Transgourmet Spezial Mehrwert - spezial_mehrwerte_2016.pdf
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SPECIAL<br />
INTERVIEW<br />
Auch der Streetfood-Hype illustriert ein wachsendes Interesse<br />
junger Leute an handwerklich hergestelltem Essen<br />
und Trinken ...<br />
Lemke: Dieses Phänomen sehe ich eher unter der Überschrift<br />
„Feinschmecker/Gourmet“. Man interessiert sich<br />
für Zubereitungsformen, Kochgerätschaften, Rezepturen.<br />
Ja sogar so intensiv, dass sich das ganze Leben darum dreht<br />
und man den ganzen Tag nur Bier braut oder an anderen<br />
Delikatessen werkelt. Der Gourmet macht ähnlich wie der<br />
Gastronom das Essen zum beruflichen Vollzeitjob beziehungsweise<br />
zum existenziellen Lebensschwerpunkt.<br />
Welche Bevölkerungsgruppen und Institutionen sehen<br />
Sie als Schrittmacher?<br />
Lemke: Es sind alle Beteiligten gefragt – die Konsumenten,<br />
die Politiker und die Wirtschaftsakteure. Natürlich ist es<br />
aus Kostengründen für manche Haushalte schwierig, auf<br />
Fair Trade oder Bio umzustellen. Aber man kann sich auch<br />
besser ernähren, indem man nur manches austauscht, etwa<br />
eine Tüte Chips gegen einen selbstgemachten Snack, der<br />
weniger kostet. Wichtig sind auch die Lebensmittelproduzenten,<br />
von denen viele umzudenken<br />
beginnen und auf andere Produktionsmethoden<br />
umstellen. Außerdem<br />
die Politik, die man bewegen<br />
müsste, die Ernährungswende<br />
ähnlich programmatisch anzugehen wie die Energiewende.<br />
Mit dem Unterschied, dass eine bessere Esskultur eine weit<br />
umfassendere, zukunftsethische Aufgabe ist.<br />
Die vegan-vegetarische Bewegung erhält zurzeit viel Zulauf<br />
von Menschen.<br />
Lemke: Ein beachtliches Phänomen. Aber es stellt sich die<br />
Frage, ob die Präsenz in den Medien die Bewegung nicht<br />
größer erscheinen lässt, als sie ist. Nicht bewusst – sondern<br />
weil Medienmacher oft Akademiker sind und selbst an einer<br />
besseren Esskultur interessiert sind. Positiv an dem Hype<br />
ist, dass sich die Öffentlichkeit mit Ernährung auseinandersetzt,<br />
gesundheitlicher wie politischer Art.<br />
16 gv-praxis |food-service |<strong>Transgourmet</strong> | 2016<br />
„Man müsste die Ernährungswende<br />
ähnlich angehen wie die Energiewende.“<br />
Und der typische Gastrosoph? Wie sieht dessen Tag aus?<br />
Lemke: Er verwendet nur einen Teil seines täglichen Tuns<br />
auf Essen und Ernährung. Ähnlich wie Immanuel Kant<br />
lädt der ideale Gastrosoph möglichst täglich Freunde zu<br />
Tischgesellschaften ein. Man kocht zusammen, baut vielleicht<br />
auch noch selbst Obst und Gemüse an. Das ist ein<br />
menschenwürdiger Lebensinhalt, der nicht nur für sich allein<br />
lustvoll Gutes verspricht, sondern auch noch den Planeten<br />
rettet. Derartige Tischgesellschaften wären Keimzellen<br />
für eine wahre Humanität! Wie eine Sonne der humanen<br />
Werte könnte dieser gemeinsame Lebensgenuss ausstrahlen<br />
in viele Bereiche der Gesellschaft: die Wirtschaft,<br />
das Gesundheitssystem, Bildungsinstitutionen. Zwischen<br />
Genussfähigkeit und Intelligenz entstünde eine Wechselwirkung<br />
– Platons Welt- und Menschenbild, das die philosophischen<br />
Grundlagen für unsere Fast-Food-Zivilisation<br />
schuf, würde abgelöst. Bis es dazu kommt, vergehen<br />
vermutlich noch 100 bis 200, vielleicht sogar 2000 Jahre.<br />
Was können Gastronomen und Großverpfleger bewegen?<br />
Welchen Rat geben Sie unseren Lesern?<br />
Lemke: Erzählen Sie Geschichten! Wir können davon ausgehen,<br />
dass die Konsumenten sehr wohl bereit sind, ein wenig<br />
mehr von ihrem Wohlstand für gutes Essen auszugeben.<br />
Dem Thema Zeit und Wertschätzung widmen. Hintergründe<br />
verraten etwas über die Herkunft von Zutaten,<br />
ihre Besonderheiten, Details der Zubereitung und Beschaffung.<br />
Nicht aufgeregt oder<br />
aufdringlich, sondern in einem<br />
Modus, der dem Konsumenten<br />
den höheren Preis verständlich<br />
macht. Dann fühlt dieser sich<br />
nicht belehrt, sondern erkennt die Ernsthaftigkeit der Absicht.<br />
Raumgestaltung und Pausenregelung sollten ebenfalls<br />
Wertschätzung zum Ausdruck bringen, nicht nur gegenüber<br />
dem Mitarbeiter, sondern auch gegenüber dem Essen.<br />
Hervorragend wäre es, wenn in Unternehmen Mitarbeiter<br />
selber kochen könnten. Inzwischen werden für viel<br />
Geld bei externen Veranstaltern Kochkurse als Gemeinschaftsevent<br />
für die Belegschaft gebucht. Warum ermöglicht<br />
man Ähnliches nicht jeden Tag im eigenen Betrieb?<br />
Oder inszeniert Meetings als Tischgesellschaften ...?<br />
Lemke: Natürlich! In diesem Kontext lässt sich noch sehr<br />
viel experimentieren.<br />
Interview: Ulrike Vongehr