Taxi Times DACH - Mai 2017
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QUALITÄT<br />
FRAKTIONSVORSITZENDER<br />
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN CEM ÖZDEMIR<br />
<br />
»NEHMEN SIE MICH<br />
ALS KRONZEUGEN«<br />
Cem Özdemir machte zu Jahresbeginn<br />
Schlagzeilen, als er nach mehreren<br />
negativen Erfahrungen erklärte, in<br />
Berlin nicht mehr <strong>Taxi</strong> fahren zu wollen.<br />
Im Interview mit <strong>Taxi</strong> <strong>Times</strong> erläutert<br />
er die Hintergründe, spricht über<br />
die Folgen und verspricht politische<br />
Unterstützung.<br />
<strong>Taxi</strong> <strong>Times</strong>: Herr Özdemir, können Sie<br />
sich noch an meinen Redaktionskollegen<br />
erinnern? Er hat Sie mal gefahren<br />
und sich prima mit Ihnen unterhalten.<br />
Cem Özdemir: Nein, das weiß ich leider<br />
nicht mehr.<br />
Die normalen Erlebnisse sind schnell<br />
wieder aus dem Gedächtnis … ?<br />
Andere sind mir dafür in Erinnerung<br />
geblieben. Ich saß vor vielen Jahren einmal<br />
in Berlin zusammen mit Yaşar Kemal,<br />
dem leider verstorbenen Schriftsteller, in<br />
einem <strong>Taxi</strong>. Der <strong>Taxi</strong>fahrer mischte sich<br />
immer wieder mit Anekdoten aus seinem<br />
Leben in unser Gespräch ein. Schließlich<br />
sagte Yaşar Kemal: Weißt du was, Cem,<br />
der Interessanteste in diesem Wagen bist<br />
nicht du, bin nicht ich, das ist der <strong>Taxi</strong>fahrer.<br />
Das war vor vielen, vielen Jahren.<br />
Der <strong>Taxi</strong>fahrer von damals ist mittlerweile<br />
einer meiner besten Freunde und mein<br />
Nachbar in Kreuzberg. In <strong>Taxi</strong>s habe ich<br />
also schon viel Großartiges erlebt.<br />
Bis zur Armenien-Resolution …<br />
Bis dahin hatte ich nie irgendwelche Probleme.<br />
Nach der Armenien-Resolution<br />
wurde es anders, aber das lag nicht an<br />
der Mehrheit der <strong>Taxi</strong>fahrer, sondern an<br />
einem kleinen Teil, der nicht nur einfach<br />
unhöflich war, sondern teilweise richtig<br />
aggressiv und beleidigend. Mir geht es<br />
nicht darum, dass man einer Meinung<br />
sein muss, aber dass man respektvoll mit<br />
seinen Fahrgästen umgeht.<br />
Stattdessen wurden Sie beschimpft,<br />
worüber Sie sich dann auch beschwert<br />
haben.<br />
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon<br />
meine Konsequenz gezogen und aufs <strong>Taxi</strong>fahren<br />
verzichtet.<br />
Was war dann ausschlag gebend?<br />
Der Journalist Can Dündar, der hier im<br />
Exil ist. Er sagte zu mir: „Ich bekomme<br />
einen Preis nach dem anderen<br />
und werde zu allen möglichen<br />
Anlässen eingeladen. Aber habt ihr<br />
euch schon mal gefragt, wie ich da<br />
hin- und wieder zurückkomme? Jedes<br />
Mal muss ich hoffen, dass ich nicht auf<br />
einen <strong>Taxi</strong>fahrer stoße, der die Fahrt<br />
ablehnt oder mich die ganze Fahrt über<br />
beschimpft. Er fühlte sich in Berliner<br />
<strong>Taxi</strong>s unsicherer als in Istanbulern. Da<br />
dachte ich mir: „Jetzt reicht’s! Darüber<br />
muss man reden.“<br />
Sie haben sich dann mit einem Brief<br />
kurz vor Weihnachten bei zwei Berliner<br />
Verbänden beschwert. Medial aufgekocht<br />
ist es aber erst im Januar.<br />
Vom Naturell her finde ich, man schreibt<br />
erst mal einen Brief, bevor man an die<br />
Presse geht, und wartet eine Antwort ab.<br />
Als die nicht kam, habe ich das bei Journalisten<br />
erwähnt. „Die Welt“ hat es dann<br />
als Erstes aufgegriffen.<br />
Waren Sie vom Medienecho überrascht?<br />
Ja, von dem Echo war ich sehr überrascht.<br />
Aber es hat wohl einen Nerv getroffen,<br />
weil sich viele gefragt haben: Wieso<br />
nutzen manche hier die Vorzüge der<br />
Demokratie und unterstützen woanders<br />
jemanden, der eine Diktatur errichten<br />
möchte? Das löst ja Fragezeichen aus.<br />
Das Interview mit<br />
Cem Özdemir führten<br />
<strong>Taxi</strong> <strong>Times</strong> Herausgeber<br />
Jürgen Hartmann und<br />
Redakteur Hayrettin<br />
Şimşek (rechts).<br />
Es gibt den Spruch: Wenn ich des<br />
Volkes Meinung hören will, dann<br />
fahre ich <strong>Taxi</strong>.<br />
Da haben Sie völlig recht, <strong>Taxi</strong>fahrer sind<br />
wie ein Pulsmesser dafür, wie die Stimmung<br />
ist. Insofern ist das <strong>Taxi</strong>fahren mit<br />
Sicherheit ein Beitrag dazu, dass man<br />
seine Wahrnehmung schärft. Deshalb<br />
freue ich mich ja jetzt auch, das ich wieder<br />
beruhigt <strong>Taxi</strong> fahren kann.<br />
FOTO: <strong>Taxi</strong> <strong>Times</strong><br />
14 MAI / <strong>2017</strong> TAXI