11/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
Wenn wir lernen wollen, wie<br />
man konkrete Probleme<br />
meistert, braucht es neue,<br />
kreative Methoden.<br />
>>> der Lernenden, ganz nach<br />
dem Motto: «Erst forschen, dann<br />
lehren.» Nach einer Analyse integrierte<br />
er die gesammelten Themen<br />
in Lese- und Schreibprojekte. Diese<br />
waren so erfolgreich, dass die Personen<br />
nach rund acht Wochen lesen<br />
und schreiben konnten. Ein weiterer<br />
wichtiger Aspekt seiner Methode ist<br />
der Dialog. Ein echter Dialog verändert<br />
die Beziehungen und die Emotionen<br />
der beteiligten Personen,<br />
während Belehrung einfach das<br />
«Spiel ohne Ende» fortsetzt.<br />
«Erst forschen, dann lehren»<br />
wurde auch zum Motto in der Ausbildung<br />
von Schulischen Heilpädagoginnen<br />
und Heilpädagogen an<br />
der Interkantonalen Hochschule für<br />
Heilpädagogik HfH. Dabei gingen<br />
die Dozierenden von einer Forschungsmethode<br />
aus, welche der<br />
Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen<br />
Mitarbeiterinnen entwickelt<br />
hat. Er nannte sie kritische Methode,<br />
später wurde sie auch flexibles Interview<br />
genannt (siehe Box Seite 65).<br />
Dabei gilt es, die Denkprozesse eines<br />
Kindes bestmöglich zur Sprache zu<br />
bringen, indem es auch zum Handeln<br />
motiviert wird. In einer freundschaftlichen<br />
Konversation werden<br />
die Bedeutungen von Gedanken und<br />
Handlungen fortlaufend besprochen<br />
und weiterentwickelt. Mit der Zeit<br />
konnte diese Methode immer besser<br />
in die Lehre der HfH und die Schulpraxis<br />
integriert werden.<br />
Lehren aus dem Bauernhof<br />
Wie funktioniert das genau? Lassen<br />
Sie mich zwei Fallbeispiele nennen:<br />
In Mathematikstunden im Kindergarten<br />
wurde bei einem vierjährigen<br />
Jungen festgestellt, dass er die Zahlen<br />
erst bis zwei kannte. Man befürchtete,<br />
dass er geistig entwicklungsverzögert<br />
sein könnte. Bei flexiblen<br />
Interviews entdeckte die Heilpädagogin,<br />
dass der Junge in seinem Lieblingsspiel<br />
mit dem Bauernhof sehr<br />
wohl wusste, wie viel sechs Kühe<br />
sind.<br />
Diese Entdeckung hatte Auswirkungen<br />
auf die Lehre: Der Junge und<br />
andere Kinder bekamen die Gelegenheit,<br />
Mathematik und Geometrie<br />
ausgehend vom Bauernhof oder<br />
anderen Lieblingsspielen zu lernen.<br />
Die Lehrpersonen hatten den Druck<br />
von Belehrung und Stofffülle überwunden,<br />
weil sie den Bauernhof als<br />
Sachthema für die mathematische<br />
Bildung erforscht hatten. Gleichzeitig<br />
hatten sie eingesehen, wie relativ<br />
belehrende Didaktik und deren Vorurteile<br />
sind, wenn Ressourcen der<br />
Kinder miteinbezogen werden.<br />
Das zweite Beispiel handelt von<br />
Erfahrungen, die Eltern und Lehrpersonen<br />
in Spiel- und Hausaufgabensituationen<br />
gesammelt haben.<br />
Sie lernten in einem Workshop, mit<br />
dem flexiblen Interview das Belehren<br />
zu überwinden und Gesellschaftsspiele<br />
für Kinder mit Behinderungen<br />
zugänglich zu machen.<br />
Dadurch wurden die Dialoge mit<br />
den Kindern sachlicher und freudvoller.<br />
Das Können hatte sich frei<br />
und wirkungsvoll entwickelt.<br />
Die Beispiele deuten an, dass Psychologen,<br />
Erziehende oder Lehrpersonen<br />
mit Kindern und Jugendlichen<br />
umgehen, als würden sie mit<br />
Freunden sprechen. Dabei lösen sie<br />
Probleme, mit denen ein Kind konfrontiert<br />
ist, und arbeiten gleichzeitig<br />
mit Materialien (oder Spielsachen)<br />
sowie mit Notizen. Die<br />
Richtigkeit der Resultate ist ein<br />
Nebenprodukt. Das freundschaftliche<br />
Klima ist reicher an sozialen<br />
Beziehungen und Emotionen als das<br />
Klima der Belehrung. Die Selbstbestimmung<br />
des Kindes ist angemessen<br />
integriert und nicht ausgeschlossen.<br />
So gelingt es in kürzester<br />
Zeit, Lebenserfahrungen und Interessen<br />
zu erforschen und für die Pädagogik<br />
nutzbar zu machen.<br />
Eine komplexe und schwierige<br />
Aufgabe steht an, wenn Fachpersonen,<br />
Lehrpersonen, Eltern und Lernende<br />
wahrnehmen, dass die Integration<br />
von Kindern, die anders sind<br />
als der Durchschnitt, nicht recht<br />
gelingen will. Betrachten wir die<br />
Aussage der Mutter eines Sohnes<br />
mit Trisomie 21. Sie blickte in einem<br />
Podiumsgespräch zufrieden auf die<br />
schulische Integration ihres Kindes<br />
zurück. Dass sie ihren Jungen jedoch<br />
vier Mal jeden Tag holen und bringen<br />
musste, belastete sie sehr. Wie<br />
wäre es, wenn Fachpersonen in ähnlichen<br />
Fällen nach Ressourcen im<br />
Quartier oder in der Gemeinde forschen<br />
würden? Wären andere Eltern<br />
oder ein Restaurant bereit, einer<br />
Familie mit einem Kind mit Behinderung<br />
zu helfen, auch wenn es nur<br />
um den Schulweg oder das Mittagessen<br />
geht? Paul Watzlawick betonte<br />
in einem Vortrag, dass der Ausweg<br />
aus dem «Spiel ohne Ende» über<br />
einfache Handlungen ge schieht.<br />
Die Entwicklung von integrativer<br />
Bildung und Erziehung erfordert<br />
neue Methoden (siehe Box S. 67).<br />
Das beginnt bei der Diagnose der<br />
Ressourcen der Kinder, der Eltern,<br />
der Grosseltern, in der Schule und<br />
im Quartier. Es ist einfacher, Defizite<br />
zu diagnostizieren und diese isoliert<br />
zu behandeln. Gemeinhin<br />
denkt man dann, dass das Kind oder<br />
die Jugendlichen mit Behandlungen<br />
66 November <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi