11/2017
Fritz + Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
Eine Frage der Perspektive<br />
Erwachsene sollten öfter mal den Blickwinkel wechseln und die Dinge aus der Sicht von Kindern und<br />
Jugendlichen betrachten. Insbesondere, wenn es um Schule und Beruf geht. Text: Bruno Rupp<br />
«Auch ich habe mich immer<br />
wieder zur Aussage ‹Das<br />
ist doch nicht normal!›<br />
verleiten lassen.»<br />
Bruno Rupp ist Primarlehrer, Schulleiter,<br />
Mitglied der Leitungskonferenz Bildung Bern<br />
und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung.<br />
Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern.<br />
Es lohnt sich, die Perspektive<br />
zu wechseln, Dinge mit einer<br />
anderen Brille anzuschauen –<br />
mit der des Kindes.<br />
selbe Brille zu schauen. Beide kommunizieren<br />
auf derselben Ebene<br />
miteinander.<br />
Wie oft hören Kinder oder<br />
Jugendliche von den Eltern Sätze<br />
wie «Das sehe ich aber anders»,<br />
«Wie kannst du nur!», «Das ist doch<br />
nicht normal!». In solchen Momenten<br />
und Situationen sehen beide<br />
«die Welt» mit verschiedenen<br />
Augen.<br />
Erwachsene müssen Wege in die<br />
Selbständigkeit aufzeigen<br />
Als Vater von drei heute erwachsenen<br />
Kindern habe auch ich mich<br />
immer wieder zur Aussage «Das ist<br />
doch nicht normal!» verleiten lassen.<br />
Eine Aussage, die jungen Menschen<br />
die Botschaft vermittelt, dass ich als<br />
Erwachsener und Vater selbstredend<br />
weiss, was «normal» ist. Aus meiner<br />
Sicht eben.<br />
Wie sieht es aber aus Sicht des<br />
Jugendlichen aus? Kenne ich seine<br />
Sichtweise und Begründung für sein<br />
«abnormales» Verhalten? Könnte es<br />
sein, dass sein Verhalten aus seiner<br />
Sicht vielleicht gar nicht so abnormal<br />
ist? Sollte es mich nicht interessieren,<br />
aus welchen Gründen, Erfahrungen<br />
oder mit welcher Absicht<br />
der Jugendliche eine andere Vorstellung<br />
von «normal» und «abnormal»,<br />
von «richtig» oder «falsch» hat?<br />
Als Eltern und Lehrpersonen ist<br />
es unsere Pflicht, Kindern und<br />
Jugendlichen Wege in die Selbständigkeit<br />
zu zeigen, sie auf dem Weg<br />
zur Mündigkeit zu unterstützen und<br />
Sie kennen doch bestimmt<br />
das Spiel «Ich sehe was,<br />
was du nicht siehst», das<br />
Kinder oft auf langen Fahrten<br />
im Zug oder im Auto<br />
spielen. Es ist mehr als ein Zeitvertreib.<br />
Das Kind und der erwachsene<br />
Mitspieler versuchen, die Welt oder<br />
zumindest einen kleinen Teil der<br />
Welt mit den Augen des anderen zu<br />
sehen. Beide versuchen, durch diezu<br />
begleiten. Wir haben hier eine<br />
Vorbildfunktion. Was vermitteln wir<br />
denn für Werte und Haltungen,<br />
wenn wir diese einfach unreflektiert<br />
aufgrund unserer Stärke als Erwachsene<br />
den Jungen überstülpen?<br />
Aufgrund meiner langen Erfahrung<br />
als Vater, Erzieher und Lehrer<br />
bin ich überzeugt, dass es sich<br />
immer wieder lohnt, die Perspektive<br />
zu wechseln und die Dinge mit einer<br />
anderen Brille anzuschauen: mit der<br />
Brille des Kindes respektive des<br />
Jugendlichen.<br />
Die Welt mit den Augen des<br />
anderen zu sehen, ist wichtig und<br />
hilfreich. Eine Situation aus einer<br />
anderen Richtung oder Perspektive<br />
zu sehen, bedeutet, die eigene Blickrichtung<br />
zu verändern und sich in<br />
die Situation des anderen zu versetzen<br />
und hineinzudenken.<br />
Einfühlungsvermögen oder<br />
Empathie ist die Fähigkeit und<br />
Bereitschaft, Empfindungen, Ge <br />
danken, Emotionen, Motive und<br />
Persönlichkeitsmerkmale einer<br />
an deren Person zu erkennen und zu<br />
ver stehen. Zur Konfliktlösung<br />
kommt dieser Fähigkeit eine wichtige<br />
Bedeutung zu. Perspektivenwechsel<br />
verbunden mit Einfühlungsvermögen<br />
und Empathie<br />
öffnet den Weg für ein anderes Verständnis<br />
und für neue, andere Ideen.<br />
Als Schulleiter habe ich immer<br />
wieder die Aufgabe, Gespräche zwischen<br />
Eltern und Lehrpersonen zu<br />
moderieren. Gespräche, in welchen<br />
die Teilnehmenden unterschiedliche<br />
54 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi