12.12.2012 Aufrufe

Rundbrief 1-2010 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit

Rundbrief 1-2010 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit

Rundbrief 1-2010 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Preis nicht nur einer Linsentrübung des Auges, sondern<br />

einer bewussten Wahrnehmungsverweigerung, um das<br />

aus linker Sicht weltwichtige Experiment, eine Utopie zu<br />

realisieren, freundlich zu begleiten, was denen im Osten<br />

als zynischer Snobismus erscheinen musste, aus komfortablem<br />

Abstand zu betrachten, ob und wie die Versuchspersonen<br />

das Experiment überstanden. Nach dem<br />

Untergang des sowjetischen Imperiums und der Epochen-<br />

Illusion auch im Westen, sucht man nun den treffenden<br />

Begriff Diktatur mit mildernden Epitheta zu schönen. So<br />

etwa fand Günter Grass, die DDR sei eine „kommode“<br />

Diktatur gewesen. Ihm und allen, die das auch gern glauben<br />

möchten, empfehle ich so freundlich wie dringlich<br />

einen tiefen Blick ins offene Archiv der DDR-Verbrechen,<br />

und wenn sie nach der Kenntnisnahme der 43.000 Toten<br />

der Speziallager nach 1945, den Zahlen und Schicksalen<br />

der politischen Häftlinge, der im stalinistischen<br />

Gulag Verschwundenen, der in der Aktion „Ungeziefer“<br />

Zwangsumgesiedelten, der willkürlich Enteigneten und<br />

zwangsadoptierten Kinder, wenn sie nach der Lektüre<br />

der massenhaften Spitzelberichte, Verhörprotokolle und<br />

Gerichtsakten, des Missbrauchs von Minderjährigen als<br />

Inoffi zielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, der detaillierten<br />

Maßnahmepläne zur psychischen Vernichtung<br />

(„Zersetzung“ genannt), der Berichte über erschossene<br />

Mauerfl üchtlinge mit den buchhalterischen Anmerkungen<br />

über den zu hohen Munitionsverbrauch pro Tötung oder<br />

der fertigen Pläne <strong>für</strong> die Isolierungslager Ende der achtziger<br />

Jahre, den minutiös und namentlich festgelegten<br />

Verhaftungslisten nebst Einsatzort, Uhrzeit, Anzahl und<br />

Bewaffnung der Häscherkommandos noch immer meinen,<br />

die DDR-Diktatur sei „kommod“ gewesen, dann ist<br />

ihnen nicht zu helfen.<br />

Nun zu dem letzten Drittel derer, zu denen ich mich zähle.<br />

Sie sehen beides: Gewinn und Verlust, Glück und Gefahr,<br />

Fortschritt und Defi zit. Sie wissen die gewonnenen persönlichen<br />

Freiheiten zu schätzen und sehen die wesentlichen<br />

Forderungen der friedlichen Revolution erfüllt: Fall<br />

der Mauer, das Aus <strong>für</strong> die Staatssicherheit, die deutsche<br />

Einheit und in deren Gefolge die demokratischen Grundrechte<br />

Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Wahlfreiheit.<br />

Ebenso wichtig, wenn nicht weitaus wichtiger ist ihnen, ist<br />

mir jedoch die Befreiung von der Angst. Die Staatssicherheit<br />

und die anderen Gewaltorgane der SED waren übel<br />

genug, doch waren sie nicht der Kern des Übels. Unheilvoller<br />

war, dass sie durch ihre Allgegenwart und die ständige<br />

Drohung einen gesellschaftlichen Raum der Angst<br />

erzeugten, in dem das Virus der Furcht in die Innenwelten<br />

der Beherrschten eindrang und dort seine verheerende<br />

Wirkung des Abtötens und Lähmens verrichtete, des Abtötens<br />

und Lähmens von Widerspruch und alternativem<br />

Denken. Die Zensur erzeugt die Selbstzensur und wo das<br />

freie Wort unter Kuratel und Strafe steht, auferlegt sich<br />

der Mensch nach dem gelernten Schweigen zum Selbstschutz<br />

letztlich Denkblockaden. Diese tief verinnerlichte<br />

Angst vor dem zu weit gehenden Denken ist die subtilste<br />

und zugleich <strong>für</strong>chterlichste Tiefenwirkung einer Diktatur.<br />

Das Machtmittel Angst war bis zuletzt konserviert in der<br />

Funktionärsformel: Wir können auch anders! Und das<br />

meinte die Option der nackten Gewalt, den Griff zur chinesischen<br />

Lösung, die noch im Oktober 1989, nicht nur<br />

in Leipzig, real drohte.<br />

Vor diesem düsteren Geschichtshintergrund wirkt die<br />

gegenwärtige Welt erfreulich hell, möglicherweise heller,<br />

als sie es tatsächlich ist. Und doch kann ich mich freuen<br />

über die auferstandenen Altstädte, sind mir doch die<br />

traurigen Bilder des Verfalls ins Hirn gebrannt. Kann mich<br />

freuen, lesen zu dürfen, was ich möchte, weil ich mich<br />

Was zusammen gehört ... Jahrestagung 2009 7

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!