Transgourmet Spezial Mehrwert - spezial_mehrwerte_2016.pdf
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INTERVIEW<br />
Harald Lemke<br />
Der 1965 in Baden-Württemberg geborene Professor der Philosophie lehrt an den<br />
Universitäten in Hamburg und Salzburg und ist Gastprofessor in Shanghai und<br />
Kyoto sowie an der Slow-Food-Universität in Pollenzo. In Österreich leitet Harald<br />
Lemke das von ihm ins Leben gerufene Internationale Forum Gastrosophie<br />
(www.gastrosophie.net). Diese wissenschaftliche <strong>Spezial</strong>disziplin beschäftigt sich<br />
mit Essen in seiner ganzheitlichen Form – politische, gesundheitliche, soziale<br />
Aspekte inklusive. In zahlreichen Büchern und anderen Publikationen engagiert<br />
sich Lemke für eine verantwortungsvolle Esskultur ohne Massentierhaltung und<br />
Billigprodukte.<br />
hand von vorher ausgewählten Rezepten auf das<br />
Gramm genau konfektioniert. Sprich: Man bekommt<br />
im Paket nur geliefert, was als Zutat gebraucht wird.<br />
Entspricht das eher dem gastrosophischen Ideal?<br />
Lemke: Für mich ist das ein Beispiel für eine neue Spezies<br />
von Food-Entrepreneurship vor dem zeitgeschichtlichen<br />
Hintergrund wachsender Flexibilisierung und Individualisierung.<br />
Solche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen,<br />
ist sicherlich eine Möglichkeit, bestimmte<br />
Lebensstile zu optimieren.<br />
Aber ist es denn sinnvoll, sich<br />
sein Leben so einzurichten, dass für<br />
den Anbau von Lebensmitteln, für<br />
Einkaufen und Kochen zu wenig Zeit bleibt? Schließlich<br />
haben wir in unserer Gesellschaft noch nie so viel freie Zeit<br />
zur Verfügung gehabt wie heute.<br />
„Unser Essverhalten ist derzeit<br />
das größte globale Problem.“<br />
Wie ist es aus Ihrer Sicht um das Ernährungsverhalten<br />
der Deutschen bestellt?<br />
Lemke: Nicht gut. Denn Essen und Trinken werden als<br />
Teil des eigenen Lebens so weit wie möglich zur Nebensache<br />
gemacht – auf alle Fälle muss es schnell gehen und<br />
möglichst billig sein. Statistiken belegen, dass es in der Hinsicht<br />
nicht wirklich Veränderungen gibt, obwohl sich in<br />
den Medien eine größere gesellschaftliche Hinwendung<br />
zum Thema beobachten lässt und auch eine verstärkte<br />
Wertschätzung. Die Realität aber hinkt hinter dieser Zuschreibung<br />
her. Allerdings bin ich optimistisch, dass sich<br />
diese Diskrepanz verringern wird.<br />
Warum?<br />
Lemke: Jeden Tag wächst das Problembewusstsein für die<br />
mit unserem Ernährungsstil verbundenen Folgeerscheinungen<br />
– Massentierhaltung, Monokulturen in der Landwirtschaft,<br />
ernährungsbedingte Erkrankungen. Unser Essverhalten<br />
bildet die Schnittstelle, an der wir Menschen am<br />
unmittelbarsten mit der Natur interagieren – derzeit das<br />
global größte gesellschaftliche Problem! Denn angesichts<br />
der rasant wachsenden Weltbevölkerung können wir uns<br />
ineffiziente Produktionsmethoden und Unmengen weggeworfener<br />
Lebensmittel nicht mehr leisten. Noch vor<br />
zehn Jahren waren volle Supermarktregale ein wichtiger<br />
Faktor für den sozialen Frieden, demonstrierten die Leistungsfähigkeit<br />
unserer Volkswirtschaft; das Schlaraffenland<br />
– uralter Menschheitsmythos – war Realität. Jetzt bekommen<br />
wir genau dafür die Rechnung präsentiert.<br />
Wie erklären Sie sich, dass Eltern für ein Happy Meal bei<br />
McDonald's 5 Euro ausgeben, sich aber über den Preis<br />
von 3,50 Euro für eine Mittagsmahlzeit in der Schulmensa<br />
beschweren?<br />
Lemke: Unser Wertesystem folgt immer noch der Lehre<br />
Platons, wonach der Mensch als Homo sapiens in erster<br />
Linie Geist ist und der Körper und sein Nahrungsbedürfnis<br />
bloßes Anhängsel. Buddhistisch oder taoistisch beeinflusste<br />
Kulturen kennen diesen Dualismus und diese Geringschätzung<br />
nicht und messen dem Essen als wesentlichem<br />
Teil des menschlichen Lebens einen höheren Stellenwert<br />
zu. In unserer westlichen Kultur aber reicht angeblich für<br />
gutes Essen das Geld nicht, während man für Konzerte,<br />
Fußballspiele und Autos tief in die Tasche greift. Hier geht<br />
es um Fragen der Lebensqualität und um ein neues Bewusstsein<br />
– das sind zentrale Aufgaben der Gastrosophie.<br />
Wie wird man denn zum Gastrosophen?<br />
Lemke: Man muss unterscheiden zwischen Gastrosophie<br />
als universitärer Disziplin und der<br />
sozialen Bewegung. Denn man<br />
muss nicht Gastrosophie studieren,<br />
um Gastrosoph zu werden.<br />
Das kann vielmehr jeder – jeder<br />
Konsument, aber auch jedes Unternehmen, einfach indem<br />
man dem Thema Essen eine gelebte Wertschätzung entgegenbringt<br />
und die zahlreichen gesellschaftlichen Zusammenhänge,<br />
die damit verbunden sind, ernst nimmt. Wenn<br />
ich als Konsument und als Bürger Verantwortung übernehmen<br />
will, kann ich das beim täglichen Essen jederzeit.<br />
Ich kann zwar das Gesamtproblem nicht auf einmal lösen.<br />
Wohl aber kleine Impulse setzen in die richtige Richtung.<br />
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