kommunikationsmaterial für den Kunden und<br />
Gast. Wir nehmen sozusagen alles in die eigene Hand.<br />
Fotos: Christoph Ostländer
NACHGEFRAGT<br />
Bei der Flut der Eigenmarken im Handelsbereich stellt<br />
sich die Frage, ob Herstellermarken schon als Auslaufmodell<br />
gelten?<br />
Seipelt: Ganz klares Nein. Die Herstellermarke hat durchaus<br />
ihre Berechtigung. Und es gibt Bereiche, wo wir keine<br />
Eigenmarken haben, weil die Industrie supergute Lösungen<br />
hat. Unsere Eigenmarken setzen nur dort an, wo die<br />
Industrie keine gute Lösung bietet.<br />
Sie zeigen die Eigenmarken, ob Economy oder Premium,<br />
mit <strong>Transgourmet</strong>-Logo. Was ist die Strategie dahinter?<br />
Seipelt: Wir haben uns lange Gedanken darüber gemacht,<br />
ob wir unsere Eigenmarken <strong>Transgourmet</strong> nennen. Wir<br />
stellen damit Eigen- und Unternehmensmarke gleichermaßen<br />
ins Rampenlicht und damit auch ins Kreuzfeuer.<br />
Aber wir haben uns klar dafür entschieden, den Namen auf<br />
die Produkte zu setzen. Auch deshalb beschäftigen wir im<br />
Bereich Qualitätssicherung ein großes Team, damit möglichst<br />
alle Erwartungen der Anwender an die Marke erfüllt<br />
werden.<br />
Wie gehen Sie mit sensiblen Produktgruppen um – wie<br />
Palmöl oder Eier aus Käfighaltung?<br />
Seipelt: Da gibt es zwei Aspekte: Wenn wir selber Produzent<br />
sind, gibt es strenge Maßstäbe und Kriterien. Wir wollen<br />
uns klar positionieren. Als verlängerter Arm des Kundenwunschs<br />
sind wir kein moralischer Richter. Und wir<br />
brauchen auch kein betreutes Einkaufen. Zwischen Eigenpositionierung<br />
und Kundenwunsch haben wir eine klare<br />
Trennung.Wir weisen darauf hin und haben Alternativen<br />
für Produkte, die auf der roten Liste stehen.<br />
Seipelt: Ich denke, man hat sich früher viel wichtiger genommen,<br />
als man das heute tut. Als Dienstleister darf man<br />
sich selbst nicht so fokussieren.<br />
Wie bewerten Sie die Bereitschaft der Gäste, sich mit<br />
Qualität auseinanderzusetzen?<br />
Seipelt: In den letzten Jahren haben wir eine Dynamik registriert,<br />
die auch durch die jüngere Generation erzeugt<br />
wurde. Viele junge Menschen definieren und differenzieren<br />
sich über das, was sie essen oder nicht essen. Das ist<br />
gewöhnungsbedürftig, wenn wir an neue Ernährungsformen<br />
denken, aber diese Welle erreicht die Gastronomie bis<br />
zu den institutionellen Einrichtungen in ganzer Breite. Die<br />
Burkart Schmid,<br />
Chefredakteur<br />
gv-praxis, im<br />
Gespräch mit<br />
Frank Seipelt.<br />
Themenwechsel: <strong>Transgourmet</strong> hat im letzten Jahr namhafte<br />
Firmen übernommen. Welche Strategie verfolgen<br />
Sie dabei?<br />
Seipelt: Wir sind nicht mit dem großen Geldkoffer unterwegs,<br />
sondern ergreifen nur sehr zielstrebig sich einmalig<br />
bietende Chancen. Wenn wir eine Firma übernehmen,<br />
dann, weil sie etwas kann, was wir nicht können. Wenn wir<br />
dann unseren Namen auf etwas setzen, was wir vorher<br />
nicht gekonnt haben, dann ist das nicht authentisch. Wir<br />
lassen deshalb die Erwerbe autark weiterlaufen. Denn ein<br />
Geschäftsmodell, das gut funktioniert, muss nicht geändert,<br />
sondern gestärkt werden.<br />
Ihre Bewertung zur momentanen Handelslandschaft?<br />
Seipelt: Die Marktkonsolidierung schreitet weitaus<br />
schneller voran, als wir das erwartet haben.<br />
Ihre wichtigste Erkenntnis der letzten zwölf Monate?<br />
Seipelt: Ein wichtiger Punkt ist für mich die simple Erkenntnis:<br />
Je konsequenter wir uns am Kunden und dessen<br />
Wünschen ausrichten, umso erfolgreicher sind wir. Das<br />
klingt so einfach – und ist doch für ein Unternehmen dieser<br />
Größe manchmal nicht so einfach umsetzbar.<br />
Heißt aber auch, dass das Unternehmen nicht immer auf<br />
Kundenhöhe war ...<br />
„Höhere Produktdifferenzierung schafft neue<br />
Chancen für Mehrumsatz beim Gast.“<br />
Menschen haben viele Fragen, von der Verpackung über<br />
Herkunft der Ware bis zu nachhaltigen Aspekten. Das ist<br />
in dieser Dimension neu. Wir gewinnen auf alle Fälle eine<br />
höhere Wertschätzung für unsere Lebensmittel.<br />
Welche Rolle spielt dabei das Kaufkriterium Qualität?<br />
Seipelt: Eine wichtige, weil Qualität bedeutet, dass ich etwas<br />
zu beschreiben habe. Und je überzeugender ich mich<br />
mit meinem Produkt differenziere, umso leichter kann ich<br />
auch Geld vom Gast dafür bekommen.<br />
Sie haben eine Reihe von Produkten aus dem Ursprung-<br />
Sortiment in einem Pop-up-Restaurant in Köln zwei Wochen<br />
getestet. Was war Ihre Intention?<br />
Seipelt: Wir als Handel haben früher stark darauf geschaut,<br />
was die Industrie anbieten kann, also, was wir gut<br />
weiterverkaufen können. Das stößt irgendwann an seine<br />
Grenzen. Wenn wir mehr Wertschöpfung in der gesamten<br />
Kette bekommen wollen, müssen wir uns nicht nur zur Industrieseite<br />
öffnen, sondern in zwei Stufen in die andere<br />
Richtung: einmal zu unseren Kunden und dann zu deren<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
27
SPECIAL<br />
NACHGEFRAGT<br />
Frank Seipelt ist<br />
seit 2014 Vorsitzender<br />
der<br />
Geschäftsführung<br />
<strong>Transgourmet</strong><br />
Central and<br />
Eastern Europe.<br />
Tischgästen, die das Geld bezahlen. Beide müssen wir an<br />
einem Strang halten. Wenn es dann noch gelingt, eine interessante<br />
Story zum Produkt zu erzählen, haben wir ein<br />
schlüssiges Konzept bis zum Verkauf.<br />
Gibt es solche Testreihen zukünftig regelmäßig?<br />
Seipelt: Das kann in zwei Monaten oder in zwei Jahren<br />
geschehen, wenn wir eine gute Idee haben. Der Grundgedanke<br />
lautet, die gesamte Prozesskette anzuschauen, damit<br />
wir den Kunden samt Herausforderungen bis zum Tischgast<br />
besser verstehen können. Wir haben supergute Resonanz<br />
erhalten, weil die Kunden die Produkte samt Inszenierung<br />
in der Praxis erlebten. Insgesamt wurden in den<br />
zwei Wochen knapp 2.000 Essen verkauft, der Bonwert<br />
pro Gast lag bei knapp 9 Euro.<br />
Gibt es in Richtung Köche neue Erkenntnisse?<br />
Seipelt: Ich habe festgestellt, dass viele Köche die Anwendungsmöglichkeiten<br />
sehen wollen. Deshalb sind solche<br />
Praxistests wichtig, weil alles griffig und in Praxis anzuschauen<br />
ist. So etwas kommt gut an.<br />
Stichwort Wertschätzung von Lebensmitteln. Gibt es eine<br />
soziale Verantwortung des Handels?<br />
Seipelt: Wir leben in und von unserer Gesellschaft. Als Unternehmen<br />
haben wir immer eine soziale Verantwortung.<br />
Als Handel – mit Schnittstelle Industrie und Kunde – haben<br />
wir auch die Aufgabe, zu vermitteln und zu moderieren.<br />
Heißt konkret: Wir wollen Anstöße geben.<br />
Anstöße, das klingt recht bescheiden.<br />
Seipelt: Ja, aber auch realistisch. Unsere Gesellschaft hat<br />
einen starken Leistungsgedanken. Leider messen wir auch<br />
Institutionen im Carebereich nach dem Maß einer Leistungsgesellschaft<br />
und nicht nach dem einer Solidargemeinschaft.<br />
Dies betrifft damit auch die Küche. Bei Ausschreibungen<br />
stellen wir sehr schnell eine Unwucht fest, wenn bei<br />
Lebensmitteln für Kinder und Senioren häufig um jeden<br />
Cent gekämpft wird. Das hat uns als Unternehmen sehr<br />
nachdenklich gemacht.<br />
Mit dem Buch „Vom Kostenfaktor zum Glücksfaktor“ haben<br />
Sie ein Zeichen gesetzt. Was war Ihre Motivation?<br />
Seipelt: Wir beobachten schon seit vielen Jahren, dass in<br />
Altenheimen viele Menschen beherbergt werden, denen<br />
wir unseren Wohlstand zu verdanken haben. Gleichzeitig<br />
legen wir aber die Grenzen fest, wie eine effiziente Verpflegung<br />
für diese Gruppe zu betrachten ist. Wir hatten die<br />
Frage zu beantworten, welches Projekt wir mit unserem<br />
Fond für Nachhaltigkeit in der Gesellschaft fördern. Zur<br />
Wahl standen die Zielgruppen Kinder oder Senioren.<br />
Warum haben Sie sich für letztere Gruppe entschieden?<br />
Seipelt: Das Thema Senioren hat uns fast angesprungen.<br />
Da gibt es bei vielen Senioren so viel Wissen, zum Beispiel<br />
über alte Rezepte und Erinnerungen an den heimischen<br />
Herd. Diesen Schatz wollten wir bergen. Essen in Senioreneinrichtungen<br />
wird heute vor allem als Kostenfaktor<br />
betrachtet und dient oft nur der reinen Verpflegung. Dem<br />
wollten wir mit unserer Initiative etwas Greifbares entgegensetzen.<br />
Wir wollten die Küche wieder in den Mittelpunkt<br />
stellen.<br />
Was heißt das konkret?<br />
Seipelt: Entstanden ist das Buch „Wir haben einfach gekocht“.<br />
Die Autoren beschreiben ihre Begegnungen mit<br />
Senioren und kochen in verschiedenen Einrichtungen gemeinsam<br />
die alten Rezepte. Ein Riesenspaß für alle.<br />
Und die Resonanz darauf?<br />
Seipelt: Wir waren von der Resonanz total überrascht. Wir<br />
haben rührende Dankesbriefe bekommen. Viele engagierte<br />
Küchenleiter haben spontan mitgemacht und sagten: tolle<br />
Idee. Das Buch landete in der Bestsellerliste.<br />
Was haben Sie aus dieser Aktion gelernt?<br />
Seipelt: Selbstkritisch gesprochen: Wir mussten aus der<br />
Einbahnstraße des Verkauf-Denkens rauskommen, um<br />
diese Idee zu entwickeln, die für uns keinen wirtschaftlichen<br />
Nutzen haben soll. Uns wurde klar, dass die Aufgabe<br />
der Köche in Heimen als gesellschaftlich wertvoller zu betrachten<br />
ist als die der Sterneköche. Letztere können sich<br />
selbst begeistern, der Heimkoch macht es über seine Bewohner<br />
– das ist seine tägliche Herausforderung.<br />
Finale: Ein Blick in Ihre Vita verrät, Sie waren schon immer<br />
im Handel und in ein und demselben Unternehmen.<br />
Ist das nach über drei Dekaden noch spannend?<br />
Seipelt: Die Frage habe ich mir nie gestellt, weil ich nichts<br />
anderes machen möchte. Ich bin exakt 36 Jahre im Unternehmen<br />
und habe alle Stationen durchlaufen. Ich stieg<br />
1980 bei einem kleinen selbstständigen Handelsunternehmen<br />
als Azubi ein, das von Franke Panzer, später von Rewe<br />
und dann von der Coop übernommen wurde. Als ich vor<br />
Jahren den CEO-Posten in Deutschland und dann gemeinsam<br />
mit dem Kollegen John Matthew für mehrere<br />
Länder übernahm, wusste ich genau, wie weit ich mit dem<br />
Unternehmen gehen kann. Ein Externer hätte für dieses<br />
Insiderwissen Jahre gebraucht. Interview: Burkart Schmid<br />
28 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
PREMIUM<br />
Vom Massen- zum Premiumprodukt, von<br />
gewöhnlich zu besonders – diese steile Karriere<br />
ist in jüngster Zeit gleich zwei Produkten des<br />
F&B-Segments gelungen: Better Burger und<br />
Craft Beer heißen die strahlenden<br />
Upgrade-Versionen. Erfolgsparameter<br />
der Aufwertung.<br />
Aufstieg<br />
aus der Masse<br />
Zugegeben, beide genannten Food-<br />
Karrieren haben ihren Ursprung<br />
nicht in Deutschland. Sowohl die Better-Burger-Bewegung<br />
als auch die<br />
Craft-Beer-Welle wurzeln in den<br />
USA und kamen mit einer Zeitverzögerung<br />
von einigen Jahren in Europa<br />
an. Auf den folgenden Seiten nehmen<br />
wir zwei der erfolgreichsten Produkt-<br />
Interpreten hierzulande unter die Lupe:<br />
Hans im Glück als Frontrunner in<br />
Sachen Premium-Burger und die<br />
Hamburger Ratsherrn Brauerei, die<br />
ihre Craft-Beer-Kompetenz nicht zuletzt<br />
im eigenen Braugasthaus „Altes<br />
Mädchen“ in Hamburg demonstriert.<br />
Beiden ist es geglückt, ein Food-Produkt<br />
aufzuwerten, das dem Verbraucher<br />
seit jeher als preiswertes Alltagsprodukt<br />
bekannt ist. Die Codes, die<br />
sich beide Unternehmen zunutze machen,<br />
um die Wertig- und Begehrlichkeit<br />
ihres jeweiligen Angebots im Auge<br />
des Betrachters zu steigern, gleichen<br />
sich.<br />
„Gutes Handwerk und gute Rohstoffe<br />
sind das A & O“, so die Überzeugung<br />
Oliver Nordmanns, dem geschäftsführenden<br />
Gesellschafter der<br />
Nordmann Gruppe, zu der die Ratsherrn<br />
Brauerei und das Brauhaus „Altes<br />
Mädchen“ im Hamburger Schanzenviertel<br />
gehören. Die Kerncharakteristika<br />
des Craft Beers sind zugleich<br />
Je einzigartiger, umso<br />
begehrenswerter.<br />
Schlüsselfaktoren des Produkt-Upgrades<br />
– zählt es doch zum Common<br />
Sense unserer Zeit, dass handwerkliche<br />
Fertigung ein Erzeugnis in seinem<br />
Wert anhebt. Noch besser, wenn dafür<br />
besondere Kompetenzen – möglicherweise<br />
sogar lange vergessene<br />
Techniken – angewandt werden oder<br />
die Produktion gar Event-Charakter<br />
besitzt.<br />
In puncto Rohstoffe gilt Ähnliches: Je<br />
handverlesener und einzigartiger die<br />
Zutaten, umso begehrenswerter das<br />
Endprodukt. Eine Erkenntnis, die<br />
auch Hans-im-Glück-Gründer Thomas<br />
Hirschberger in sein Burger-Konzept<br />
einfließen ließ: „Wir haben Burgerbrot<br />
und Pattys aus ganz Europa<br />
verkostet, die Saucen wurden in einem<br />
langwierigen Prozess entwickelt. Keine<br />
Konservierungsstoffe, künstliche<br />
Aromen oder sonstige Zusatzstoffe,<br />
lautete die Regel für die gesamte Karte.“<br />
Diese Konsequenz schließlich<br />
schlägt sich im Preis nieder – für den<br />
Konsumenten ein weiterer wichtiger<br />
Marker bezüglich der Produktqualität.<br />
Während sich insbesondere im<br />
Fall des Biers der Massenmarkt mit<br />
ständigen Dumpingpreisen immer<br />
weiter entlang der Abwärtsspirale bewegt,<br />
demonstriert das Craft Beer seinen<br />
Qualitätsanspruch über höhere<br />
Preise – die von einer wachsenden Anhängerschaft<br />
akzeptiert werden.<br />
Größere Vielfalt und die damit verbundene<br />
Abweichung von der Norm<br />
sind weitere Faktoren, die in beiden<br />
Fällen für den Erfolg der neuen Produkte<br />
stehen. Geißbock – ein Burger<br />
mit Ziegenkäse, Feigensoße und<br />
Speck? Ein Bier namens Matrosenschluck?<br />
Die außergewöhnlichen<br />
Neukreationen samt originellem Naming<br />
wecken Lust und Neugier einer<br />
Klientel, die Essen & Trinken als Erlebnis<br />
begreifen will.<br />
Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer<br />
Parameter wie Präsentation und Ambiente,<br />
der <strong>Mehrwert</strong> Gesundheit und<br />
Faktoren wie Nachhaltigkeit in Produktion<br />
und Einkauf. „Einen Premium-Burger<br />
kann man schwer in einer<br />
Bretterbude verkaufen. Das Gesamtbild<br />
muss stimmig sein“, weiß Profi-<br />
Gastronom Thomas Hirschberger.<br />
Charlotte Holzhäuser<br />
Foto: D. Amar-Constantini, Schnecken-Burger vom Sternekoch Arnaud Faye, aus dem Buch „Burger de Chef“, Fackelträger Verlag<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
29
PREMIUM<br />
SPECIAL<br />
Burger im Märchenwald<br />
„Ein erfolgreiches Produkt lebt vom Setting“, weiß Thomas Hirschberger, Gründer<br />
der Fast-Casual-Formel Hans im Glück. Birken, ein märchenhaftes Wording und eine<br />
hippe Bar umrahmen sein Erfolgsprodukt – den Burger.<br />
Edle Burger und<br />
hippe Getränke<br />
sind eine<br />
Erfolgsformel.<br />
Mit dem Birkenwald hat Gunilla<br />
Hirschberger das wohl augenfälligste<br />
Markenzeichen des 2010 gegründeten<br />
Burger-Konzepts „Hans<br />
im Glück“ geschaffen. 60 bis 80 echte<br />
Birkenstämme zieren jedes einzelne<br />
der deutschlandweit 40 Restaurants.<br />
Sie wandeln nüchterne Gasträume in<br />
freundliche Lichtungen und suggerieren:<br />
Was hier auf den Teller kommt,<br />
ist ein Naturprodukt. „Aus Sicht der<br />
Konsumenten gibt es unterschiedliche<br />
Marker für ein Premiumprodukt“,<br />
erklärt Gastronomie-Profi<br />
Thomas Hirschberger. „Die wichtigsten<br />
sind Preis, Produktumfeld und<br />
-qualität. Die Wertigkeit des Angebots<br />
wiederum liest der Gast an Herkunft,<br />
Optik und Herstellungsprozess<br />
ab.“ Diese Klaviatur des Marketings<br />
bespielt Hans im Glück geradezu<br />
meisterhaft. Online und in den Speisekarten<br />
liest der Gast von frischem<br />
Pflücksalat, sonnengereiften Tomaten,<br />
geheimen Soßenrezepturen und<br />
Heumilchkäse von Familienbetrieben<br />
aus dem Zillertal. „Das Gesamtbild<br />
von Sortiment über Einrichtung<br />
Die ganze Klaviatur des<br />
Marketings bespielen.<br />
bis hin zu Details wie Tellern und Besteck<br />
ist ein Markenversprechen“, so<br />
Hirschberger, der die Hans im Glück<br />
Franchise GmbH als Geschäftsführer<br />
steuert. Daran, dass der Burger das<br />
Zeug zum konzepttragenden Premiumprodukt<br />
haben würde, bestand für<br />
den Gründer der Freizeitgastronomie-Marke<br />
Sausalitos kein Zweifel:<br />
„Schon im Sausalitos war der Burger<br />
das stärkste Produkt. Gleichzeitig war<br />
das Marktsegment in Deutschland<br />
vor wenigen Jahren noch fast unbesetzt.“<br />
Nicht nur vor Konzeptstart<br />
floss viel Sorgfalt in die Komposition<br />
eines stimmigen Rahmens für einen<br />
30 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Thomas Fedra
PREMIUM<br />
aufgewerteten Burger. Auch im sechsten<br />
Jahr des Bestehens zurrt und korrigiert<br />
der umtriebige Hirschberger an<br />
seinem Konzept. Bestes Beispiel für<br />
die stete Ausrichtung am Zeitgeist ist<br />
das Getränkeangebot. Getränke – davon<br />
kündet der Untertitel des Konzepts<br />
– „Burgergrill-Bar“ – sind für<br />
Hans im Glück mehr als reine Durstlöscher.<br />
Entsprechend vielfältig ist die<br />
Auswahl, die neben den als Burger-Begleitern<br />
gelernten Softdrinks auch<br />
Bier, Wein und Cocktails umfasst. Einige<br />
sehr wirkungsvolle Botschaften<br />
Speisenkarte erinnert an<br />
ein Märchenbuch.<br />
erreichen den Gast indirekt, anderen<br />
will der Konzeptgründer durch höhere<br />
Transparenz noch mehr Kraft verleihen.<br />
„Das Tracking von Zutaten,<br />
beispielsweise Käse und Rindfleisch,<br />
wollen wir zeitnah möglich machen.“<br />
Über Social-Media-Plattformen wie<br />
Facebook sollen die Gäste nachvollziehen<br />
können, woher die Bestandteile<br />
ihres Burgers kommen. Genauso<br />
wichtig sei es, „die Gäste emotional<br />
abzuholen“. Als Träger positiv besetz-<br />
ter emotionaler Werte erkor er<br />
die Märchenfigur „Hans im<br />
Glück“ aus. Die Speisekarte erzählt<br />
die Geschichte des unbeschwerten<br />
Hans, der sich ohne Besitz frei und<br />
glücklich fühlt. Mit ausgeschmückten<br />
Initialen und<br />
altertümlich anmutenden Illustrationen<br />
erinnert sie an<br />
ein Märchenbuch.<br />
Konsequent fortgeführt wird das<br />
Genre über die Produktbezeichnungen:<br />
Von Pfeffersack bis Goldregen –<br />
alle Speisen und Getränke wurden mit<br />
einem fantasievollen Namen bedacht.<br />
Diese Freiheit barg die einmalige<br />
Chance, die Geschmackspalette neu<br />
zu interpretieren. Mit31 Burgern hat<br />
Konzept-Erfinder Hirschberger den<br />
gegebenen Spielraum umfassend genutzt.<br />
Zutaten wie Ziegenkäse und<br />
Feigensoße, Parmaschinken und Rauke<br />
bereichern das bis dato bekannte<br />
Burger-Repertoire. Vegane und vegetarische<br />
Varianten erweitern<br />
die Zielgruppe – die übrigens<br />
hat sich dank neuer Rezepturen<br />
und Einbettung von „traditionell<br />
männlich“ in zunehmend<br />
„weiblich“ gewandelt!<br />
Charlotte Holzhäuser<br />
Gründer<br />
Thomas<br />
Hirschberger.<br />
Hans im Glück<br />
Start 2010 in München<br />
Gründer Thomas Hirschberger (Foto)<br />
Standorte 39<br />
Motto So glücklich wie ich, gibt es keinen Menschen<br />
unter der Sonne!<br />
Anzahl Burger 31 – Rind (15), Hähnchenbrust (6),<br />
vegetarisch (7), vegan (3)<br />
Bestseller Heumilchkäse (Klassischer Burger plus<br />
Käse), Wilder Westen (Räucherkäse, Grillsoße<br />
& Röstzwiebeln), Geißbock (Ziegenkäse,<br />
Feigensoße & Speck)<br />
Ø-Umsatz: 2,4 Mio. €/Jahr und Standort<br />
Homepage www.hansimglueck-burgergrill.de<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
31
SPECIAL<br />
Craft Beer &Storytelling<br />
Pale Ale, Zwickel oder Rotbier statt Pils – kreative Craft Breweries setzen dem Mainstream eine<br />
Vielzahl an Bierstilen und Geschmacksprofilen entgegen. Das Braugasthaus Altes Mädchen in<br />
Hamburg bietet der quirligen Craft-Beer-Szene seit 2013 eine quicklebendige Bühne.<br />
Mutig fanden viele das Projekt, einige<br />
erklärten Oliver Nordmann<br />
vor sechs Jahren gar rundheraus<br />
für verrückt. Schließlich plante der<br />
frischgebackene Eigentümer der traditionsreichen<br />
Biermarke Ratsherrn<br />
nicht nur, mitten in dem für Bambule<br />
berüchtigten Hamburger Schanzenviertel<br />
eine kulinarische Erlebniswelt<br />
für Bierkenner zu errichten. Obendrein<br />
sollte sich auf dem ehemaligen<br />
Schlachthofgelände alles um eine in<br />
Deutschland damals noch unentdeckte<br />
Nische drehen: Craft Beer – also in<br />
kleinen Mengen eingebraute <strong>Spezial</strong>biere<br />
als individuelle Genussalternativen<br />
zu den Massenprodukten der<br />
32 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Braukonzerne. „Ursprünglich wollten<br />
wir ein Hamburger Pilsener brauen“,<br />
erinnert sich Ratsherrn-Geschäftsleiter<br />
Volker Schnocks. „Aber<br />
auf Recherchereisen während der<br />
Emotionalität der<br />
Bewegung fesselt.<br />
Bauarbeiten hat uns dann die Emotionalität<br />
der Craft-Beer-Bewegung in<br />
anderen Ländern gefesselt.“ Diese Leidenschaft<br />
und Produktverliebtheit<br />
ausländischer Kreativbrauereien in<br />
den USA, Kanada und Skandinavien<br />
nach Deutschland zu holen, lautete<br />
Fotos: H. Angerer, Thomas Fedra, Nordmann-Gruppe<br />
von nun an das Ziel. Dafür ruhte das<br />
Unternehmenskonzept von Anfang<br />
an auf zwei Säulen: hier die neue<br />
Brauerei, die auf handwerkliche Weise<br />
eine Vielfalt an Biersorten produziert.<br />
Plus, schräg vis-à-vis auf dem<br />
gleichen Gelände, das Braugasthaus,<br />
das den Craft-Bieren eine Inszenierungsplattform<br />
bietet, das Thema gastronomisch<br />
und kulinarisch mit Leben<br />
füllt. „Wir wollten von vornherein<br />
Emotionalität erzeugen!“ Schon<br />
der Name „Altes Mädchen“ weckt<br />
Sympathien: Schlagerlegende Freddy<br />
Quinn hat einst seine gefühlte Heimatstadt<br />
liebevoll schnoddrig als „altes<br />
Mädchen“ besungen. Überhaupt
PREMIUM<br />
förderte in der Planungsphase das Stöbern<br />
in Archiven haufenweise Anekdoten<br />
zutage – wertvoller Input für<br />
originelles Storytelling rund um Unternehmen,<br />
Marke, Produkte. 1.000<br />
Jahre reicht die Braugeschichte der<br />
Hansestadt in die Vergangenheit,<br />
noch im 16. Jahrhundert waren in<br />
Hamburg mehr als 500 Brauereien zu<br />
Hause. „Da gibt es viele tolle Geschichten,<br />
die wir gerne während der<br />
Brauereiführungen erzählen.“ Und<br />
auch in die Positionierung von Ratsherrn<br />
als hamburgerisch und authentisch<br />
fließt die Historie ein, was der aktuelle<br />
Werbeclaim „Hopfen, Malz<br />
und Hamburg“ griffig auf den Punkt<br />
bringt. Längst gelten die Hamburger<br />
Pilgerstätte für Fans<br />
exklusiver Craft-Biere.<br />
Verbindet Trend<br />
und Tradition:<br />
das Alte Mädchen<br />
in Hamburg.<br />
Schanzenhöfe deutschlandweit als<br />
Pilgerstätte für Fans exklusiver Bier<strong>spezial</strong>itäten,<br />
ergänzen seit 2014 weitere<br />
Konzeptbausteine die ursprüngliche<br />
Idee. So unterstreicht ein Craft<br />
Beer Store mit über 500 Bieren aus aller<br />
Welt die Gerstensaft-Kompetenz,<br />
während eine zusätzliche Micro Brewery<br />
als Innovationsschmiede fungiert.<br />
Insgesamt kommen im Gasthaus<br />
20 Craft-Biere aus dem Zapfhahn,<br />
rund 70 weitere Sorten werden<br />
in der Flasche offeriert – gängige bis<br />
exotische <strong>Spezial</strong>itäten in- und ausländischer<br />
Brauereien wie Trappisten,<br />
Porter, Rauchbier, Frucht lambic und<br />
und und. Gäste, die sich angesichts<br />
dieser Auswahl nicht entscheiden<br />
können, greifen gern zum Tasting<br />
Tray mit fünf Ratsherrnbieren vom<br />
Fass in 0,1-Liter-Probiergläschen.<br />
Weitere Bestseller? „Pilsener, Zwickel,<br />
Pale Ale, IPA, Rotbier“, erklärt<br />
Andreas Reitz, Geschäftsführer des<br />
Alten Mädchens. „Und unsere saisonalen<br />
Biere wie Summer Ale oder Matrosenschluck.“<br />
Generell ist der bier-kompatible<br />
Food-Part ein zentraler Baustein der<br />
Erfolgsstory, dokumentiert das Speisenangebot<br />
doch Nachhaltigkeit<br />
ebenso wie handwerkliche Kreativität.<br />
Die Fleischprodukte liefert die<br />
Nordmann-Erzeugergemeinschaft<br />
Land-Wert Hof, verschiedenste Brotsorten<br />
und (Burger-)Brötchen kommen<br />
aus dem Holzbackofen gleich am<br />
Gasthaus-Eingang. Pro Gericht empfiehlt<br />
die Karte passende Bieralternativen,<br />
und auch der Service hilft bei<br />
Fragen des Food Pairings gerne kompetent<br />
weiter. Schließlich verspricht<br />
schon die Website, dass alle im Team<br />
quasi Craft Beer im Blut haben – und<br />
selbst nachts um vier sagen können,<br />
welche Biersorte sich im Mund fruchtig,<br />
orientalisch, süß, stark, mild oder<br />
erdig anfühlt. „Darum investieren wir<br />
sehr viel in Schulungen, lassen Mitarbeiter<br />
ausbilden zu Beer-Keepern und<br />
Biersommeliers“, so Reitz. Denn:<br />
Glaubwürdigkeit ist in der Szene ein<br />
absolutes Muss, quasi Teil eines ungeschriebenen<br />
Ehrenkodexes. Dass sich<br />
durch Aufklärungsarbeit und Produkt-Storytelling<br />
auch die gegenüber<br />
gängigen Mainstreambieren um einiges<br />
höheren Preise erklären lassen,<br />
liegt auf der Hand.<br />
„Wer sich mit der Materie Craft Beer<br />
beschäftigt, weiß, welche hochwertigen<br />
Rohstoffe und welcher Aufwand<br />
in der Herstellung dahinterstecken“,<br />
betont Ratsherrn-Geschäftsleiter<br />
Schnocks. „Und ist deshalb bereit, den<br />
Wert des Produktes anzuerkennen<br />
und zu bezahlen.“ Ulrike Vongehr<br />
Altes Mädchen<br />
Start 2013<br />
Geschäftsführer Andreas Reitz, Thomas Arndt<br />
Standort Hamburg<br />
Anzahl Craft Beer 20 vom Fass, 70 aus der Flasche<br />
Bestseller Tasting Tray mit fünf Ratsherrnbieren<br />
vom Fass, Pilsener, Zwickel, Pale Ale, IPA,<br />
Rotbier und Saisonales wie Summer Ale<br />
und Matrosenschluck<br />
Preisspanne 2,90 € – 9,90 € (0,33l), Schnitt: 5,90/<br />
6,90 €; Tasting Tray (5 x 0,1l): 6,90 €<br />
Homepage www.altes-maedchen.com<br />
Die Ratsherrn-<br />
Braumeister:<br />
Thomas Kunst,<br />
Ian Pyle und Philip<br />
Bollhorn (v.l.)<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
33
WISSEN<br />
SPECIAL<br />
Acai, Goji und Chia – um Superfood<br />
hat sich ein regelrechter Hype<br />
entwickelt. Was wir schon fast vergessen<br />
haben: Zu vielen dieser Exoten gibt es<br />
heimische Alternativen.<br />
Superfood-Definition?<br />
Trotz der Allgegenwart in den Medien gibt es keine offizielle<br />
und rechtlich bindende Definition für den Begriff „Superfood“.<br />
Aber dennoch lassen sie sich einfach beschreiben,<br />
denn sie verfügen über eine besonders hohe Nährstoffdichte,<br />
sprich, sie bersten geradezu vor Vitaminen, Mineralstoffen,<br />
leicht verdaulichen Proteinen, sekundären Pflanzenstoffen<br />
oder wertvollen Fettsäuren. Zudem haben sie eine<br />
hohe Bioverfügbarkeit – unser Körper kann sie also leicht<br />
aufnehmen und verwerten.<br />
Heimische<br />
Kraftprotze<br />
Quinoa aus den USA, Acai-Beeren<br />
aus Brasilien, Chia-Samen aus<br />
Mexiko, das Kreuzblütengewächs<br />
Maca aus den peruanischen Anden.<br />
Die Super-Samen, -Beeren und -Körner<br />
werden aus den entferntesten<br />
Winkeln der Welt zu uns gebracht,<br />
um in Toppings, Suppen, Salaten und<br />
Smoothies ihre „magische Wirkung“<br />
zu entfalten. Auch wenn Superfoods<br />
natürlich keine Wundermittel sind,<br />
so werden ihnen positive Effekte für<br />
34 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Binh Thanh Bui, Diana Taliun (shutterstock.com)<br />
die Gesundheit und das Wohlbefinden<br />
attestiert. Das Thema boomt. Alleine<br />
bei Amazon.de lassen sich mittlerweile<br />
1.115 Bücher zum Thema<br />
„Superfood“ abrufen. Aber warum in<br />
die Ferne schweifen, wenn das heimische<br />
Superfood so nahe liegt? Superfoods<br />
aus der Region sind frischer,<br />
kaum mit Schadstoffen behaftet und<br />
schonen die Umwelt, da sie nicht so<br />
weit gereist sind.<br />
Grünkohl beispielsweise hat eine<br />
beachtliche Karriere gemacht und<br />
sich vom wenig glamourösen Wintergemüse<br />
zum hippen Trendgemüse gewandelt.<br />
Selbst in den USA gibt es<br />
kaum ein Szenelokal, das auf Grünkohl<br />
verzichtet. Sogar Popstar Beyoncé<br />
trägt stolz ein T-Shirt mit dem<br />
Aufdruck „Kale“, was auf Deutsch<br />
eben Grünkohl bedeutet. Im Grünkohl<br />
stecken viel Vitamin A, alle B-Vitamine<br />
und eine ordentliche Portion<br />
Vitamin K. Eine einzige Portion deckt<br />
zudem den empfohlenen Tagesbedarf<br />
an Vitamin C. Den Ruf als Anti-<br />
Aging-Mittel hat Grünkohl sich aber<br />
aufgrund seines hohen Quercetin-Gehalts<br />
gemacht, dem als sekundärer<br />
Pflanzenstoff eine extrem antioxidative<br />
Wirkung nachgesagt wird. In Roh-
WISSEN<br />
Superfood-Konzepte<br />
Immer mehr neue gastronomische Konzepte rund um<br />
Superfood entstehen. Saft-, Smoothie- und Salatbars<br />
boomen. Drei Gastronomen mit Profi-Tipps rund um die<br />
Kraftprotze.<br />
„Die Kunden stehen auf Hardcore-Grün. Grünkohl,<br />
Sellerie, Mangold mit Rucola boomen.“ Niels Jäger, Saftladen<br />
„SuperDanke!“ (www.superdanke.com), München<br />
„Die Bandbreite der Superfoods ist so groß, dass sie sich<br />
problemlos als Zutat oder Topping in fast alle Rezepturen<br />
integrieren lassen.“ Laura Koerver, Laura’s Deli<br />
(www.laurasdeli.de ), Düsseldorf<br />
„Wer sich auf Säfte und kalte Produkte konzentriert,<br />
hat im Winter ein Problem. Suppen und Salate sind ideale<br />
Einsteigerprodukte.“ Mike Kaiser, Saftcraft<br />
(www.saftcraft.com), Frankfurt<br />
form lässt er sich ideal für Smoothies<br />
verwenden, aber auch in Salaten. Ein<br />
gesunder Snack sind auch im Ofen getrocknete<br />
Grünkohlchips.<br />
Auch Spinat zählt zu den Superhelden<br />
unter den Gemüsesorten. Dass er<br />
besonders viel Eisen enthält, ist zwar<br />
ein widerlegter Mythos, aber dank Kalium,<br />
Kalzium, Magnesium, Beta-Karotin,<br />
Vitamin C, Folsäure und Zink<br />
reiht er sich ein in die Riege der Top-<br />
Powerfoods. Das im Blattgrün enthaltene<br />
Chlorophyll wird oft als „flüssiger<br />
Sonnenschein“ bezeichnet, da es<br />
durch den Einfluss der Sonne entsteht<br />
und eine blutbildende Wirkung haben<br />
soll. Spinat macht Smoothies zu<br />
wahren Power-Drinks, passt aber<br />
auch perfekt in Kombination mit anderen<br />
Blattsalaten. Garen sollte man<br />
ihn sanft, ideal wird er nur blanchiert,<br />
um seine Inhaltsstoffe zu behalten.<br />
Feldsalat ist das Powerfood unter<br />
den Blattsalaten und verfügt über den<br />
höchsten Vitamin- und Eisengehalt.<br />
Als Baldriangewächs verfügt er über<br />
zahlreiche Baldrianöle, die zum einen<br />
für den Geschmack verantwortlich<br />
sind, ihn aber vor allem zu einer ausgezeichneten<br />
„Nervennahrung“ machen.<br />
Leinsamen wusste schon unsere<br />
Großmutter als mildes und natürliches<br />
Abführmittel zu nutzen. Lein,<br />
auch Flachs genannt, gehört zu den ältesten<br />
Kulturpflanzen der Erde. In<br />
den Samen stecken viele Ballaststoffe<br />
und Schleimstoffe, die den Darminhalt<br />
gleitfähig machen und die Magen-<br />
und Darmschleimhaut schützen.<br />
Wie die exotischen Chia-Samen gehören<br />
sie zu den pflanzlichen Toplieferanten<br />
für Omega-3-Fettsäuren, denen<br />
man eine durchblutungsfördernde<br />
Wirkung nachsagt und eine hemmende<br />
von schlechtem Cholesterin.<br />
Geschrotet oder als ganze Körner<br />
eignen sie sich perfekt<br />
für Müslis und Toppings.<br />
Als hochwertiges Leinöl<br />
schmeckt es in Salatsaucen<br />
und Dips. Achtung:<br />
Es sollte nicht kochen,<br />
dann verliert es die<br />
hohe Omega-3-Fettsäuren-Dichte.<br />
Andrea Lottmann<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
35
MANAGEMENT<br />
SPECIAL<br />
DerWeg<br />
zum Miteinander<br />
Vor sechs Jahren hat Bodo Janssen in seinen Hotels einen neuen Kurs eingeschlagen. Weg vom<br />
reinen Gewinnstreben, hin zu mehr Menschlichkeit. Dadurch hat er für die Upstalsboom--Häuser<br />
viel erreicht: zufriedene Mitarbeiter und Gäste, mehr Umsatz.<br />
Der erste Schritt tat weh. „Wer<br />
möchte schon hören oder lesen,<br />
dass er von vielen Mitarbeitern äußerst<br />
kritisch betrachtet wird?“, sagt<br />
Bodo Janssen. „Ein neuer Chef soll<br />
36 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
her“, hatte einer seiner Angestellten<br />
sich sogar gewünscht. Festgehalten<br />
auf einem Fragebogen, der dem Eigentümer<br />
der Hotelgruppe Upstalsboom<br />
schwarz auf weiß vor Augen führen<br />
Das 4-Sterne-Hotel<br />
Deichgraf in Wremen<br />
nördlich von<br />
Bremerhaven.<br />
sollte, was seine Belegschaft wirklich<br />
denkt und fühlt. Ein Schlag ins Kontor<br />
sei das gewesen, bekennt der Hotelier<br />
aus dem ostfriesischen Emden.<br />
Selbst- und Fremdbild hätten kaum<br />
weiter auseinanderliegen können.<br />
Nicht den sympathischen und erfolgreichen<br />
Steuermann sahen die 450<br />
Mitarbeiter in ihm, sondern einen verwöhnten<br />
Jungunternehmer.<br />
Dass überhaupt gefragt und hinterfragt<br />
wurde, hatte damals ein neuer<br />
Personalleiter angestoßen. Obwohl<br />
das Geschäft gut lief, war die Stimmung<br />
im Keller, stellte der Personaler<br />
schnell fest. Was Einzelgespräche zutage<br />
förderten, untermauerten die<br />
Zahlen. Während Krankenstand und<br />
Fluktuation sukzessive stiegen, sank<br />
die Zahl der Bewerber. Statt sich unter<br />
der schwelenden Kritik wegzudu-<br />
Fotos: Upstalsboom
MANAGEMENT<br />
cken, sie an sich abprallen zu lassen<br />
oder seinen Managern in die Schuhe<br />
zu schieben, nahm Janssen sie an. Und<br />
machte sie zur Chefsache. Anderthalb<br />
Jahre besuchte er regelmäßig Seminare<br />
in einem Benediktinerkloster, um<br />
mithilfe von Pater Anselm Grün an<br />
sich zu arbeiten, Fragen aufzuwerfen<br />
und Antworten zu finden, Prioritäten<br />
und Werte neu zu definieren.<br />
„Wer in seiner Abteilung oder in seinem<br />
Unternehmen etwas verändern<br />
will, der ist gut damit beraten, zunächst<br />
und ausschließlich bei sich<br />
selbst anzufangen“, sagt Janssen in der<br />
ersten Szene eines Unternehmensfilms,<br />
der drei Jahre später den Ups-<br />
Corporate Happiness<br />
und Heiliger Benedikt.<br />
talsboom-Weg nachzeichnet. Mitgeprägt<br />
hat ihn neben den Regeln des<br />
heiligen Benedikt auch der sogenannte<br />
Corporate-Happiness-Ansatz. Er<br />
basiert auf der Positiven Psychologie<br />
und soll Menschen dabei helfen,<br />
glücklicher zu werden. Indem sie entdecken<br />
und leben können, was ihnen<br />
wirklich wichtig ist, wo ihre Talente<br />
und Stärken liegen, was ihnen Freude<br />
bereitet. Das Ziel: Wertschöpfung<br />
durch Wertschätzung – statt Ausnutzung.<br />
Eine neue Unternehmenskultur,<br />
die Kopf und Herz erreicht, im<br />
Spannungsfeld zwischen Wissenschaft<br />
und Spiritualität.<br />
Dreh- und Angelpunkt ist das Verständnis<br />
von Führung. Nämlich als<br />
Dienstleistung und nicht als Privileg,<br />
so Janssen. Der zentrale Glaubenssatz:<br />
Nur wer sich selbst führen kann, kann<br />
andere führen. Also bot der Hotelier<br />
auch seinen Führungskräften an, die<br />
Klosterseminare zu besuchen. Nicht<br />
jeder konnte etwas damit anfangen.<br />
Genauso wenig war jeder bereit, sich<br />
mit den desaströsen, in allen zehn<br />
Häusern vor versammelter Mannschaft<br />
präsentierten Ergebnissen der<br />
Mitarbeiterbefragung auseinanderzusetzen.<br />
Mehr als ein Dutzend Mitarbeiter<br />
in Führungspositionen kündigten<br />
daraufhin. Die anderen lernten<br />
umzudenken und anders zu lenken.<br />
Das entscheidende Rädchen in diesem<br />
Prozess? „Die Schocktherapie“,<br />
bekennt Janssen. „Seine Schwächen<br />
durch die Befragung ungefiltert gespiegelt<br />
zu bekommen und sein Scheitern<br />
zu akzeptieren.“ Einmal in Gang<br />
gesetzt, entwickelte der Prozess<br />
schnell eine Eigendynamik. Seminarbausteine<br />
wurden konzipiert, Leitbild<br />
und Wertekanon verfeinert. Parallel<br />
holte Janssen 2013 den Berater und<br />
Psychologen Oliver Haas ins Team.<br />
Unter seiner Ägide wurden die ersten<br />
Corporate-Happiness-Botschafter<br />
ausgebildet, um den Mentalitätswechsel<br />
vor Ort und im Alltag zu verankern.<br />
Bis zu 2 Prozent des Umsatzes, mehr<br />
als eine halbe Million Euro, hat der<br />
Der Einsatz hat sich<br />
mehrfach ausgezahlt.<br />
Familienunternehmer seitdem jedes<br />
Jahr in das Maßnahmenbündel investiert.<br />
Dass sich dieser Einsatz bereits<br />
nach kurzer Zeit doppelt und dreifach<br />
auszahlen würde, war weder beabsichtigt<br />
noch kalkuliert. „Es ist einfach<br />
passiert“, sagt Janssen. Getreu dem<br />
Motto „Kümmere dich um die Menschen,<br />
dann kümmern sich die Ergebnisse<br />
um sich selbst“.<br />
Die neu gewonnene Zufriedenheit<br />
der Mitarbeiter ließ nicht nur Fluktuation<br />
und Krankenstand sinken –<br />
in manchen Häusern fast gen null. Sie<br />
strahlte auch unmittelbar auf die Gäste<br />
ab. Lag die Auslastung 2009 noch<br />
bei 57 Prozent, sind es inzwischen gut<br />
70 Prozent. Die Weiterempfehlungsquote<br />
kletterte auf sensationelle 98<br />
Prozent. Effekte, die sich ebenfalls in<br />
der Bilanz niederschlagen: So hat sich<br />
der Umsatz zwischen 2009 und 2014<br />
nahezu verdoppelt. Obwohl die Bettenzahl<br />
nicht gestiegen ist, konnte die<br />
Umsatzrendite gesteigert werden.<br />
Unter anderem, weil Janssen sich<br />
traute, die Preise anzuheben.<br />
Mit seinem Mut zur konsequenten<br />
Kehrtwende und ihrer nachhaltigen<br />
Wirkung rüttelte der Hotelier nicht<br />
nur seine Mitbewerber wach. „Wir bekommen<br />
fast täglich Anfragen aus den<br />
unterschiedlichsten Branchen, von<br />
Familienunternehmen wie von international<br />
aufgestellten Konzernen.“<br />
Inzwischen können 25 Prozent der<br />
Seminarplätze von externen Interessenten<br />
belegt werden. Außerdem wurde<br />
die Corporate-Happiness-Ausbildung<br />
spezifiziert, neben Beratern gibt<br />
es nun Trainer und Coaches. „Theoretisch<br />
könnten wir mit diesem<br />
Know-how ein eigenes Profit-Center<br />
bestreiten“, sagt Janssen. „Aber das<br />
wollen wir gar nicht. Statt in andere<br />
Unternehmen hineinzugehen, bieten<br />
wir ihnen an, unserem Weg zu folgen<br />
und von unseren Erfahrungen zu profitieren.“<br />
Kein Spaziergang, aber er<br />
lohnt sich.<br />
Kerstin Schulte<br />
Ein Viertel der<br />
Seminarplätze für<br />
die Ausbildung von<br />
Beratern, Trainern<br />
und Coaches wird<br />
inzwischen von<br />
externen Teilnehmern<br />
belegt.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
37
SPECIAL<br />
Den Hebel umlegen<br />
Claudio Schmitz hatte anfangs keine Ahnung – weder von Veggie noch wie man 800 Köche<br />
dafür begeistert. Heute leben die Mitarbeiter der SV Schweiz die fleischfreie Küche. Mut zur<br />
Veränderung, lautet ein Erfolgsbaustein des Produktmanagers – alle mitzunehmen, der andere.<br />
Herr Schmitz, wir wollen ein<br />
Nachhaltigkeitskonzept auf die<br />
Beine stellen und eine starke vegetarische<br />
Kompetenz im Unternehmen<br />
aufbauen.“ Diese Worte klingen<br />
Claudio Schmitz, Director Product<br />
Management, noch heute in den Ohren.<br />
Damals saß er im Vorstellungsgespräch<br />
bei SV Schweiz und dachte nur,<br />
„davon hast Du keine Ahnung“. Als<br />
leidenschaftlicher Koch und Küchenchef<br />
hatte er zuvor in verschiedenen<br />
Top-Häusern der Schweiz gearbeitet,<br />
auch in Chicago und auf der chinesichen<br />
Halbinsel Macau den Kochlöffel<br />
geschwungen. Doch in den renommieren<br />
Restaurants prägten Rind,<br />
Schwein und Geflügel die Menüfolgen.<br />
„Ich musste zunächst bei mir<br />
selbst anfangen“, gesteht der gebürtige<br />
Schweizer heute. Damals – im Sommer<br />
2012 – feilte der Caterer gerade an<br />
seinem Klimaschutzprogramm „One<br />
Two We“. Um die CO2-Bilanz pro<br />
Hauptmahlzeit zu verbessern, sollten<br />
verstärkt vegetarische Speisen in die<br />
Betriebsrestaurants des Schweizer<br />
Marktführers Einzug halten. „Es ging<br />
Rein vegetarisch:<br />
Zürcher Geschnetzeltes<br />
mit Quorn<br />
als Fleischalternative,<br />
Champignons<br />
und Rösti.<br />
darum, ein völlig neues Mindset im<br />
Unternehmen zu pflanzen“, sagt er.<br />
Das neue Credo von SV Schweiz sollte<br />
fortan lauten: „Glutschig (lecker),<br />
frisch, gesund und nachhaltig. Doch<br />
wie füllt man ein abgedroschenes<br />
Wort wie Nachhaltigkeit mit Leben?<br />
Und wie begeistert man als Neuling<br />
im Unternehmen die Mitarbeiter für<br />
Alle Mitarbeiter mit ins<br />
Boot genommen.<br />
die neue Verpflegungsphilosophie?<br />
Fragen, die dem frisch gekürten Direktor<br />
für Produkt-Management<br />
durch den Kopf schwirrten. Schmitz<br />
selbst drückte in Weiterbildungen<br />
wieder die Schulbank und wühlte sich<br />
durch Themen wie Welternährung<br />
und Fleischkonsum. Parallel nahm<br />
der 40-Jährige die Gebietsmanager,<br />
Restaurantleiter und Köche mit ins<br />
Boot, befragte sie zu ihren Ideen und<br />
Fotos: SV Schweiz
MANAGEMENT<br />
Ängsten und initiierte zahlreiche<br />
Brainstorming-Runden. „Bei uns im<br />
Unternehmen heißt es nie: ‚So machen<br />
wir das!’, das ist nicht unsere Kultur“,<br />
sagt er mit Nachdruck. Relativ<br />
schnell war klar, ohne vegetarische<br />
Schulungen für die Köche läuft nichts.<br />
„Sie haben den Schalter umgelegt“,<br />
weiß er heute. Der erste Versuch mit<br />
einer Trainerin aus Deutschland<br />
Die Schulungen<br />
begeistern die Köche.<br />
scheiterte jedoch, weil die Lernmethode<br />
nicht stimmte – alles viel zu<br />
theoretisch war. So rief der Cateringmanager<br />
bei Hiltl in Zürich an. Das<br />
wohl älteste vegetarischen Restaurant<br />
der Welt ließ ihn zunächst abblitzen.<br />
Ein zweiter späterer Anlauf fruchtete<br />
jedoch. Schon nach den ersten Köche-<br />
Schulungen war klar: Die Chemie<br />
stimmt, die Herangehensweise an das<br />
Thema passte – ja begeisterte die SV-<br />
Mitarbeiter für das vegetarische Kochen.<br />
Schmitz selbst übernimmt bei<br />
den Schulungen den Auftakt, erzählt<br />
Hintergründe, spricht über die Überfischung<br />
der Weltmeere und zeichnet<br />
die Folgen einer stetig wachsenden<br />
Weltbevölkerung. Anschließend degustieren<br />
die Köche Seitan, Tofu und<br />
andere Zutaten der vegetarischen Kü-<br />
Ein kulinarischer Hingucker:<br />
der Veggie-Burger der SV Schweiz.<br />
che, werkeln am Kochtopf und erstellen<br />
vegetarische Speisenpläne. Zum<br />
Finale führt Hiltl die Teilnehmer<br />
durch die geheiligten Hallen des Restaurants.<br />
„Die Menschen emotional<br />
abholen“, lautet die Devise. „Ich<br />
bin der Kopf, aber ich benötige<br />
300 Menschen, die mitspielen“,<br />
betont Schmitz. Deshalb hört er<br />
viel zu, freut sich über jede Idee<br />
aus seinem Team. Eine davon<br />
holt das Wissen der Köche ab,<br />
ja vernetzt sie heute erfolgreich<br />
untereinander: die digitale<br />
Crowdsourcing-<br />
Plattform. Küchenchefs<br />
können sich hier miteinander<br />
vernetzen, Ideen<br />
für Gerichte posten,<br />
Fachfragen stellen und<br />
vieles mehr. So sehen<br />
die Kollegen etwa, wie<br />
Bernd Gasser in seinem Betriebsrestaurant<br />
in Zürich das Südindische<br />
Black-Curry anrichtet. Als kleinen<br />
Tipp gibt er seinen Kollegen zudem an<br />
die Hand, dass es „sehr gut bei den<br />
Gästen ankomme, wenn man die Speise<br />
mit Limetten, Kokosraspeln und<br />
Papadam garniert“. „Mir kommt es<br />
nicht darauf an, dass die Fleischportionen<br />
kleiner werden, sondern das<br />
Veggie-Angebot so attraktiv ist, dass<br />
die Gäste generell weniger Fleischgerichte<br />
auswählen“, formuliert<br />
Schmitz sein Ziel. Um das zu erreichen,<br />
seien die Menschen dahinter<br />
entscheidend – als emotionale Botschafter<br />
der neuen Philosophie. Regelmäßige<br />
Meetings und Besuche der<br />
Restaurantleiter und Köche bei Gemüsebauern,<br />
Milchviehhaltern oder<br />
etwa in der Käserei unterstützen dies.<br />
Gleichzeitig hat Schmitz mit seinem<br />
Team mit „FOODnext“ ein eigenes<br />
Köche-Magazin lanciert, in dem aktuelle<br />
Themen wie Aktionswochen, das<br />
1x1 der Farbenküche und andere Dinge<br />
in bildreicher Sprache den Mitarbeitern<br />
Appetit auf mehr machen. So<br />
viel Liebe zum Produkt überträgt sich<br />
auf die Gäste, denen die neue Richtung<br />
sichtlich schmeckt. Der Gemüse-<br />
und Obstanteil stieg auf den Tellern<br />
um 22 Prozent,<br />
während Schnitzel und Lachs<br />
bei den hungrigen Essern um 10 Prozent<br />
verloren. Das Ergebnis: Innerhalb<br />
von drei Jahren drosselte die SV<br />
Group ihren CO2-Ausstoß je Hauptmahlzeit<br />
um fast 10 Prozent. Gemeinsam<br />
mit seinem Team hat Schmitz an<br />
weiteren vielen Stellschrauben gedreht,<br />
um die Menüs klimafreundlicher<br />
zu gestalten. Täglich ein nachhaltiges<br />
Angebot im Restaurant zu servieren,<br />
sei schwierig. „Für den Kunden<br />
muss es gesund, frisch und vor allem<br />
preiswert sein.“ Dies sei wie Sudoku<br />
spielen, so Schmitz, sehr kniffelig. Ohne<br />
intensive Auseinandersetzung und<br />
tägliches Üben komme man nicht voran.<br />
So seien etwa Kräuter als Flugware<br />
aufgrund ihres geringen Gewichts<br />
akzeptabel, jedoch schwere Produkte<br />
wie Lamm aus Neuseeland nicht,<br />
führt der Cateringprofi an. Knowhow,<br />
das nicht jeder Gast im Hinterkopf<br />
hat. „Wir verkaufen Veggie und<br />
Klimaschutz über den Teller. Am Ende<br />
entscheidet jeder selbst, wie viel<br />
Verantwortung er übernimmt.“<br />
Claudia Zilz<br />
Inspiriert bei<br />
der täglichen<br />
Arbeit: das<br />
Köche-Magazin<br />
der SV Schweiz.<br />
Besuche bei Gemüsebauern und in der<br />
Käserei gehören zum Programm.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
39
SPECIAL<br />
Wo Emotionen hochkochen<br />
Nicht weniger als emotionalen Genuss in Senioreneinrichtungen verankern will <strong>Transgourmet</strong><br />
mit seinem Projekt „Vom Kostenfaktor zum Glücksfaktor“. Eine Initiative, die auf politischer wie<br />
gesellschaftlicher Ebene nachhaltig bewegen will und auf neue Impulse pro Wertschätzung hofft.<br />
Wir werden älter, jeder für sich<br />
und alle gemeinsam. Daran<br />
führt kein Weg vorbei. Deutschland<br />
ergraut. Zurzeit leben hierzulande<br />
rund 20 Millionen Menschen, die das<br />
60. Lebensjahr überschritten haben.<br />
Das entspricht einem Anteil von rund<br />
25 Prozent. In 30 Jahren wird die<br />
Quote auf 35 Prozent gewachsen sein.<br />
Jeder Dritte in unserer Gesellschaft<br />
zählt dann zu den Senioren. Gleichzeitig<br />
steigt die Lebenserwartung der<br />
Menschen von Jahr zu Jahr. Bis 2030<br />
wird sich die Zahl der über 80-Jährigen<br />
von heute 3,6 Prozent auf 7,4 Prozent<br />
mehr als verdoppeln. Prognosen<br />
sagen sogar eine Vervierfachung im<br />
gleichen Zeitraum mit Blick auf die<br />
über 100-Jährigen voraus. Deren Zahl<br />
steigt von rund 10.000 heute auf<br />
44.000 Hochbetagte im Jahr 2025.<br />
Der demografische Wandel und die<br />
gestiegene Lebensqualität der Senioren<br />
erfordern eine Neubewertung des<br />
Alters. Im Schnitt leben die Deutschen<br />
heute über 30 Jahre länger als<br />
noch vor 100 Jahren und haben zudem<br />
die Chance, ihr Leben im Alter bei guter<br />
Gesundheit aktiv zu gestalten.<br />
Wer kann, bleibt so lange wie möglich<br />
40 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Caro Hoene aus „Wir haben einfach gekocht“, Neuer Umschau Buchverlag, Daniela Haug, Susanne Duda
INITIATIVE<br />
che Einerlei aufbricht. Leider werden<br />
die Mahlzeiten in vielen Häusern heute<br />
vor allem als Kostenfaktor betrachtet<br />
und weniger als Gaumenschmaus<br />
für die Bewohner. Das weiß auch Martin<br />
Kölle, Prokurist und Leiter Nationaler<br />
Vertrieb Gemeinschaftsverpflegung<br />
bei <strong>Transgourmet</strong>. Verpflegungssätze<br />
von 4 Euro und weniger<br />
machen es den Heimköchen schwer,<br />
ein „Mehr“ auf dem Teller zu servieren.<br />
Mit dem Projekt „Vom Kostenfaktor<br />
zum Glücksfaktor“ will <strong>Transgourmet</strong><br />
neue Konzepte für emotionalen<br />
Genuss in den Häusern lancieren.<br />
Aber nicht nur das: „Wir wollen<br />
generell eine höhere Sensibilität für<br />
das Thema Seniorenverpflegung in<br />
der Öffentlichkeit erreichen“, sagt<br />
Kölle mit Nachdruck. Ihm<br />
liegt viel an der<br />
Thill. Besonders in den Nachbarländern<br />
Schweiz und Österreich genießt<br />
die Küche ein deutlich höheres Ansehen.<br />
Bemerkenswert hierzulande ist,<br />
dass zum Beispiel nur wenige Senioreneinrichtungen<br />
auf ihrer Homepage<br />
der Verpflegung den notwendigen<br />
Raum einräumen, oftmals sind<br />
nicht einmal die Speisepläne ersichtlich,<br />
beobachtet Kölle. „Wir<br />
wollen zusätzlich die Leistung<br />
der Küche mehr in das Bewusstsein<br />
der Häuser und der Öffentlichkeit<br />
bringen und die Wertschätzung<br />
steigern“, unterstreicht<br />
der Profi. Denn Essen sei<br />
viel mehr als nur ein Budget- bzw.<br />
Kostenfaktor. „Essen hat maßgeblichen<br />
Einfluss auf das Wohlbefinden.<br />
Genau deshalb soll Essen zum<br />
Ein Stück Normalität<br />
im Heimalltag:<br />
Leichte Arbeit in<br />
der Küche fördert<br />
auch die Motorik.<br />
In Deutschland rund<br />
13.000 Einrichtungen.<br />
in den eigenen Wänden. Wer nicht,<br />
zieht in eine der bundesweit rund<br />
13.000 Senioreneinrichtungen, in denen<br />
zurzeit gut 760.000 Menschen leben.<br />
Das Essen dort ist für viele der<br />
Höhepunkt des Tages, der das tägli-<br />
Initiative. Generationsbedingt<br />
werde der Bereich Seniorenverpflegung<br />
in den nächsten Jahren stark<br />
wachsen. „Wir möchten, dass auch die<br />
Verpflegungsqualität weiter zunimmt<br />
und neben Nährwerten und Kalorien<br />
gleichermaßen Geschmack, Genuss<br />
und die persönliche Essbiografie der<br />
Senioren wieder stärker thematisiert<br />
werden. Das Großhandelsunternehmen<br />
will deshalb bewusst die Speisenplanung<br />
in den Mittelpunkt rücken.<br />
Trends wie Regionalität, Saisonalität,<br />
Heimatküche oder vegetarische Menüs<br />
sollen zukünftig im Verständnis<br />
der Häuser eine größere Rolle spielen.<br />
Die Küche sollte als gleichberechtigte<br />
dritte Säule zwischen Pflege und<br />
Hauswirtschaft verstanden werden,<br />
wünscht sich der Experte Herbert<br />
Die Mahlzeiten<br />
sind für Senioren<br />
oft der Höhepunkt<br />
des Tages.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
41
SPECIAL<br />
INITIATIVE<br />
emotionalen Genuss werden!“ <strong>Transgourmet</strong><br />
hat vor Kurzem ein Projekt<br />
aufgelegt, das bundesweit bislang beispiellos<br />
ist. Bausteine der Initiative<br />
sind Schulungen für Küchenleiter sowie<br />
Küchen-, Pflege- und Hauswirtschaftspersonal<br />
(siehe Kasten), ein<br />
bundesweiter Wettbewerb für Senioreneinrichtungen<br />
sowie eine Tagung<br />
Symposium mit Preisverleihung<br />
in Kassel.<br />
mit Preisverleihung am 16. November<br />
2016 in der Kasseler Brüderkirche.<br />
Martin Kölle: „Das Symposium soll<br />
der würdige Abschluss sein und die<br />
Gewinner des Wettbewerbs ehren.<br />
Martin Kölle<br />
(re. im Bild): „Wir<br />
möchten erreichen,<br />
dass Verpflegungsqualität<br />
und<br />
Genuss beim Essen<br />
weiter zunehmen.“<br />
Aber natürlich möchten wir, dass die<br />
Debatte auch danach auf gesellschaftlicher<br />
und politischer Ebene weitergeht.“<br />
Dem <strong>Transgourmet</strong>-Manager<br />
ist wichtig zu betonen, dass das Unternehmen<br />
nicht nur Ideengeber sein<br />
möchte, sondern auch individuelle<br />
Konzepte mit den Kunden weiterentwickelt.<br />
In den vielen Einsendungen zum<br />
Wettbewerb „Vom Kostenfaktor<br />
zum Glücksfaktor“ kommt das Engagement<br />
zum Ausdruck, das viele Küchenverantwortliche<br />
heute schon an<br />
den Tag legen. Das Grundprinzip<br />
heißt, den Bewohner abholen, ihn einbinden<br />
und durch aktive Mitarbeit<br />
begeistern. Als Jurymitglied des Wettbewerbs<br />
„Vom Kostenfaktor zum<br />
Den Bewohner abholen<br />
und einbinden.<br />
Glücksfaktor“ hat Prof. Dr. Christoph<br />
Klotter, Hochschule Fulda, viele<br />
Ideen gesichtet. Seinen ersten Eindruck<br />
nach Bewertung der rund 50<br />
Bewerbungen beschreibt der Ernährungsexperte<br />
und Psychologe so: „Ich<br />
war erstaunt, wie viele Einrichtungen<br />
nicht einfach nur die Bewohner verköstigen,<br />
sondern mit viel Fantasie die<br />
Senioren anregen und beteiligen. Beispielsweise<br />
indem gemeinsam etwas<br />
angepflanzt und geerntet wird oder<br />
die Menschen, die nicht mehr in den<br />
Speisesaal gehen können, mit mobilen<br />
Schulungsangebot<br />
Was bedeutet Essen für das Wohlbefinden der Bewohner?<br />
Und wie kann eine Einrichtung emotionalen Genuss vermitteln?<br />
Antworten sowie viele praktische Tipps lieferte<br />
<strong>Transgourmet</strong> in bundesweit sechs Workshops. Die Seminarreihe<br />
wird im nächsten Jahr fortgeführt . Inhalte sind:<br />
Funktion und Rolle der Sinne beim Essen.<br />
Aktivierung dieser Sinne – speziell bei Demenz.<br />
Was ist emotionaler Genuss? Verknüpfung von Heimat,<br />
Erinnerung und Kommunikation.<br />
Vorstellung eigener Konzepte: Kennenlernen von erprobten<br />
Beispielen aus der Praxis.<br />
Umsetzung in die Praxis: gemeinsame Konzepterstellung.<br />
Mehr Infos im Weblog: www.kochen-für-senioren.de<br />
Ideenfindung<br />
leicht gemacht.<br />
Die Workshops<br />
waren sehr gut<br />
besucht.<br />
42 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
INITIATIVE<br />
PRAXIS<br />
„Unser Stellenwert muss sich ändern“<br />
Wir sprachen mit dem Experten für Seniorengastronomie<br />
und Smoothfood, Herbert Thill,<br />
über neue Anforderungen an die Heimküche.<br />
Thill ist Küchenmeister und -leiter im Haus<br />
Christkönig in Bad Wildungen.<br />
Der Stellenwert der Seniorenverpflegung<br />
nimmt mit der Alterspyramide kontinuierlich<br />
zu. Kommt diese steigende Bedeutung auch<br />
bei den kochenden Kollegen rüber?<br />
Herbert Thill: Ich habe das Gefühl, dass die<br />
Aufgaben in der Heimküche umfassender<br />
werden. Damit meine ich, dass wir mehr und<br />
mehr auch für andere Zielgruppen wie Kinder<br />
und Schüler kochen. Das gehört eigentlich<br />
nicht zu unserer Kernaufgabe, wird aber dem<br />
Küchenleiter gerne aufgedrückt. Damit will<br />
man zusätzliche Einnahmen, sprich, Deckungsbeiträge,<br />
holen. Im Klartext: Die Alten subventionieren<br />
das Essen der Jungen. Damit wird<br />
aber das Essen im Heim noch nicht besser.<br />
Wie sehen heute die Anforderungen an<br />
Heimköche konkret aus?<br />
Thill: Ein zentrales Thema ist heute sicher<br />
Smoothfood, also passierte Kost. Fakt ist, dass<br />
die Zahl jener Senioren mit Kau- und Schluckbeschwerden<br />
stetig steigt. Hier sehe ich vielfach<br />
noch Optimierungsbedarf, was die Zubereitung<br />
der hochempfindlichen Lebensmittel<br />
betrifft. Da fehlt es an Personal oder an Zeit<br />
oder das Budget ist zu knapp bemessen. Ein<br />
anderes Thema, das ich in der Praxis immer<br />
wieder registriere, ist die fehlende individuelle<br />
Abstimmung verschiedener Arbeitsabläufe<br />
zwischen Pflege, Hauswirtschaft und Küche.<br />
Besonders bei der Versorgung von Demenzkranken<br />
muss das besser werden. So bleibt das<br />
wichtige Thema passierte Kost in vielen Häusern<br />
auch deshalb häufig ein Stiefkind.<br />
Manche Häuser haben die Küchenleistung<br />
als Visitenkarte erkannt. Kommt das auch in<br />
einem größeren Budgetrahmen zum Ausdruck?<br />
Thill: Wir haben bei den Budgets ein Nord-<br />
Süd-Gefälle: Aus Berlin kenne ich die niedrigsten<br />
Budgets, die bei 3,50 Euro liegen.<br />
Wohlgemerkt reiner Wareneinsatz für sechs<br />
Mahlzeiten, darunter auch kleine Zwischenmahlzeiten.<br />
Was wir in der Heimküche brauchen,<br />
sind 5 Euro Materialkosten. Wenige<br />
Häuser wie etwa in München geben für Lebensmittel<br />
viel Geld aus. Der Schnitt liegt bei 4 Euro<br />
pro Tag und Bewohner.<br />
Was ist Ihnen als Jurymitglied des Wettbewerbs<br />
„Vom Kostenfaktor zum Glücksfaktor“<br />
bei den Bewerbungen aufgefallen?<br />
Thill: Insgesamt gibt es noch vielfach einen<br />
einfachen Standard. Da ginge mehr. Meines<br />
Erachtens wird zu wenig gefragt, wie der<br />
Bewohner eingebunden werden kann. Mir wird<br />
zu viel für den Bewohner gemacht und zu<br />
wenig mit ihm.<br />
Worauf sollte die Heimküche mehr achten?<br />
Thill: Unser Problem ist, dass wir uns wenig auf<br />
die Welt der Bewohner einlassen. Wir müssen<br />
den Gästen nicht alles sofort vor die Nase<br />
setzen. Sehen Sie, in der Heimkochausbildung<br />
beschäftigen wir uns nicht mit Kochen, sondern<br />
mit der Herausforderung Demenz. Hier müssen<br />
wir den Mut haben, neue Wege zu gehen und<br />
Lösungen zu finden. Leider genießt die Heimküche<br />
nicht den Stellenwert, den sie längst für die<br />
Bewohner hat. Sie liefert die Highlights des<br />
Tages. Stattdessen verharren die Entscheider in<br />
dem Denken: Hauptsache warm, satt und<br />
sauber. Diesbezüglich sind unsere deutschsprachigen<br />
Nachbarn Schweiz und Österreich<br />
weiter – hier genießt die Küche eine hohe<br />
Position. Da gibt es keine Cent-Diskussionen<br />
um gute Lebensmittel. Burkart Schmid<br />
Küchen kulinarischen Genuss erfahren.<br />
Auf diese Weise bleibt die Würde<br />
der Menschen gewahrt.“ Klotter weiter:<br />
„Es bleibt eben nicht der Eindruck<br />
hängen, dass die Älteren einfach nur<br />
verwaltet werden. Mich hat die Kreativität<br />
aller Einrichtungen, die Vielfalt<br />
der Möglichkeiten, die sie entwickelt<br />
haben, sehr beeindruckt. Das hätte ich<br />
in dieser Breite nicht erwartet.“<br />
Was der Wissenschaftler beschreibt,<br />
ist für viele Verantwortliche und Bewohner<br />
zum Selbstverständnis geworden:<br />
Die Küche steht vielfach für ein<br />
neues Denken von Offenheit und Lebensfreude<br />
samt Wohlbefinden für<br />
die Bewohnerinnen und Bewohner.<br />
Die Seniorenverpflegung steckt diesbezüglich<br />
in einem Wandel, was den<br />
Stellenwert der Ernährung betrifft.<br />
Essen kann emotionale<br />
Heimat geben.<br />
Martin Kölle bringt es auf den Punkt:<br />
„Der Qualitätsanspruch wird meiner<br />
Meinung nach steigen. Neue innovative<br />
Konzepte, die den Menschen in<br />
den Mittelpunkt rücken und die Verpflegung<br />
als Qualitätsmerkmal ansehen,<br />
werden zunehmen und überzeugen.“<br />
Insgesamt sei die Branche auf einem<br />
guten Weg. Essen könne den Bewohnern<br />
eine emotionale Heimat<br />
geben, ist sich der <strong>Transgourmet</strong>-Manager<br />
sicher. Allerdings müssten die<br />
Wünsche und Erwartungen der Gäste<br />
von der Küchencrew kontinuierlich<br />
erfragt werden. „Die Heimküche<br />
stärkt die Gemeinschaft und bildet so<br />
den Rahmen, auch neue Themen voranzutreiben<br />
und den Dialog zu fördern.“<br />
Sein Credo: Eine große Aufgabe,<br />
die ein enormes Potenzial in sich<br />
birgt, das es zu erschließen gilt. Übrigens<br />
sind die Empfehlungen für eine<br />
Gemeinsam<br />
zelebrierte Mahlzeiten<br />
stärken die<br />
Gemeinschaft.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
43
INITIATIVE<br />
gesunde Ernährung für Jung und Alt<br />
gleich: Frisches Obst und Gemüse sowie<br />
Vollkorn-Getreideprodukte sollten<br />
häufig auf dem Teller landen,<br />
Fleisch, fett- und zuckerhaltige Lebensmittel<br />
dagegen nur in Maßen.<br />
Außerdem rät die Deutsche Gesellschaft<br />
für Ernährung (DGE), täglich<br />
Milchprodukte aufzutischen, sowie<br />
einmal pro Woche Seefisch. Allerdings<br />
erlebt der Mensch in der zweiten<br />
Lebenshälfte einige Veränderungen,<br />
die Anpassungen in der Ernährungsweise<br />
sinnvoll machen können. Der<br />
Stoffwechsel stellt sich um, der Muskelanteil<br />
im Körper schwindet, der<br />
Anteil an Fettgewebe nimmt zu. Das<br />
führt dazu, dass Menschen im Alter einen<br />
geringeren Energieumsatz haben<br />
als jüngere. Ein 65-jähriger Mann be-<br />
nötigt am Tag etwa 330 Kilokalorien<br />
weniger als ein 25-Jähriger, rechnet<br />
die DGE vor. Bei einer Frau sinkt der<br />
Bedarf im gleichen Zeitraum um 170<br />
Kilokalorien. Diesem verringerten<br />
Energieverbrauch müssen auch die<br />
Heimköche Rechnung tragen. Deren<br />
Bedeutung wird in den nächsten Jahren<br />
steigen.<br />
Burkart Schmid / Claudia Zilz<br />
FORSCHUNG<br />
„Sie wollen aktiv bleiben“<br />
Die Beatles-Generation kommt ins Rentenalter.<br />
Damit ändern sich auch deren Ansprüche<br />
an das Essen. Wir sprachen mit dem<br />
Ernährungsexperten und Psychologen Prof.<br />
Dr. Christoph Klotter über die Merkmale der<br />
neuen Alten.<br />
Wie wirkt sich der demografische Wandel auf<br />
den Umgang mit Senioren als wachsende<br />
Zielgruppe aus?<br />
Prof. Dr. Christoph Klotter: Lange bestand die<br />
Befürchtung, der soziodemografische Wandel<br />
würde sich dahingehend auswirken, dass die<br />
Menschen älter und kränker werden. Jedoch<br />
hat sich die sogenannte Kompressionshypothese<br />
bestätigt. Menschen werden älter, aber vor<br />
ihrem Tod kürzer krank. Insgesamt sind ältere<br />
Menschen viel gesünder als früher. Die heute<br />
70-Jährigen sind körperlich so gesund wie die<br />
50-Jährigen ihrer Vorgängergeneration. Und<br />
wir werden permanent älter: Zwischen 1990<br />
und 2010 stieg die Lebenserwartung um mehr<br />
als 5 Prozent, bei den Männern sogar um 7<br />
Prozent. Ältere Menschen sind mit ihrem Leben<br />
nicht unzufriedener als Jüngere. Im Gegenteil.<br />
Auch aufgrund ihres guten Gesundheitsstatus<br />
sitzen sie nicht im Altenheim im Rollstuhl,<br />
sondern wollen am Leben aktiv teilhaben. Viele<br />
von ihnen haben einen kleinen Nebenjob. Sie<br />
wollen anerkannte Mitglieder der Gesellschaft<br />
sein, auch wenn sie ihre Identität nicht mehr<br />
überwiegend über ihre Arbeit definieren.<br />
Welche Ansprüche werden an die Senioreneinrichtungen<br />
gestellt?<br />
Prof. Dr. Klotter: Die neuen Alten wollen nicht<br />
verwaltet sein. Viele Einrichtungen früher, aber<br />
teilweise auch noch heute, glichen in ihrer<br />
Gestaltung einem Gefängnis. Mit dem Soziologen<br />
Goffman wissen wir, dass totale Institutionen<br />
die menschliche Psyche grundlegend<br />
ruinieren. Heute ist aktive Teilhabe angesagt,<br />
möglichst viel Autonomie für die neuen Alten.<br />
TV schauen und Däumchen drehen reichen bei<br />
Weitem nicht aus.<br />
Was wünschen sich denn die „neuen Alten"?<br />
Prof. Dr. Klotter: Anstatt sie aufzubewahren<br />
und zu verwalten, kann ihnen auf Augenhöhe<br />
begegnet werden, nicht bevormundend, nicht<br />
vorschreibend, sondern partizipativ. Ältere wie<br />
alle Menschen wollen gefragt sein, wollen<br />
einbezogen sein, wollen mitgestalten, Impulse<br />
geben und womöglich umsetzen.<br />
In welche Richtung entwickeln sich die<br />
Ernährungsgewohnheiten älterer Menschen?<br />
Prof. Dr. Klotter: Da die Älteren heute mehr<br />
Zeit als früher haben, nimmt das Essen mehr<br />
Raum ein als bei Berufstätigen. Sie essen relativ<br />
gesund. Und sie essen traditionell, also das,<br />
was sie schon immer gegessen haben. Das<br />
verleiht ihnen Identität und Kontinuität. Sie<br />
können sich auf ihre Lebensgeschichte zurückbesinnen.<br />
Mit dem Essen verleihen sie ihrem<br />
Leben Sinn. Der entscheidende Unterschied zu<br />
früher besteht darin, dass wir länger leben,<br />
länger selbstständig leben. Selbst einzukaufen,<br />
selbst zu kochen, selbst aufzuräumen, bedeutet<br />
wiederum, die eigene Selbstständigkeit aufrechtzuerhalten,<br />
wenn nicht zu erhöhen.<br />
Welche Rolle spielen die vielen Reisen in<br />
fremde Länder?<br />
Prof. Dr. Klotter: Wenn Ältere Urlaub machen,<br />
dann wollen sie auch danach wie viele andere<br />
das speisen, was sie in Spanien oder Thailand<br />
zu sich genommen haben. Dies weckt Urlaubserinnerungen<br />
und erhöht die Vielfalt bei Tisch.<br />
Wie wirkt sich die Lebenserfahrung der<br />
Menschen auf das Ernährungsverhalten im<br />
Alter aus?<br />
Prof. Dr. Klotter: Menschen sind insgesamt<br />
relativ änderungsresistent. Längsschnittstudien<br />
zeigen, dass kleine Kinder, die Ernährungsvielfalt<br />
erlebt haben und sich beim Kaufen und<br />
Zubereiten beteiligen konnten, sich auch 20<br />
Jahre später noch vielfältig ernähren. Was sich<br />
aber sehr wohl auswirkt, ist die soziale Lebenslage:<br />
je höher, umso gesünder. Und das setzt<br />
sich im Alter fort; ebenso das Geschlecht: Auch<br />
ältere Frauen ernähren sich gesünder als ältere<br />
Männer, verzehren mehr Obst und Gemüse und<br />
weniger Fleisch und Wurst. Der Mensch ist<br />
beim Ändern eine Schnecke. Aber selbstredend<br />
können Einrichtungen Änderungen bewirken,<br />
wenn es den Älteren Spaß macht, wenn sie<br />
etwas erleben, wenn sie selbst Hand anlegen<br />
können und sie darin einen unmittelbaren Sinn<br />
sehen – etwa die Freude, mit anderen zusammen<br />
zu kochen. Aber auch eine wachsende<br />
Kompetenz beim Essen und Zubereiten kann<br />
Sinn machen.<br />
Burkart Schmid<br />
44 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
SPECIAL
INITIATIVE<br />
Lieblingsrezepte und mehr<br />
Auf einer Rundreise zu verschiedenen Senioreneinrichtungen<br />
von Artelshofen bis Wolfsegg verrieten die Bewohner<br />
ihre Lieblingsgerichte und packten begeistert selbst<br />
mit an. Die Sammlung von 100 Lieblingsrezepten ist ein<br />
gemeinsames Projekt von Manuela Rehn und Jörg Reuter<br />
von der Berliner Strategieberatung „grüneköpfe“ sowie der<br />
Kochbuchautorin und Food-Bloggerin Cathrin Brandes. Das<br />
Buchprojekt wurde unterstützt vom Coop-Fonds für Nachhaltigkeit<br />
und von <strong>Transgourmet</strong> Deutschland. Es ist erschienen<br />
im Neuer Umschau Buchverlag und begeistert in seiner<br />
Bildersprache.<br />
„Wir haben einfach gekocht“, Hardcover, 304 Seiten,<br />
ISBN: 978-3-86528-805-9, Preis: 29,90 Euro.<br />
www.wir-haben-einfach-gekocht.de<br />
Kochbuch-Initiator<br />
Jörg Reuter (li.) mit<br />
einem Bewohner.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
45
WISSEN<br />
SPECIAL<br />
Mangold – erdig gut!<br />
Im 17. Jh. zählte Mangold zu den beliebtesten Gemüsesorten<br />
in Deutschland, bevor es von Spinat verdrängt wurde.<br />
Botanisch gesehen ist Mangold eine Rübe und mit Roter<br />
Bete und Zuckerrübe verwandt. Zu unterscheiden sind zwei<br />
Sorten: Blatt-Mangold und Stiel- oder Rippenmangold.<br />
Typisch sind verschiedenfarbige Stengel und Blattadern.<br />
Blatt-Mangold lässt sich wie Spinat verwenden, hat jedoch<br />
einen intensiv erdigen Geschmack.<br />
Neue Lust<br />
auf altes Gemüse<br />
Pastinake, Urmöhre und Rote Bete – lange vergessene Gemüsesorten halten wieder Einzug in<br />
deutsche Küchen. Neben Sterneköchen schwören vermehrt Gastronomen und Caterer auf das<br />
Urgemüse, das mit ungewohnten Farben und Aromen immer mehr Gäste in seinen Bann zieht.<br />
Bitterstoffe wurden bei<br />
Gemüse weggezüchtet.<br />
Wer kennt noch den Geschmack<br />
von lila Möhren, weißen Tomaten<br />
oder der blauen Anneliese, einer<br />
Kartoffelsorte? Viele Obst- und<br />
Gemüsesorten, die zu Großmutters<br />
Zeiten noch auf dem täglichen Speiseplan<br />
standen, sind heute verschwunden.<br />
Unsere heimische Vielfalt an Apfelsorten,<br />
Wurzelgemüsen, Salaten<br />
und Kartoffeln hat sich über Generationen<br />
dezimiert. Mit der Industrialisierung<br />
der Landwirtschaft wurden<br />
Sorten bevorzugt, die schnell wachsen,<br />
länger haltbar und optisch makellos<br />
sind, Bitterstoffe wurden herausgezüchtet.<br />
Der Verlust der Vielfalt<br />
zeigt sich zum Beispiel bei der Möhre:<br />
Im Handel sind oft nur ein bis zwei<br />
Sorten erhältlich. Dabei gäbe es annähernd<br />
500 Möhrensorten zu entdecken.<br />
Die Urform ist violett und hat<br />
intensive Aromen, die man so nicht<br />
kennt. Seit einigen Jahren erleben Gemüsesorten,<br />
die jahrzehntelang verschwunden<br />
waren, ein Comeback. Ob<br />
Pastinake, seltene Rote Bete, Spargelerbse<br />
oder alte Wurzel- und Knollen<strong>spezial</strong>itäten<br />
wie Zuckerwurz oder<br />
Erdmandel: Die Koch-Avantgarde<br />
hat alte Gemüsesorten längst wieder<br />
entdeckt. Spitzenköche wie Thomas<br />
Bühner in Osnabrück oder Michael<br />
Hoffmann in Berlin haben eigene<br />
Gärten, in denen sie Früchte und Gemüse<br />
anbauen und dabei auf vergessene<br />
Sorten mit herausragenden geschmacklichen<br />
Eigenschaften setzen.<br />
Ex-Margaux-Chef Michael Hoffmann,<br />
Vorreiter einer komplexen Gemüseküche,<br />
servierte seinen Gästen<br />
46 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Dasuwan, Enlightened Media, Photocrew, Uckyo (alle fotolia.de), Solveig Hansen, Ralf Hiener
WISSEN<br />
Lila Kohlrabi – nussig fein!<br />
Die Kohlrabi gehört zur Familie des Kohls und wurde in<br />
Deutschland erstmals im 16. Jh. erwähnt. Fast 50 verschiedene<br />
Sorten werden in Deutschland angebaut. Die<br />
lilafarbene Sorte hat eine lila Schale, zartes weißes Fruchtfleisch<br />
und einen würzigen, nussigen Geschmack. Sie eignet<br />
sich zum Braten, Kochen, Dünsten und sorgt auch frisch in<br />
Salaten für einen schönen farbigen Akzent.<br />
Gemüse-Menüs mit bis zu acht Gängen.<br />
Auch die europäischen Kollegen<br />
wissen um die besonderen Qualitäten<br />
der Urgemüse: In Österreich lässt sich<br />
Heinz Reitbauer, in den Niederlanden<br />
Jonnie Boer von regionalen Raritäten<br />
zu innovativen Kreationen inspirieren.<br />
Und im Norden Europas<br />
setzen sich die Dänen René Redzepi<br />
Ungewohnte Aromen<br />
überraschen Gäste.<br />
Mit Veggie kommen alte<br />
Sorten in den Topf.<br />
und Rasmus Kofoed auf ganz eigene<br />
Weise mit dem Thema auseinander.<br />
Was Spitzenköche an den alten Sorten<br />
schätzen? Vor allem den wesentlich<br />
intensiveren Geschmack der Produkte<br />
und die ungewohnten Aromen,<br />
die ihnen neue Möglichkeiten bieten,<br />
in der Küche kreativ zu werden. Im<br />
Verbund mit mitunter ungewöhnlicher<br />
Optik und tollen Farbstrukturen<br />
bescheren sie ihren Gästen extravagante<br />
Geschmackserlebnisse.<br />
Nicht nur in Gourmetrestaurants<br />
sind alte Sorten heute wieder angesagt.<br />
Mit der Hinwendung zur regionalen<br />
Küche und der größeren Nachfrage<br />
nach vegetarischen Angeboten<br />
entdecken inzwischen auch andere<br />
Gastronomen das Potenzial vegetarischer<br />
Raritäten. „Was uns mit am<br />
meisten Spaß macht, sind die alten<br />
Herbst- und Wintergemüse: Steckrüben,<br />
Kohl- und Kürbissorten“, sagt<br />
Solveig Hansen, Chefin der<br />
„Kantine“ im Freiburger<br />
Stadtteil Vauban. Bei der Gastronomin<br />
kommen seit Jahren immer<br />
wieder alte Klassiker<br />
in den Topf.<br />
Über ein Forschungsprojekt<br />
der Universität Kassel lernte sie vergessene<br />
Sorten kennen. Definitiv eine<br />
Bereicherung für ihre frische Küche,<br />
die jeden Mittag ein veganes, ein vegetarisches<br />
und ein Gericht mit Fleisch<br />
offeriert. Wie sie alte Gemüse in ihr<br />
Angebot einbindet? „Auf ganz vielfältige<br />
Weise! Wir nehmen sie sowohl als<br />
Basis für heimische Gerichte als auch<br />
Orientalische Tajine mit<br />
alten Kohlsorten.<br />
für Länderküchen. So machen wir<br />
zum Beispiel eine orientalische Tajine<br />
mit verschiedenen alten Kohlsorten<br />
und Möhren. Das schmeckt nicht nur<br />
wunderbar, sondern ist auch farblich<br />
ein Hingucker“, sagt Hansen. Eine<br />
Überraschung für die gelernte<br />
Köchin war die vielseitige Verwendbarkeit<br />
der Pastinake,<br />
die sich auch für die vegane<br />
Küche hervorragend<br />
eigne.<br />
„Wir machen<br />
daraus tolle Saucen.“<br />
Jüngste Entdeckung der<br />
Gastronomin –Veganerin wie alle<br />
Mitarbeiter in ihrem Team – ist eine<br />
alte Auberginensorte, die ein weißes,<br />
noch luftigeres Fleisch hat als die uns<br />
bekannte Frucht und fast pilzartig<br />
würzig schmeckt. Immer mehr ihrer<br />
Gäste entscheiden sich mittags für das<br />
vegetarische oder vegane Angebot.<br />
Ur-Möhre – intensiv süß!<br />
Die Möhre zählt zu den ältesten und bekanntesten Gemüsesorten<br />
und wurde schon in der Steinzeit angebaut. Die<br />
Ur-Möhre war rot, violett oder schwarz und schmeckt süßer<br />
und intensiver als ihre modernen orangen Verwandten.<br />
Wegen ihres höheren Gehaltes an Vitaminen wird sie auch<br />
als „Gesundheitsmöhre“ bezeichnet. In der Küche lässt sie<br />
sich vielseitig einsetzen, aufgrund ihres intensiven Farbspiels<br />
ist sie als Rohkost oder im Salat ein Hit.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
47
SPECIAL<br />
WISSEN<br />
Mairübchen – leicht scharf!<br />
Die Mairübchen veredelten schon bei den Römern viele<br />
Gerichte und waren in Deutschland lange Zeit ein beliebtes<br />
Gemüse. Die alte Kulturpflanze ist eine besondere Form der<br />
Speiserübe und eng verwandt mit den Teltower Rübchen<br />
und der Herbstrübe. Zu ernten gibt es sie – wie der Name<br />
verrät – im Mai. Ihre Schale enthält viele Senföle, die Blätter<br />
können wie Spinat verarbeitet werden. Reich an Vitaminen<br />
und Mineralien, hat sie einen rettich-ähnlichen Geschmack.<br />
schmecken.“ Wenn Hiener besonderes<br />
Grünzeug ergattern kann,<br />
setzt er es auf seine Tageskarte:<br />
Dann gibt es zum Beispiel Mairübchen<br />
aus Radebeul, Borschtsch mit<br />
viel Wurzelgemüse oder Tondo<br />
di Chioggia, eine uralte, innen<br />
hübsch rot-weiß geringelte<br />
Rote-Bete-Sorte, die<br />
Hiener dünn hobelt und mit<br />
Verjus, Haselnussöl und Salz zubereitet.<br />
„Das ist extrem simpel und<br />
kommt unheimlich gut an. Das Produkt<br />
ist der Star!“ Mit dieser Form der<br />
Regionalität, so der Gastronom, kön-<br />
Solveig Hansen,<br />
Chefin der „Kantine“<br />
im Freiburger<br />
Stadtteil Vauban,<br />
und Ralf Hiener,<br />
Inhaber Restaurant<br />
Raskolnikoff<br />
in Dresden.<br />
„Durch den Mix mit alten Gemüsesorten<br />
können wir unseren Gästen<br />
immer wieder nichtalltägliche Genüsse<br />
bieten. Abwechslung ist wichtig,<br />
denn wir haben sehr viele Stammgäste.“<br />
Auch Ralf Hiener bringt in seinem<br />
Restaurant Raskolnikoff in der Dresdener<br />
Neustadt vergessene Klassiker<br />
Den Gästen etwas<br />
Besonderes bieten.<br />
mit viel Raffinesse<br />
auf die Teller.<br />
„Wann immer ich alte<br />
Sorten bekommen kann,<br />
nehme ich sie gerne und beziehe<br />
sie in unser Angebot mit ein“,<br />
sagt der Gastronom. Dabei setzt er<br />
auf Gemüse, das in der Region angebaut<br />
wird, bevorzugt „alle Sorten von<br />
alten Beten und Rüben“. Was er daran<br />
so mag? „Alte Sorten wie die weiße<br />
oder die gelbe Bete bestechen durch eine<br />
schöne Süße und einen feinen Geschmack.<br />
Kein Vergleich mit Standardprodukten,<br />
die oft etwas muffig<br />
Das Produkt ist der Star<br />
auf dem Teller.<br />
ne man bei den Gästen echt punkten.<br />
„Die Resonanz ist enorm und bringt<br />
uns 20 Prozent mehr Umsatz. Die<br />
Leute freuen sich, besondere <strong>Spezial</strong>itäten<br />
aus der Region wiederzuentdecken!“<br />
Ulla Dammer<br />
Impressum<br />
Essen ist MehrWert – Ein Special<br />
von gv-praxis und food-service in<br />
Kooperation mit <strong>Transgourmet</strong>, 2016.<br />
Redaktion: Claudia Zilz (Leitung)<br />
Autoren: Ulla Dammer, Daniela Dietz,<br />
Charlotte Holzhäuser, Andrea Lottmann,<br />
Petra Mewes, Petra Plaum,<br />
Hanni Rützler, Burkart Schmid,<br />
Kerstin Schulte, Ingeborg Sichau,<br />
Marianne Wachholz, Katrin Wißmann,<br />
Ulrike Vongehr, Gretel Weiß , Sarah<br />
Wiener und Claudia Zilz<br />
Lektorat: Thomas Leja und Bernd<br />
Weidmann<br />
Verantwortlich: Burkart Schmid,<br />
Chefredaktion gv-praxis, und Claudia<br />
Zilz, Redaktion gv-praxis, Deutscher<br />
Fachverlag GmbH, Mainzer<br />
Landstr. 251, 60326 Frankfurt<br />
Kontakt: Fon +49.69.7595-1519,<br />
Fax -1510, www.cafe-future.net<br />
E-Paper: Das Special gibt es kostenfrei<br />
als E-Paper zum Download unter:<br />
www.cafe-future.net/werte-special<br />
48 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
MARKETING<br />
Setzt auf die Saison: Küchenchef<br />
Heinz Otto Wehmann<br />
vom Landhaus Scherrer.<br />
So schmeckt der Sommer<br />
Reife Kirschen, süße Erdbeeren, herber Rhabarber und knackiger Spargel verheißen wunderbare<br />
Genüsse. Köche können mit Menüs aus diesen saisonalen Klassikern jenseits des Standards ihr<br />
Können und ihre Kreativität unter Beweis stellen und ihr Profil schärfen.<br />
Erfolgreich laufende Betriebe machen<br />
vor, dass sie über die traditionell-regionale<br />
Schiene dauerhaft<br />
Stammgäste binden und neue Kunden<br />
gewinnen können. Bei den Saisonklassikern<br />
Spargel, Kirschen, Erdbeeren<br />
und Rhabarber kommt verschärfend<br />
hinzu, dass sie als Frischware<br />
zeitlich nur sehr begrenzt zur<br />
Verfügung stehen – jedoch genau zu<br />
diesem Zeitpunkt am besten schmecken.<br />
Jeder verbindet mit diesen heimischen<br />
Gewächsen seine ganz besonderen<br />
Lieblingsrezepte – zu Hause. In<br />
den Profiküchen liegt viel Potenzial<br />
brach. Während viele GV- und Gastroprofis<br />
in den vergangenen Jahren<br />
stark auf mediterran und asiatisch geprägte<br />
Speisen gesetzt haben, geht es<br />
jetzt zurück zu den Wurzeln: Die re-<br />
Saisonales immer<br />
erntefrisch verarbeiten.<br />
gionale Küche hat viel Bodenständiges,<br />
Einheimisches. Doch so mancher<br />
Koch scheut die Mühe, diese Klassiker<br />
kreativ in Szene zu setzen, denn<br />
Kirschaufläufe, Rhabarberkuchen<br />
und auch Spargel mit Sauce Hollandaise<br />
verkaufen sich schließlich immer<br />
gut … Aber Regionales muss nicht<br />
langweilig sein! Wertschätzung entsteht,<br />
wenn die Produkte originell zubereitet<br />
und aktiv angeboten werden.<br />
Zudem lassen sich mit neuen Rezepturen<br />
höhere Umsätze generieren.<br />
Dabei brauchen originelle <strong>Spezial</strong>itäten<br />
ein aktives Marketing, um letztendlich<br />
dort zu landen, wo sie hingehören:<br />
auf den Tellern der Gäste! Also gilt<br />
es, um die saisonalen Highlights ringsum<br />
attraktive Pakete zu schnüren. Die<br />
Zusammenarbeit mit regionalen Erzeugern<br />
und Lieferanten ist ein hilfreicher<br />
Baustein.<br />
Exaktes Timing der Aktionen. Erfolgreiche<br />
Gastronomen lassen sich<br />
immer etwas einfallen, um Stammgäste<br />
zu überraschen und neue Kunden ins<br />
Haus zu locken. Aktionstage und -wochen<br />
sind sicher eine Möglichkeit, saisonale<br />
Top-Produkte zu promoten<br />
und erntefrische Lieferungen – so<br />
schnell es geht – den Gästen zu servieren.<br />
Auch die zielgruppengerechte Gestaltung<br />
der Speisekarte bietet sich an.<br />
Kinder- oder Seniorengerichte sowie<br />
spezielle Angebote für betont gesund-<br />
Fotos: Landhaus Scherrer, Bio Kontor 7, Margarita Borodina (shutterstock.com)<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
49
SPECIAL<br />
MARKETING<br />
heitsbewusste Genießer sollten für<br />
entsprechend aufgestellte Betriebe<br />
selbstverständlich sein und extra hervorgehoben<br />
werden. Bezugsquellen<br />
können ergänzend zu den Stammlieferanten<br />
dann durchaus bäuerliche<br />
Direkt- und Regionalvermarkter sein.<br />
Saison kreativ in Szene setzen. Ein<br />
ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet<br />
ist Heinz Otto Wehmann vom<br />
Landhaus Scherrer in Hamburg: „Wir<br />
kochen seit über 35 Jahren mit regionalen<br />
Produkten. Der Jahreszeiten-<br />
Kalender ist für uns besonders wichtig.“<br />
Da das Haus bio-zertifiziert ist,<br />
bietet die Küchencrew selbst ein spezielles<br />
Demeter-Catering an. „Unseren<br />
Spargel beziehen wir von einem<br />
Bio-Bauern aus der Lüneburger Heide,<br />
wenn dieser ihn erntet – und nur<br />
dann“, sagt Wehmann selbstbewusst.<br />
Seine Gäste dürften schon beim Lesen<br />
der Speisenkarte Appetit bekommen.<br />
Er offeriert nicht einfach Kirschen<br />
mit Sahne, sondern glacierte Altländer<br />
Kirschen mit Quarkcrème aus der<br />
Wilster Marsch, Erdbeersalat mit<br />
Cuebenpfeffer und Buttermilch-Eis<br />
mit Löwenzahnhonig sowie gratiniertes<br />
Rhabarberkompott mit Tonkabohnen-Eis.<br />
Selbst für den Einsatz in<br />
den Hauptgängen hat Wehmann<br />
So verkauft sich Saison<br />
Ideen für eine erfolgreiche Aktion<br />
Exakte Herkunft der Früchte in die Namensgebung der<br />
Gerichte einbeziehen. Beispiel: Altländer Kirschen mit<br />
Quarkcrème aus der Wilster Marsch.<br />
Frische Früchte auch bei den Hauptgängen einsetzen,<br />
nicht nur zum Backen und in der Pâtisserie. Beispiel:<br />
krosse Vierländer Ente mit Himbeer-Rhabarber in Grenadine,<br />
gebratener Bio-Spargel mit Sylter Algensalat und<br />
hausgemachten Nudeln.<br />
Saisonale Raritäten mit einem typischen oder international<br />
klingenden Gericht verbinden. Beispiel: Zanderschnitzel<br />
mit Rhabarberpuder paniert auf Spargel-<br />
Erdbeer-Mandelragout und lauwarmer Kirsch-Vinaigrette.<br />
Starker Auftritt: Kirschen und/oder Erdbeeren am Tisch<br />
des Gastes mit Stickstoff zu Sorbet rühren.<br />
Tipps für die Zubereitung<br />
Frisch gelieferte Erdbeeren in einem luftdichten, mit<br />
Küchenrolle ausgelegten Gefäß im Kühlschrank aufbewahren.<br />
Nur die benötigten Mengen putzen: Beeren beim Waschen<br />
nicht im kalten Wasser schwimmen lassen, sondern<br />
im Sieb nur kurz eintauchen und abtropfen.<br />
Bio-Caterer Konrad Geiger setzt auf<br />
Regionales in seiner Küche.<br />
kreative Ideen: „Krosse Vierländer<br />
Ente mit Himbeer-Rhabarber in Grenadine.<br />
Der Rhabarber wird nur roh<br />
mariniert und schmeckt dadurch<br />
mehr nach frischem Rhabarber.“ Eine<br />
echte Überraschung sind Wehmanns<br />
Bio-Spargelnudeln. Für diese wird der<br />
Spargel roh in lange Scheiben geschnitten<br />
und kurz mit Schalottenwürfeln<br />
gegart, dann mit Spargelähren<br />
und Holsteiner Granat serviert.<br />
Eine andere Idee ist gebratener Bio-<br />
Spargel mit Sylter Algensalat und<br />
hausgemachten Nudeln. Und zum geräucherten<br />
Bio-Saibling reichen die<br />
Scherrer-Köche Bio-Spargel-Vinaigrette<br />
und Gurkensorbet.<br />
Raritäten wecken Appetit. Weitere<br />
Profi-Tipps steuert Konrad Geiger
MARKETING<br />
Mit Farben und<br />
Geschmack spielen.<br />
bei. Der Geschäftsführer des Cateringunternehmens<br />
Bio Kontor 7 weiß<br />
aus eigener Erfahrung als Küchenchef,<br />
dass man für Raritäten Aufmerksamkeit<br />
wecken muss, optisch wie kulinarisch:<br />
„Das kommt bei interessierten<br />
Gästen gut an, wobei die <strong>Spezial</strong>itäten<br />
in der Zusammenstellung als Gericht<br />
aber so gut schmecken müssen, dass sie<br />
auch ‚Uninteressierte‘ aufmerken lassen.“<br />
Gut geschulte Ausgabe- oder<br />
Servicekräfte sollten die Ideen der Küche<br />
zusätzlich den Gästen vermitteln.<br />
Konrad Geiger rät auch, die saisonalen<br />
Highlights in Verbindung mit einer<br />
typischen oder international klingenden<br />
Komponente zu verbinden. Ein<br />
Lieblingsgericht von ihm ist zum Beispiel<br />
Zanderschnitzel mit Rhabarberpuder<br />
paniert auf Spargel-Erdbeer-<br />
Mandelragout und lauwarmer<br />
Kirsch-Vinaigrette. „Das ist eine witzige<br />
Kombination mit heimischem<br />
Fisch, die sicher nicht zu weit weg von<br />
der normalen Gaumenerwartung<br />
liegt“, so Geiger. Für den Dessertbereich<br />
schlägt Geiger vor, mit Farben<br />
und Geschmack „zu spielen“. Das gelingt<br />
beispielsweise bei der Kombination<br />
von weißem Erdbeereis mit marinierten<br />
Kirschen auf Rhabarber-<br />
Polenta-Kuchen und Erdbeer-Consommé.<br />
Dazu werden Erdbeeren, die<br />
nicht mehr so ganz frisch sind, fein püriert<br />
und über Nacht im Leinentuch<br />
aufgehängt. Der abtropfende Fruchtsaft<br />
wird eingefroren, die feste Masse<br />
mit frischen Erdbeeren zu einer kräftigen<br />
„Suppe“ verarbeitet.<br />
„Das I-Tüpfelchen<br />
für dieses Dessert<br />
sind grüne Spargelstangen, die<br />
vorher in lange Streifen geschnitten,<br />
gezuckert und anschließend getrocknet<br />
worden sind“, ergänzt der Fachmann.<br />
Für gezielte Aktionen<br />
empfiehlt Geiger, einen Jahreskalender<br />
als „Küchenjahr“<br />
zu gestalten, in dem saisonale<br />
Produkte abgebildet<br />
sind: „Das ist eine optisch<br />
schöne Werbeidee für die<br />
Speisekarte.“ Sein Extra-Tipp: Der<br />
Einkauf sollte den Händler rechtzeitig<br />
informieren, welche Zutaten benötigt<br />
werden. Die Köche haben so<br />
Spielraum für ihre Planung, der Lieferant<br />
mehr Zeit, sie zu organisieren.<br />
An Qualität führt dabei kein Weg vorbei.<br />
Eine besondere Wertschätzung<br />
entsteht, wenn die Gäste optisch und<br />
geschmacklich erkennen, dass Kirschen,<br />
Erdbeeren, Rhabarber und<br />
Spargel als echte Raritäten-Highlights<br />
auf der Karte stehen und definitiv nur<br />
zur Erntezeit auf die Teller kommen.<br />
Erdbeeren im Advent braucht kein<br />
Mensch.<br />
Petra Mewes<br />
Spargel-Tipps vom Profi<br />
Spargel: Aus den Schalen und dem Endstück mit Salz<br />
und Zucker einen kräftigen Fond kochen, diesen zum Kochen<br />
und Braten des geschälten Spargels verwenden.<br />
Gebratener Spargel: Stangen in Butterschmalz roh<br />
anbraten, mit Fond ablöschen und auf dem Teller anrichten,<br />
restliche Brühe in der Pfanne wird mit kalten Butterstücken<br />
und wenig Zitronensaft unter Rühren aufgekocht und über<br />
die Stangen gegeben.<br />
Sous Vide: Gesamte Spargellieferung nach dem Schälen<br />
in Siegelrandbeutel portionieren, Spargelfond und Butter<br />
dazugeben, unter Vakuum verschließen. Bei 85 Grad Celsius<br />
30 Minuten im Wasserbad garen, in Eiswasser abkühlen.<br />
Regenerieren und Finish erst auf Abruf.
FOOD-RETTER<br />
SPECIAL<br />
Dreibeinige Möhren, krumme<br />
Gurken, Aprikosen mit Flecken:<br />
Lange hatten Obst und<br />
Gemüse mit Schönheitsfehlern<br />
in Supermärkten keine Chance.<br />
Vor drei Jahren hat Coop<br />
Schweiz mit der<br />
Nachhaltigkeits-Eigenmarke<br />
Ünique den Gegenbeweis<br />
angetreten – mit Erfolg.<br />
Ein Herz für<br />
krummes Gemüse<br />
Zu kleine Kartoffeln werden untergepflügt,<br />
krumme Gurken und<br />
mehrbeinige Karotten aussortiert:<br />
Lange Zeit blieb Früchten und Gemüse<br />
jenseits der Norm wegen Handelsvorgaben<br />
und den optischen Ansprüchen<br />
der Kunden der Weg in die Verkaufsregale<br />
verschlossen. Als erster<br />
Händler hat Coop Schweiz „unperfekten“<br />
Früchten und Gemüsen einen<br />
Platz in seinen Läden eingeräumt:<br />
Nach einer verhagelten Walliser Aprikosenernte<br />
bot das Unternehmen im<br />
Sommer 2013 erstmals vom Wetter<br />
geplagte Früchte als „Hagelaprikosen<br />
für Konfitüre“ an. Die Nachfrage war<br />
enorm: Über 122 Tonnen wurden davon<br />
verkauft. „Wir hatten seit Langem<br />
gespürt, dass das Thema Lebensmittelverschwendung<br />
unsere Kunden<br />
bewegt. Dass Obst und Gemüse, die<br />
nicht den Standards entsprechen, aussortiert<br />
werden, konnten die Leute<br />
nicht nachvollziehen“, sagt Axel Dippold,<br />
Category Manager Früchte und<br />
Gemüse bei Coop. Die Hagelaprikosen<br />
waren der Testfall – und die Geburtsstunde<br />
der Nachhaltigkeits-Eigenmarke<br />
„Ünique“, mit der sich die<br />
Unperfektes wird zur<br />
Marke gemacht.<br />
Karotten, die nicht<br />
den Standardmaßen<br />
entsprechen,<br />
sind bei<br />
Ünique erste Wahl.<br />
Handelskette für die Verwertung der<br />
ganzen Ernte engagiert. Unter dem<br />
Label „Ünique“ bietet Coop Schweiz<br />
heute Obst und Gemüse mit kleinen<br />
Makeln zu günstigen Preisen<br />
an. Das Sortiment umfasst neben<br />
Karotten, Kartoffeln und Gurken<br />
inzwischen auch Zitronen,<br />
Orangen, Kiwis, Auberginen und<br />
Zucchini. „Das Angebot variiert<br />
nach Saison. Darüber<br />
hinaus reagieren<br />
wir auf besondere Wetterereignisse<br />
und bieten<br />
unter dem Ünique-Label auch durch<br />
Unwetter beschädigte Früchte und<br />
52 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Coop Schweiz
FOOD-RETTER<br />
Äußere Mängel sagen<br />
nichts über innere Werte.<br />
Verbraucher erwarten<br />
attraktive Preise.<br />
Gemüse als Aktionsware an. Birnen<br />
mit Hagelschäden etwa oder Nektarinen<br />
mit kleinen Schalenfehlern. Dem<br />
Geschmack tun solche optischen Abweichungen<br />
keinen Abbruch“, erklärt<br />
der Manager. Im Frühjahr 2015 wurde<br />
erstmals auch gekrümmter Spargel<br />
verkauft, der größtenteils aus dem badischen<br />
Raum stammte und pro Kilogramm<br />
7,50 Schweizer Franken kostete.<br />
Da die Natur nicht beliebig viele<br />
solcher Gewächse hervorbringt, sind<br />
die Saisonartikel nur in 50 bis 250 ausgewählten<br />
Supermärkten erhältlich.<br />
Ünique-Aktionsware sowie Karotten<br />
und Gurken indes werden in allen 850<br />
Filialen angeboten.<br />
Dass die Kunden die Idee unterstützenswert<br />
finden, zeigen die Verkaufszahlen:<br />
2014 konnte Coop über 180<br />
Tonnen Karotten und 36 Tonnen<br />
Birnen unter dem Ünique-Label verkaufen.<br />
2015 gingen insgesamt 650<br />
Tonnen Ware über die Supermarkt-<br />
Theken. „Die Reaktionen unserer<br />
Kunden sind positiv, nicht umsonst<br />
haben wir das Angebot stetig ausgebaut“,<br />
sagt Dippold. Allerdings beobachtet<br />
der Manager, dass es immer<br />
noch eine Diskrepanz gibt zwischen<br />
dem, „was man richtig und gut findet,<br />
und dem, was man tatsächlich kauft“.<br />
Der Verbraucher hat sich an makellose<br />
Produkte gewöhnt, bewertet Qualität<br />
immer noch nach dem Äußeren.<br />
Oder, um es mit Dippolds Worten zu<br />
sagen: „Die Kunden finden die Idee<br />
zwar unterstützenswert, kaufen aber<br />
trotzdem lieber schön – wenn sie<br />
nicht den Preisvorteil haben.“ Attraktive<br />
Preise seien für krummes Obst<br />
und Gemüse ein notwendiger Verkaufsmotor.<br />
Das Bewusstsein, dass gutes<br />
Gemüse und schmackhafte Früchte<br />
nicht dem klassischen Schönheitsbild<br />
entsprechen müssen, nähme aber<br />
zu. Das Engagement bedeutete für das<br />
Handelsunternehmen einen beachtli-<br />
Axel Dippold, Wegbereiter für krummes<br />
Gemüse bei der Coop Schweiz.<br />
Culinary Misfits<br />
Das Engagement für krummes Obst und Gemüse von Coop<br />
Schweiz hat auch andere Händler beflügelt. So brachte<br />
Rewe International 2013 in Österreich die Eigenmarke<br />
„Wunderlinge“ auf den Markt, Edeka startete das Pilotprojekt<br />
„Keiner ist perfekt“. 2014 launchte die französische<br />
Supermarktkette Intermarché ihre Marke „Les fruits et<br />
légumes moches“ (hässliches Obst und Gemüse) und setzte<br />
den Verkauf mit einer großen Anzeigenkampagne in Szene.<br />
Der You-Tube-Film zur Anti-Wegwerf-Kampagne erzielte<br />
schon nach kurzer Zeit vier Millionen Clicks. Nur wenige<br />
Händler haben krummes Obst und Gemüse dauerhaft im<br />
Sortiment. In Deutschland gehört der Discounter Penny<br />
dazu, der seit April 2016 deutschlandweit die „Naturgut Bio<br />
Helden“ anbietet.<br />
chen Aufwand – nicht nur, was interne<br />
Prozesse anbelangt. Auch die Lieferanten<br />
mussten überzeugt werden.<br />
„Verwachsene Kiwis? Unsere Lieferanten<br />
haben es zuerst gar nicht geglaubt.<br />
Jahrelang haben sie krumme,<br />
nicht den Handelsnormen entsprechende<br />
Produkte aussortiert. Sie waren<br />
technisch gar nicht darauf eingerichtet.“<br />
Für Dippold steht der Aufwand<br />
in jedem Fall im Verhältnis zum<br />
Erfolg. „Unsere Bilanz ist sehr positiv.<br />
Man braucht ein Thema, mit dem<br />
man das Herz der Kunden erreicht.<br />
Wir haben eine<br />
regelrechte Sympathiewelle<br />
ausgelöst“, sagt<br />
der Mit-Initiator der<br />
Ünique-Idee und kündigt<br />
weitere Neuerungen an. Das Thema<br />
sei mehr als eine PR-Aktion, in vielen<br />
europäischen Ländern gibt es ähnliche<br />
Initiativen. Ob Österreich,<br />
Frankreich oder Deutschland: Längst<br />
haben weitere Handelsketten die Idee<br />
von Coop Schweiz aufgegriffen und<br />
ebenfalls Eigenmarken für krumme<br />
Früchte eingeführt. Ulla Dammer
FOOD-RETTER<br />
SPECIAL<br />
Restlos Glücklich<br />
Nichts<br />
für die Tonne!<br />
Aussortierte Lebensmittel bekommen hier eine zweite Chance.<br />
Krumme Gurken, Brot vom Vortag oder Riesen-Zucchini – vom<br />
konventionellen Markt verschmäht – werden im „Restlos Glücklich“<br />
im Berliner Kiez Neukölln kulinarisch aufgetischt.<br />
Seit Sommer 2016 bietet das „Notfor-Profit“-Lokal<br />
in Berlin-Neukölln<br />
von Mittwoch bis Samstag ab 18 Uhr<br />
ein täglich wechselndes 3-Gang-<br />
Menü an – zubereitet aus Lebensmitteln,<br />
die vor der Tonne gerettet<br />
wurden. Zwei Köche und der Restaurantmanager<br />
sind die einzigen fest<br />
angestellten und bezahlten Mitarbeiter.<br />
Im Hintergrund arbeiten<br />
rund 60 Ehrenamtliche. Die Gewinne<br />
aus dem Lokal in der Kienitzer<br />
Straße fließen in Bildungsprojekte<br />
wie Kochkurse für Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene. Damit sollen<br />
Menschen dazu bewegt werden,<br />
bewusster zu konsumieren und<br />
mehr zu verwerten.<br />
www.restlos-gluecklich.berlin<br />
Das kleine Lokal in der Kienitzer<br />
Straße in Berlin liegt etwas abseits<br />
vom Neuköllner Szene-Treff.<br />
Dass es hier etwas zu essen gibt, verrät<br />
die handbeschriebene Standtafel auf<br />
dem Bürgersteig. Wenige Stufen führen<br />
nach unten ins „Restlos Glücklich“:<br />
unverputzte Wände, bunt zusammengewürfelte<br />
Tische, Stühle<br />
und Bänke, dezente Kerzenbeleuchtung.<br />
Der Name ist Programm: In diesem<br />
Restaurant werden aus Lebensmitteln,<br />
die anderswo verschmäht<br />
wurden, Gerichte gezaubert, die<br />
glücklich machen – „Reste-à-la-Carte“.<br />
Aussortiertes wird geadelt zu<br />
„Schaumsüppchen mit Ingwer“ oder<br />
erhält als „Tofu-Mangoldröllchen mit<br />
gegrilltem Brokkoli, Kartoffelgratin<br />
und Gemüsejus“ eine zweite Chance.<br />
Was abends auf der Tafel steht, weiß<br />
Daniel Roick (im Bild oben mit Ringel-T-Shirt)<br />
in der Regel morgens<br />
noch nicht. Seine Kreativität als Koch<br />
ist gefragt, wenn Lebensmittel angeliefert<br />
werden, die nicht bestellt, sondern<br />
„gerettet“ wurden. Das können<br />
krumme Möhren, stark verzweigte<br />
Vieles wird im Denn‘s<br />
Biomarkt gerettet.<br />
Ingwerknollen oder Süßkartoffeln<br />
sein, die an einigen Stellen etwas angeschlagen<br />
sind. Das meiste kommt<br />
von Denn’s Biomarkt und einem Biogroßhändler:<br />
Obst und Gemüse, das<br />
bis Ladenschluss nicht verkauft wurde,<br />
gelegentlich auch Fleisch. „Die<br />
Ökos haben ein besonderes Verhältnis<br />
zu ihren Lebensmitteln“, erklärt<br />
Leoni Beckmann, von Haus aus Sozialwissenschaftlerin<br />
und Mit-Initiatorin<br />
des Berliner Projektes. Beim Retten<br />
wird nicht diskriminiert, auch<br />
54 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Restlos Glücklich e.V., Lars Bösch
FOOD-RETTER<br />
konventionelles unverdorbenes Gemüse<br />
vor der Tonne bewahrt. Manchmal<br />
ist es eine falsche Etikettierung<br />
oder die beschädigte Umverpackung,<br />
die einem Lebensmittel den Weg<br />
weist in Deutschlands erstes Reste-<br />
Restaurant. Dann steht zum Beispiel<br />
„Linsenbällchen in Sesam auf Karottencreme“<br />
auf der Tafel. „Das Kochen<br />
macht hier mehr Spaß als in der konventionellen<br />
Gastronomie“, sagt der<br />
27-jährige Koch. Außer ihm war anfangs<br />
nur noch der Restaurant-Manager<br />
fest angestellter Mitarbeiter im<br />
„Restlos Glücklich“, das viel mehr ist<br />
als ein Restaurant: Es ist Bildungsprojekt<br />
und gemeinschaftliches Engagement<br />
von mittlerweile etwa 60 Ehrenamtlichen,<br />
die sich zum Ziel gesetzt<br />
haben, dass Lebensmittel wieder mehr<br />
wertgeschätzt werden und nicht so<br />
leicht auf dem Müll landen.<br />
Den 18 Millionen Tonnen Lebensmitteln,<br />
die laut der Umweltorganisation<br />
WWF jedes Jahr im Müll landen,<br />
Kulinarischer Anspruch<br />
wird gepflegt.<br />
Ein komplettes<br />
Menü besteht aus<br />
Suppe, Hauptspeise<br />
und Dessert.<br />
wollten Anette Keuchel, 38, und Leoni<br />
Beckmann, 28, etwas entgegensetzen.<br />
Beide gründeten vor gut zwei Jahren<br />
mit einer Handvoll Gleichgesinnter<br />
den Verein, der den gleichen Namen<br />
trägt wie das Lokal. Vorbild ist<br />
das „Rub & Stub“ in Kopenhagen, das<br />
Anette Keuchel in ihrem Dänemark-<br />
Urlaub kennenlernte. Bevor es in Berlin<br />
losgehen konnte, wurden über<br />
Crowdfunding 25.000 Euro als Startkapital<br />
eingesammelt. Nach ersten<br />
gastronomischen Testabenden im<br />
April hat man seit diesem Sommer regelmäßig<br />
geöffnet. Bis 22 Uhr kann<br />
bestellt werden. Entweder das ganze<br />
Menü zum Preis von 19 bis 22 Euro<br />
oder Vorspeise, Hauptgang und Dessert<br />
einzeln. Alles angerichtet wie in<br />
der Spitzengastronomie. Man pflegt<br />
einen kulinarischen Anspruch. Dazu<br />
passt das Angebot an hochwertigen<br />
Weinen – eingeschenkt aus Flaschen,<br />
die wegen verrutschter Etiketten ausgemustert<br />
wurden. „Wir retten Lebensmittel<br />
vor der Tonne und nicht<br />
aus der Tonne“, stellen die Food-Aktivisten<br />
klar, dass die Lebensmittel bedenkenlos<br />
verzehrt werden können<br />
und ihr Geld wert sind. Auch wenn die<br />
Portionen im „Restlos Glücklich“<br />
eher klein sind. Es soll ja möglichst<br />
nichts vom guten Essen am Ende doch<br />
im Müll landen.<br />
Für den Nachschub an Lebensmitteln<br />
ist gesorgt. „Wir bekommen alles und<br />
nehmen alles“, zählt Leoni Beckmann<br />
auf: „Gemüse, Obst, Schokolade, Reis<br />
und viel Brot“. Das wird beispielsweise<br />
zu Knödel in allen Varianten<br />
verarbeitet, kommt als „Toskanischer<br />
Brotsalat“ auf den<br />
Tisch oder – verfeinert mit<br />
Creme und Fruchtsirup – als<br />
verführerisches Dessert. „Lieferanten“<br />
sind ein Pool fester<br />
Partner, bei denen regelmäßige<br />
„Rettungsaktionen“<br />
erfolgen. Dazu finden sich<br />
immer wieder neue, spontane<br />
Spender ein. Unterm<br />
Strich bleibt ein Rest von<br />
10 Prozent an Kochzutaten,<br />
die zugekauft werden<br />
– vor allem Fette,<br />
Öle und Gewürze.<br />
Wenige Monate nach<br />
der Eröffnung ist das<br />
„Restlos Glücklich“<br />
auch außerhalb des Neuköllner<br />
Kiezes eine gastronomische Adresse<br />
geworden. Die 40 bis 60 abendlichen<br />
Gäste bilden einen Querschnitt der<br />
Berliner Bevölkerung: Junge, Ältere,<br />
Ökos, in Paaren oder als Gruppe, und<br />
Leute, für die es zum Lifestyle gehört,<br />
bei der Rettung der Welt dabei zu sein.<br />
Dass ihr Lokal auf so große Zustimmung<br />
stößt, hilft den Aktivisten hinter<br />
dem „Restlos Glücklich“ für ihr<br />
übergreifendes Ziel: Menschen bewegen,<br />
bewusster zu konsumieren. Dafür<br />
werden Kochkurse und Bildungsprojekte<br />
für Kinder, Jugendliche und Erwachsene<br />
finanziert. Hier ist wieder<br />
Daniel Roick als Profi im Einsatz. Unterstützung<br />
erhält er inzwischen von<br />
Dennis Pattloch, 30, dem zweiten fest<br />
angestellten Koch beim „Restlos<br />
Glücklich“. Ingeborg Sichau<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
55
SPECIAL<br />
Jeder Wein hat eine eigene<br />
Geschichte. Wo kommt er<br />
her, wer hat ihn angebaut,<br />
wie wurde er verarbeitet<br />
und veredelt? Jede Menge<br />
Erzählstoff für Gäste. Weingüter<br />
unterscheiden sich in<br />
Arbeitsweise und Philosophie.<br />
Zwei Beispiele.<br />
Die Story zum Wein<br />
Drei Brüder stehen am Anfang der<br />
jüngsten Geschichte des Weinguts<br />
Renner im badischen Fessenbach.<br />
Drei Brüder mit einer Passion:<br />
dem Weinbau. Auf 13,5 Hektar Rebfläche<br />
führen sie – gemeinsam mit ihren<br />
Eltern, Seniorwinzer Josef und<br />
Monika Renner – mit ebenso viel Innovationskraft<br />
wie Traditionsbewusstsein<br />
fort, was der Urgroßvater<br />
mehr als 100 Jahre zuvor begann. Das<br />
Ergebnis sind moderne Weine mit einem<br />
ganz eigenen Stil. Rund 50 Jahre<br />
lang hatte Josef Renner Sr. nach dem<br />
Erwerb des Schuckshofs 1912 selbst<br />
Wein an- und ausgebaut. Von 1964 bis<br />
2013 widmeten sich sein Sohn und<br />
Enkel vor allem dem Anbau für die<br />
örtliche Winzergenossenschaft. 2014<br />
folgte der nächste Generationswechsel:<br />
Martin, Mathias und Simon Renner<br />
übernahmen nach einschlägiger<br />
Ausbildung und Praxiserfahrung das<br />
Ruder. Mit den Lagen, dem Boden<br />
Weingut Renner<br />
Lage: Fessenbach (Baden)<br />
Gegründet: 1912 von Josef Renner<br />
Inhaber: seit 2014 Martin, Mathias und Simon Renner<br />
Rebfläche: 13,5 ha<br />
Rebsorten: Spätburgunder 35%, Müller Thurgau 15,5%,<br />
Riesling 13,5%, Ruländer 11,5% und weitere wie Weißer<br />
Burgunder, Silvaner, Sauvignon Blanc, Scheurebe<br />
Rebalter: ø 17 Jahre<br />
Produktionsvolumen 2015: ca. 90.000 Liter Wein<br />
Sortiment: ca. 40 Artikel<br />
Homepage: www.weingut-renner.de<br />
56 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Katrin Wißmann, Weingut Renner, Weingut Philipps Mühle
SPECIAL<br />
Jeder Wein hat eine eigene<br />
Geschichte. Wo kommt er<br />
her, wer hat ihn angebaut,<br />
wie wurde er verarbeitet<br />
und veredelt? Jede Menge<br />
Erzählstoff für Gäste. Weingüter<br />
unterscheiden sich in<br />
Arbeitsweise und Philosophie.<br />
Zwei Beispiele.<br />
Die Story zum Wein<br />
Drei Brüder stehen am Anfang der<br />
jüngsten Geschichte des Weinguts<br />
Renner im badischen Fessenbach.<br />
Drei Brüder mit einer Passion:<br />
dem Weinbau. Auf 13,5 Hektar Rebfläche<br />
führen sie – gemeinsam mit ihren<br />
Eltern, Seniorwinzer Josef und<br />
Monika Renner – mit ebenso viel Innovationskraft<br />
wie Traditionsbewusstsein<br />
fort, was der Urgroßvater<br />
mehr als 100 Jahre zuvor begann. Das<br />
Ergebnis sind moderne Weine mit einem<br />
ganz eigenen Stil. Rund 50 Jahre<br />
lang hatte Josef Renner Sr. nach dem<br />
Erwerb des Schuckshofs 1912 selbst<br />
Wein an- und ausgebaut. Von 1964 bis<br />
2013 widmeten sich sein Sohn und<br />
Enkel vor allem dem Anbau für die<br />
örtliche Winzergenossenschaft. 2014<br />
folgte der nächste Generationswechsel:<br />
Martin, Mathias und Simon Renner<br />
übernahmen nach einschlägiger<br />
Ausbildung und Praxiserfahrung das<br />
Ruder. Mit den Lagen, dem Boden<br />
Weingut Renner<br />
Lage: Fessenbach (Baden)<br />
Gegründet: 1912 von Josef Renner<br />
Inhaber: seit 2014 Martin, Mathias und Simon Renner<br />
Rebfläche: 13,5 ha<br />
Rebsorten: Spätburgunder 35%, Müller Thurgau 15,5%,<br />
Riesling 13,5%, Ruländer 11,5% und weitere wie Weißer<br />
Burgunder, Silvaner, Sauvignon Blanc, Scheurebe<br />
Rebalter: ø 17 Jahre<br />
Produktionsvolumen 2015: ca. 90.000 Liter Wein<br />
Sortiment: ca. 40 Artikel<br />
Homepage: www.weingut-renner.de<br />
56 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
Fotos: Katrin Wißmann, Weingut Renner, Weingut Philipps Mühle
TRADITION<br />
Wir versuchen, mit der<br />
Natur zu arbeiten.<br />
und Rebenwachstum vertraut, waren<br />
sie entschlossen, ihren Sach- und<br />
Fachverstand zu bündeln und ihren<br />
Wein selbst auszubauen. Hierfür<br />
musste allerdings erst die entsprechende<br />
Kellerei geschaffen werden.<br />
Am Ortsrand von Fessenbach – wo<br />
zuvor die Weinstöcke bis zum Wegrand<br />
wuchsen – steht seit Sommer<br />
2014 das rund 1.000 Quadratmeter<br />
große neue Weingut Renner. Hier ist<br />
alles brandneu: die Traubenannahme,<br />
die Edelstahltanks, die Eichenholzund<br />
Barriquefässer, die Etikettiermaschine.<br />
Der Verkaufsraum sowie die<br />
moderne „Weinprobierstube“ mit<br />
Sonnenterrasse sind mit großen Panoramafenstern<br />
ausgestattet, die den<br />
Blick über Reben und Rheintal hinweg<br />
bis ins Elsass freigeben. Die Lage<br />
mitten im Weinberg spiegelt auch die<br />
Naturverbundenheit der Familie wider.<br />
„Wir versuchen, mit der Natur zu<br />
arbeiten“, erklärt Winzermeister<br />
Martin Renner. „Wir verbringen viel<br />
Zeit in den Reben, schauen, was die<br />
Qualität optimal beeinflusst, und versuchen,<br />
so wenig wie möglich mechanische<br />
Belastung auf Trauben und<br />
Wein kommen zu lassen.“ Rebschnitt,<br />
Entblättern, Ausbrechen oder Festbinden<br />
der Triebe – die Arbeiten werden<br />
manuell erledigt. „So werden die<br />
Beeren nicht verletzt und wir können<br />
befallene Trauben direkt entfernen“,<br />
erklärt Martin Renner. Auch die<br />
Weinlese erfolgt komplett per Hand.<br />
Rund zehn verschiedene Rebsorten<br />
Viel Handarbeit ist<br />
erforderlich,<br />
um die hohe Qualität<br />
zu garantieren.<br />
bauen die Renners an. 35 Prozent der<br />
Rebfläche sind Spätburgunder. „Für<br />
mich ist das einer der interessantesten,<br />
da abwechslungsreichsten Weine“, so<br />
Martin Renner. „Er kann leicht oder<br />
schwer, als Rosé, Weißherbst oder<br />
barrique-gereift ausgebaut werden.“<br />
Wie auch bei den übrigen Rotweinen<br />
setzen die Renner-Brüder<br />
beim Spätburgunder auf reine<br />
Maischegärung: „Durch den<br />
langen Kontakt mit den Schalen<br />
werden mehr Gerbstoffe<br />
ausgelöst.“ Folglich ist eine längere<br />
Lagerung in Eichenholzfässern<br />
erforderlich. Das Ergebnis ist ein<br />
kräftiger Wein, samtig-geschmeidig<br />
und dezent am Gaumen.<br />
Martin Renner<br />
und <strong>Transgourmet</strong>-<br />
Weinfachberater<br />
Bastian Ehret im<br />
Weinkeller.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
57
SPECIAL<br />
Tradition pur. Die<br />
Winzerschenke ist<br />
auch heute noch<br />
wichtiges Standbein<br />
des Weinguts.<br />
Das Mittelrheintal ist<br />
berühmt für die<br />
steilen Weinbergsterrassen,<br />
die seit dem Mittelalter<br />
den größten Strom<br />
Deutschlands säumen.<br />
Doch viele von ihnen sind heute verbuscht:<br />
Die Winzer haben die mühselige<br />
Arbeit am Steilhang aufgegeben.<br />
Nicht so Thomas und Martin Philipps.<br />
Die Jungwinzer sind entschlossen,<br />
das Weltkulturerbe zu erhalten.<br />
Mit Leidenschaft und fundiertem<br />
Fachwissen führen sie professionell<br />
fort, was Urgroßvater, Großvater und<br />
Vater als Nebenerwerb begannen.<br />
Denn ursprünglich wurde in der am<br />
Fuße der St. Goarer Weinbergshänge<br />
gelegenen Philipps-Mühle Mehl gemahlen.<br />
Allerdings diente bereits seit<br />
den 20er Jahren eine Straußwirtschaft<br />
Wieder zurück zu den<br />
Ursprüngen.<br />
dem Verkauf des auf 0,3 Hektar privat<br />
angebauten Weins. 2015 stellte Josef<br />
Philipps, der Vater der Winzerbrüder,<br />
den Mühlenbetrieb endgültig ein.<br />
„Das Müllerhandwerk hat keine Zukunft“,<br />
so sein Fazit. Der Fokus der<br />
Familie gilt seither dem Weinbau.<br />
5Hektar Rebfläche bearbeiten Martin<br />
und Thomas Philipps heute in St.<br />
Goar und Umgebung. In den kommenden<br />
fünf bis zehn Jahren wollen<br />
sie die Anbaufläche verdoppeln. Viele<br />
der Steilhänge, die sie von ehemaligen<br />
Winzern gekauft oder gepachtet haben,<br />
lagen brach und mussten rekultiviert<br />
werden – bei Hängen mit bis zu<br />
70 Prozent Steigung ein echter Knochenjob:<br />
„Wir haben die verbuschten<br />
Flächen freigeräumt, alte Pfähle und<br />
Drähte entfernt und<br />
durch neue ersetzt,<br />
den Boden umge-<br />
58 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016
Weingut Philipps-Mühle<br />
Lage: St. Goar (Rheinland-Pfalz)<br />
Gegründet: Weinbau im Nebenerwerb seit 1920,<br />
seit 2007 im Vollerwerb<br />
Inhaber: seit 2005 Thomas und Martin Philipps<br />
Rebfläche: aktuell 5 ha<br />
Rebsorten: Riesling 80%, Müller-Thurgau 15%,<br />
Weißburgunder 5%<br />
Rebalter: ø 20 - 25 Jahre<br />
Produktionsvolumen 2015: ca. 25.000 Liter<br />
Sortiment: 11 Artikel<br />
Auszeichnung: Bester Jungwinzer Mittelrhein 2016<br />
Homepage: www.philipps-muehle.de<br />
pflügt und hochwertige Rebklone gesetzt“,<br />
erläutert Winzer Thomas Philipps.<br />
Auch in puncto Begrünungsmanagement<br />
folgen die Brüder neuesten<br />
Erkenntnissen. Rebschnitt, Biegen,<br />
Ausbrechen am Stamm, Heftarbeiten<br />
und schließlich die Traubenlese – die<br />
steilen Hänge erfordern viel Handarbeit.<br />
„Nach zwei bis vier Jahren bringen<br />
rekultivierte Flächen erste nennenswerte<br />
Erträge“, so die Winzer.<br />
Der Einsatz lohnt sich: „Der Schieferverwitterungsboden<br />
in unserer Region<br />
ist einzigartig und bringt Weißweine<br />
mit einer ganz besonderen Mineralität<br />
und Tiefe hervor.“ Auch die Lagen<br />
und Steilhänge liefern optimale<br />
Bedingungen für große Weine. Der<br />
örtlichen Tradition entsprechend<br />
bauen die Philipps-Brüder 80 Prozent<br />
Riesling an, 15 Prozent sind Müller-<br />
Schmeckbare Qualität<br />
ohne Kompromisse.<br />
Thurgau, 5 Prozent Weißburgunder.<br />
Die Qualitätspyramide reicht von<br />
Gutsweinen der Reihe „Steilhang“ bis<br />
hin zu Spitzenweinen aus Einzellagen<br />
(alle QbA). „Wir versuchen, die Lagenunterschiede<br />
schmeckbar zu machen“,<br />
sagt Thomas Philipps. Dabei<br />
gilt für jeden Wein das Gebot: Qualität<br />
ohne Kompromisse! Eigens für<br />
<strong>Transgourmet</strong> wurde die „Loreley<br />
Cuvée weiß“ entwickelt: „Sie verbindet<br />
die Mineralität des Rieslings mit<br />
der Kraft, Fülle und Komplexität des<br />
Weißburgunders“, so <strong>Transgourmet</strong>-<br />
Weinfachberater Sven Lieba. „Das<br />
Ergebnis ist ein fruchtig-frischer und<br />
spritziger Wein mit Tiefgang.“<br />
Die Winzerschenke mit begrünter<br />
Schiefersteinterrasse, seit 1990 eine<br />
halbjährig geöffnete Gastronomie, ist<br />
weiterhin ein wichtiges Standbein,<br />
um Privatkunden anzuziehen. Mit<br />
Blick auf die steilen Rebhänge des St.<br />
Goarer Ameisenbergs und das Rauschen<br />
des unterhalb fließenden Mühlenbachs<br />
in den Ohren können die<br />
Gäste hier die von Mutter Christel<br />
zubereiteten Speisen mit den kühlen<br />
Begleitern aus dem Weinkeller genießen.<br />
Als Nächstes gilt es, mehr Platz<br />
für den Ausbau der Weine zu schaffen:<br />
Eine neue Kellerei ist bereits in<br />
Planung.<br />
Katrin Wißmann<br />
Im Jahr 2010 hat<br />
die Familie direkt<br />
am Rheinufer eine<br />
stylische Vinothek<br />
mit Weincafé<br />
eröffnet.<br />
Thomas Philipps,<br />
<strong>Transgourmet</strong>-Weinfachberater<br />
Sven<br />
Lieba und Martin<br />
Philipps bei der<br />
Weinverkostung.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
59
SPECIAL<br />
Die grüne Insel – so kennen wir alle Irland. Hier<br />
entstand vor vier Jahren die staatlich geförderte<br />
Initiative Origin Green. Ihr Ziel: Irlands gesamte<br />
Landwirtschaft sowie die weiterverarbeitende<br />
Industrie einzubinden in ein einzigartiges, der<br />
Irlands<br />
couragierte Initiative<br />
Nachhaltigkeit verpflichtetes Programm.<br />
Die Ziele sind ambitioniert. Alle<br />
beteiligten Erzeuger und Verarbeiter<br />
verpflichten sich, ihren Beitrag<br />
zur Reduzierung des Carbon Footprint,<br />
also des CO2-Fußabdrucks, zu<br />
leisten. Allein knapp 80 Prozent der<br />
irischen Farmbetriebe sind schon dabei,<br />
ebenso wurden mehr als 500 weiterverarbeitende<br />
Betriebe mit dem<br />
Origin-Green-Label ausgezeichnet.<br />
Von diesen repräsentieren 180 Unternehmen<br />
mehr als 85 Prozent der<br />
F&B-Exporte Irlands. Es geht um gezielte<br />
Image-Arbeit zugunsten der<br />
Absatzförderung irischer Agrarprodukte,<br />
klar, sagt Mark Zieg von Bord<br />
Bia – The Irish Food Board. Die Organisation<br />
ist federführend bei der Umsetzung<br />
des Projekts Origin Green.<br />
Besonders die Distributionspartner,<br />
vor allem im Export, fordern mehr<br />
denn je Glaubwürdigkeit in Sachen<br />
Nachhaltigkeit, Rückverfolgbarkeit,<br />
Tierwohl und Umweltverträglichkeit<br />
ein, bestätigt der Sector Manager Beef<br />
bei Bord Bia. „Unsere Landwirtschaft<br />
Viel Engagement für<br />
Nachhaltigkeit.<br />
ist weitestgehend extensiv – nicht auf<br />
Hochleistung getrimmt, sondern im<br />
rücksichtsvollen Einklang mit der Natur.<br />
Irland verfügt über optimale Bedingungen<br />
für Viehzucht und Milchwirtschaft,<br />
das hat seinen Grund im<br />
Klima und der Bodenbeschaffenheit,<br />
die anderweitige Nutzung nicht begünstigt.<br />
Zum Weideland gibt es in Irland<br />
keine bessere Alternative!“ Nun<br />
steht aber das Stichwort CO2-Fußabdruck<br />
im Raum. Rindfleischerzeugung<br />
per se steht bekanntlich in der<br />
Kritik, hier allzu hohe Spuren zu hinterlassen<br />
– zulasten der Umwelt. Genau<br />
da setzt die Initiative Origin<br />
Green an, entwickelt von Bord Bia zusammen<br />
mit Teagasc, der irischen Behörde<br />
für Landwirtschaftsentwicklung<br />
und -beratung, sowie dem Britischen<br />
Carbon Trust. Die weltweit<br />
führende Initiative verpflichtet alle<br />
teilnehmenden Lebensmittelproduzenten<br />
dazu, sich bei einem nachhaltigen<br />
Entwicklungsprogramm zu engagieren.<br />
„Während wir sicher sind, dass<br />
Rinderzucht das Beste ist, was wir mit<br />
unserem Agrarland anfangen können,<br />
wollen wir die Erzeuger und Weiterverarbeiter<br />
abholen, um Nachhaltigkeitspotenziale<br />
maximal auszuschöpfen.<br />
Und dies mit belastbaren Daten<br />
untermauern“, so Mark Zieg. Erklärtes<br />
Ziel ist, den Carbon Footprint der<br />
Fotos: Bord Bia, Marianne Wachholz
KONZEPT<br />
Unterstützung durch<br />
Berater bei Saatgut.<br />
irischen Landwirtschaft mittels einer<br />
Vielzahl von unterstützenden Maßnahmen,<br />
Kontroll- und Feedback-<br />
Mechanismen nachweislich bis gegen<br />
null zu minimieren. Basis ist ein wissenschaftlich<br />
erarbeitetes Berechnungsmodell<br />
für die CO2-Bilanz der<br />
Rindfleischerzeugung in Irland.<br />
Die Rinder sollen weiter vorwiegend<br />
in freier Natur aufwachsen, sich von<br />
Gras ernähren. Doch da geht es schon<br />
los. Optimierung der Weideflächen<br />
steht im Fokus: Grassland Management.<br />
„A key efficiency subject“, betont<br />
Zieg. Je besser die Ernährungsressourcen<br />
auf gegebener Fläche, desto<br />
vorteilhafter für den Erzeuger. Also<br />
unterstützen landwirtschaftliche Berater<br />
die Farmer zum Beispiel bei der<br />
Auswahl des Saatguts. Nicht minder<br />
wichtig: die Verlängerung der Weidedauer.<br />
Denn sobald die Tiere im Stall<br />
stehen, ist Zufütterung angesagt, und<br />
das geht nicht nur ins Geld, sondern<br />
ist auch der Fleischqualität abträglich.<br />
Die Tiere sollen<br />
möglichst wenig<br />
Stress erfahren,<br />
was der Fleischqualität<br />
sehr<br />
zugute kommt.<br />
Neben der selbst erzeugten Silage geht<br />
es nicht ohne Zukauf von Futtermitteln<br />
ab, unter anderem Mais, der in Irland<br />
selbst nicht in ausreichender<br />
Menge angebaut wird. Wieder ein<br />
Faktor, der sich auch auf die Berechnung<br />
des Carbon Footprint auswirkt<br />
–in diesem Fall eben negativ.<br />
Ein weiteres Optimierungsfeld, dem<br />
inzwischen besonders viel Aufmerksamkeit<br />
gewidmet wird: „Maximise<br />
Der Angusfarmer<br />
Mit etwa 100 ha Weidefläche und einem Bestand von<br />
derzeit 126 Mutterkühen ist Louis Pentony schon einer der<br />
größeren Farmer, gemessen am Durchschnitt in Irland – der<br />
liegt bei ca. 40 Hektar. Louis hat sich auf Angusrinder<br />
<strong>spezial</strong>isiert, sie machen 75 Prozent des Bestands aus, der<br />
Rest sind Hereford-Rinder. Louis‘ Tiere wachsen zu mehr als<br />
95 Prozent mit Grasfütterung auf. Die Zucht der schnell<br />
wachsenden, hochwertigen Rinderrasse – so teuer Edelteile<br />
vom Angus in Handel und Gastronomie auch verkauft<br />
werden – ist für den Farmer indes kein sonderlich lukratives<br />
Unterfangen. „Es ist ein finanzieller Kraftakt, unseren<br />
Kindern eine ordentliche Schulausbildung zu ermöglichen.“<br />
Louis bewirtschaftet die Farm gemeinsam mit seiner<br />
Ehefrau. Die Arbeitstage sind lang. Der Betrieb wirft nicht<br />
genug ab, um einen Stellvertreter zu beschäftigen. Die<br />
Reduzierung des Carbon Footprint ist aus Louis‘ Perspektive<br />
ein begrüßenswerter Nebeneffekt aller Maßnahmen zur<br />
Effizienzverbesserung im Rahmen von Origin Green. Mitglied<br />
der Initiative – wie auch des umfassenden Beef-<br />
Quality-Assurance -Programms – ist er von Anfang an. „Das<br />
braucht man, um als zertifizierter Angus-Erzeuger registriert<br />
zu sein.“ Und auf die Zertifizierung legen viele Abnehmer<br />
Wert. www.angusproducergroup.com/consumer-info<br />
Mark Zieg, Sector<br />
Manager Beef<br />
bei Bord Bia, und<br />
Farmer Louis<br />
Pentony.<br />
Genomics!“ Soll heißen, Zuchtoptimierung.<br />
Statt Augenschein wie früher<br />
– nach dem Motto: Ein sichtlich<br />
gesundes, leistungsstarkes Muttertier<br />
wird schon guten Nachwuchs bringen<br />
–erlauben heute DNA-Analysen die<br />
Ermittlung zuchtrelevanter Erbanlagen<br />
und die wissenschaftlich fundierte<br />
Auswahl, je nach Zielsetzung: Sollen<br />
die Kälber eher auf die Milchleistung<br />
hin gezüchtet werden oder mit<br />
Leckerer Käse des<br />
Familienunternehmens<br />
Cashel<br />
Farmhouse Cheesemakers,<br />
hergestellt<br />
in Tipperary. Der<br />
Blauschimmelkäse<br />
heißt Cashel Blue.<br />
2016 | gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong><br />
61
SPECIAL<br />
KONZEPT<br />
Hochwertiger Blue<br />
Cheese, der auch<br />
in Bio-Qualität<br />
hergestellt wird.<br />
Blick aufs Fleischwachstum? Oder<br />
steht die Fortpflanzungsleistung im<br />
Vordergrund? Auch dieses Verfahren<br />
–das nationale Beef Genomics and<br />
Data Programme, kurz BGDP –<br />
bringt, konsequent angewendet, effizientere<br />
Ergebnisse. Für den Landwirt<br />
und für die Umwelt.<br />
Den Landwirten das Thema Nachhaltigkeit<br />
schmackhaft zu machen,<br />
sie zum Mitmachen beim Programm<br />
Die Farmhouse-Käserei<br />
Das Familienunternehmen, Vorreiter in Sachen Farmhouse<br />
Cheese in Irland, wurde nach 18-monatiger Prüfung<br />
erst kürzlich ins Origin-Green-Programm aufgenommen. Seit<br />
Anfang der 80er Jahre stellt Cashel Farmhouse Cheesemakers,<br />
zu Hause in Beechmount in Tipperary, ausschließlich<br />
hochwertigen Blue Cheese in verschiedenen Versionen<br />
her, darunter auch eine herausragend gelungene Bio-Sorte.<br />
Der Blauschimmelkäse: ein Novum dort, wo Käse meistens<br />
Cheddar hieß und heißt.<br />
Nische in der Nische. Farmhouse-Käse macht bis heute<br />
lediglich rund ein Prozent der gesamten irischen Käseproduktion<br />
aus. Rund 30 Prozent der Cashel-Farmhouse-<br />
Cheesemakers-Erzeugnisse landen im Foodservice-Bereich,<br />
schätzt Sarah Furno, die mit Ehemann Sergio das Unternehmen<br />
leitet. Was die Unternehmer bewogen hat, sich um die<br />
Aufnahme ins Origin-Green-Programm zu bewerben? „Nachhaltigkeit<br />
liegt uns am Herzen. Doch mithilfe von Origin<br />
Green können wir das Thema strukturierter verfolgen!<br />
Messbarer. Und dass wir das Label dann nutzen dürfen, ist<br />
außerdem ein gutes Vermarktungsargument.“<br />
www.cashelblue.com<br />
Origin Green zu gewinnen, gelingt<br />
nur, wenn sich das Engagement für<br />
sie auch in Heller und Pfennig auszahlt,<br />
erklärt Zieg. „Genau dies erreichen<br />
wir mit unserem umfangreichen<br />
Supportprogramm. Es geht um<br />
Effizienzsteigerung, um Kostenreduzierung<br />
und letztlich auch darum,<br />
den bäuerlichen Nachwuchs zu halten.<br />
Sustainability hat neben der<br />
ökologischen auch eine wirtschaftliche<br />
Dimension.” Denn anderswo als<br />
in der Landwirtschaft verdient man<br />
sein Geld in Irland sehr viel leichter<br />
und mit geregelten Arbeitszeiten<br />
obendrein. Erst jüngst hat sich der jahrelange<br />
Trend gedreht, dass die nachfolgende<br />
Generation der Farmer sich<br />
immer häufiger beruflich anderweitig<br />
orientiert hat, statt die Nachfolge im<br />
elterlichen Betrieb anzutreten. „Sicherstellen,<br />
dass jeder davon profitiert:<br />
Auch das haben wir mit Origin Green<br />
im Sinn!“ Ziel ist, für die an Origin<br />
Green beteiligten Rindfleischfarmer<br />
Umfangreiches<br />
Reporting-Programm.<br />
einen Deckungsbeitrag von jährlich<br />
1.000 Euro pro Hektar zu erreichen.<br />
Die Regel bisher sind lediglich 260 bis<br />
500 Euro pro Hektar.<br />
Und wie funktioniert das Ganze nun<br />
genau? Jetzt wird es etwas bürokratisch.<br />
Das Origin-Green-Programm<br />
wurde integriert in ein bereits existierendes<br />
Quality-Assurance-Programm<br />
für die irische Landwirtschaft. Im<br />
Rahmen dieses Programms wurde ein<br />
umfangreiches Reporting-System für<br />
die beteiligten Farmer entwickelt.<br />
Der Fleischverarbeiter<br />
Kepak ist Irlands Nummer 3 in Sachen Rindfleischverarbeitung<br />
mit diversen Schlachtereien und Produktionsstätten<br />
auf der Insel – und Gründungsmitglied der Initiative<br />
Origin Green. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Clonee<br />
schlachtet, zerlegt und exportiert in mehr als 30 Länder:<br />
frisches Rindfleisch, Burger Patties, TK-Produkte, auch<br />
Lammfleisch. Speziell für den Foodservice-Bereich werden<br />
Steak Cuts in Handarbeit präpariert, hauptsächlich Angus<br />
und Hereford. Allein den Produktionsstandort in Clonee<br />
bedienen 5.000 Erzeuger mit meist kleinteiligen Lieferungen,<br />
manchmal nur einige wenige Tiere.<br />
„Die Initiative Origin Green ist für uns ein wichtiges<br />
Statement in Sachen nachhaltiges Wirtschaften – from Farm<br />
to Fork“, sagt Sorcha Donnelly, Sales Manager, Kepak Meat<br />
Division. Das Label untermauert gegenüber den Marktpartnern<br />
bis hin zum Endverbraucher eingängig die Botschaft,<br />
dass Fleisch aus Irland unter optimalen Umweltbedingungen<br />
produziert wird. www.kepak.com
KONZEPT<br />
Origin Green bringt nun zusätzlich<br />
das sogenannte Farm Carbon Navigator<br />
Tool ins Spiel. In sechs Dimensionen<br />
– von Gülle-Management<br />
über Düngemittel-Einsatz bis zur<br />
Gewichtszunahme der Kälber, der<br />
Weidedauer oder der Trächtigkeitsrate<br />
– wird die individuelle Performance<br />
der jeweiligen Farm ermittelt<br />
Schon mehr als 100<br />
unabhängige Auditoren.<br />
und im Verhältnis zum regionalen<br />
Durchschnitt eingestuft. Mehr als<br />
100 unabhängige Auditoren sind<br />
heute schon täglich unterwegs, um<br />
den Bauern hier zur Seite zu stehen,<br />
wöchentlich werden 800 Farmen auditiert.<br />
Eingebunden in das Origin-<br />
Green-Projekt sind neben den Erzeugern<br />
auch Weiterverarbeiter wie<br />
Käsereien, Schlachtereien und<br />
Fleischfabriken, sogar Whiskey-<br />
Brennereien. Die Unternehmen definieren<br />
ihre Maßnahmen in Sachen<br />
Nachhaltigkeit individuell, verpflichten<br />
sich aber zur Einlösung<br />
konkreter Ziele.<br />
Damit nicht genug, wollen die Initiatoren<br />
im Heimatland künftig<br />
Bord Bia<br />
Bord Bia – The Irish Food Board,<br />
vertritt die Interessen des irischen<br />
Agrarsektors und der weiterverarbeitenden<br />
Industrie. Zentrales<br />
Anliegen ist die Imageförderung<br />
irischer F&B-Produkte sowie die<br />
Unterstützung der Produzenten in<br />
Sachen Nachhaltigkeit und Qualität.<br />
Bord Bia ist mit Niederlassungen in<br />
zahlreichen Metropolen weltweit<br />
vertreten. www.bordbia.ie<br />
Teelling ist eine<br />
Destillerie zum<br />
Anfassen.<br />
Projekt mit Spitzenköchen<br />
aus Europa.<br />
Die Whiskey-Destillerie<br />
Im Premium-Segment macht in jüngster Zeit die Teeling<br />
Whiskey Company auf sich aufmerksam. Eine Destillerie<br />
zum Anfassen, eröffnet vor gut einem Jahr in einem ehemaligen<br />
Industrieviertel in Dublin. Zwei engagierte junge<br />
Unternehmer, drei Jahre Umbauzeit, ein Investment von<br />
10,5 Mio. Euro. Und eine Destination, die den Besuch lohnt.<br />
Da wird Whiskey gebrannt, doch drum herum haben die<br />
Macher eine Event-Location kreiert, die vergangenes Jahr<br />
stattliche 65.000 Besucher anzog. Marketingfrau Rebecca<br />
Bell: „Im Rahmen des Origin-Green-Programms verpflichten<br />
wir uns dazu, mindestens 75 Prozent aller Rohstoffe von<br />
nachhaltig produzierenden Erzeugern zu beziehen – Stichwort<br />
‚sustainable sourcing‘. Und optimieren unseren Carbon<br />
Footprint durch ein state-of-the-art-Wärmerückgewinnungssystem<br />
– Sustainable Production.“ www.teelingwhiskey.com<br />
auch Einzelhandel und Foodservice<br />
in das Projekt integrieren. Stolz ist<br />
man darauf, dass just McDonald’s<br />
Irland dem Origin-Green-Programm<br />
beigetreten ist. „Jeder fünfte<br />
Patty für McDonald’s in Europa<br />
kommt übrigens aus Irland“, merkt<br />
Andrew Mullins an, Origin-Green-<br />
Nachhaltigkeitsmanager bei Bord<br />
Bia, und verweist mit Genugtuung<br />
darauf, dass auch der World Wildlife<br />
Fund sich als ein Top-Partner zu<br />
Origin Green bekennt. Jetzt heißt<br />
die große Aufgabe nicht nur, in der<br />
Heimat immer mehr, möglichst<br />
auch breitschultrige Mitmacher für<br />
das Projekt zu gewinnen. Sondern<br />
vor allem auch, das Label Origin<br />
Green und wofür es steht in erster<br />
Linie jenseits der Grünen Insel bekannt<br />
zu machen. Storytelling! Ein<br />
Vorzeige-Projekt ist der Chefs‘ Irish<br />
Beef Club. Mehr als 80 Spitzenköche<br />
in acht Ländern Europas machen<br />
sich stark für irisches Rindfleisch<br />
– in ihren eigenen Restaurants<br />
und bei allen möglichen<br />
Events. Allein aus Deutschland sind<br />
zwölf renommierte Köche dabei<br />
und helfen, die Awareness für nachhaltig<br />
erzeugte Qualitätsprodukte<br />
made in Ireland zu stärken.<br />
Marianne Wachholz