Rundbrief 1-2010 - Verband für sozial-kulturelle Arbeit
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Preis nicht nur einer Linsentrübung des Auges, sondern<br />
einer bewussten Wahrnehmungsverweigerung, um das<br />
aus linker Sicht weltwichtige Experiment, eine Utopie zu<br />
realisieren, freundlich zu begleiten, was denen im Osten<br />
als zynischer Snobismus erscheinen musste, aus komfortablem<br />
Abstand zu betrachten, ob und wie die Versuchspersonen<br />
das Experiment überstanden. Nach dem<br />
Untergang des sowjetischen Imperiums und der Epochen-<br />
Illusion auch im Westen, sucht man nun den treffenden<br />
Begriff Diktatur mit mildernden Epitheta zu schönen. So<br />
etwa fand Günter Grass, die DDR sei eine „kommode“<br />
Diktatur gewesen. Ihm und allen, die das auch gern glauben<br />
möchten, empfehle ich so freundlich wie dringlich<br />
einen tiefen Blick ins offene Archiv der DDR-Verbrechen,<br />
und wenn sie nach der Kenntnisnahme der 43.000 Toten<br />
der Speziallager nach 1945, den Zahlen und Schicksalen<br />
der politischen Häftlinge, der im stalinistischen<br />
Gulag Verschwundenen, der in der Aktion „Ungeziefer“<br />
Zwangsumgesiedelten, der willkürlich Enteigneten und<br />
zwangsadoptierten Kinder, wenn sie nach der Lektüre<br />
der massenhaften Spitzelberichte, Verhörprotokolle und<br />
Gerichtsakten, des Missbrauchs von Minderjährigen als<br />
Inoffi zielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, der detaillierten<br />
Maßnahmepläne zur psychischen Vernichtung<br />
(„Zersetzung“ genannt), der Berichte über erschossene<br />
Mauerfl üchtlinge mit den buchhalterischen Anmerkungen<br />
über den zu hohen Munitionsverbrauch pro Tötung oder<br />
der fertigen Pläne <strong>für</strong> die Isolierungslager Ende der achtziger<br />
Jahre, den minutiös und namentlich festgelegten<br />
Verhaftungslisten nebst Einsatzort, Uhrzeit, Anzahl und<br />
Bewaffnung der Häscherkommandos noch immer meinen,<br />
die DDR-Diktatur sei „kommod“ gewesen, dann ist<br />
ihnen nicht zu helfen.<br />
Nun zu dem letzten Drittel derer, zu denen ich mich zähle.<br />
Sie sehen beides: Gewinn und Verlust, Glück und Gefahr,<br />
Fortschritt und Defi zit. Sie wissen die gewonnenen persönlichen<br />
Freiheiten zu schätzen und sehen die wesentlichen<br />
Forderungen der friedlichen Revolution erfüllt: Fall<br />
der Mauer, das Aus <strong>für</strong> die Staatssicherheit, die deutsche<br />
Einheit und in deren Gefolge die demokratischen Grundrechte<br />
Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Wahlfreiheit.<br />
Ebenso wichtig, wenn nicht weitaus wichtiger ist ihnen, ist<br />
mir jedoch die Befreiung von der Angst. Die Staatssicherheit<br />
und die anderen Gewaltorgane der SED waren übel<br />
genug, doch waren sie nicht der Kern des Übels. Unheilvoller<br />
war, dass sie durch ihre Allgegenwart und die ständige<br />
Drohung einen gesellschaftlichen Raum der Angst<br />
erzeugten, in dem das Virus der Furcht in die Innenwelten<br />
der Beherrschten eindrang und dort seine verheerende<br />
Wirkung des Abtötens und Lähmens verrichtete, des Abtötens<br />
und Lähmens von Widerspruch und alternativem<br />
Denken. Die Zensur erzeugt die Selbstzensur und wo das<br />
freie Wort unter Kuratel und Strafe steht, auferlegt sich<br />
der Mensch nach dem gelernten Schweigen zum Selbstschutz<br />
letztlich Denkblockaden. Diese tief verinnerlichte<br />
Angst vor dem zu weit gehenden Denken ist die subtilste<br />
und zugleich <strong>für</strong>chterlichste Tiefenwirkung einer Diktatur.<br />
Das Machtmittel Angst war bis zuletzt konserviert in der<br />
Funktionärsformel: Wir können auch anders! Und das<br />
meinte die Option der nackten Gewalt, den Griff zur chinesischen<br />
Lösung, die noch im Oktober 1989, nicht nur<br />
in Leipzig, real drohte.<br />
Vor diesem düsteren Geschichtshintergrund wirkt die<br />
gegenwärtige Welt erfreulich hell, möglicherweise heller,<br />
als sie es tatsächlich ist. Und doch kann ich mich freuen<br />
über die auferstandenen Altstädte, sind mir doch die<br />
traurigen Bilder des Verfalls ins Hirn gebrannt. Kann mich<br />
freuen, lesen zu dürfen, was ich möchte, weil ich mich<br />
Was zusammen gehört ... Jahrestagung 2009 7