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der Integration und nimmt unter anderem<br />
die junge Afghanin Nesrin * bei sich zu Hause<br />
auf. „Ich musste ihr versprechen, dass ich sie<br />
nie, unter keinen Umständen, in Kontakt mit<br />
afghanischen Männern bringe“, so die Therapeutin.<br />
Das Leben mit einer österreichischen<br />
Familie hilft Nesrin sich zu öffnen. Anfangs<br />
noch scheu und ängstlich, entwickelt sich<br />
die 19-Jährige schnell weiter. Sie nimmt sich<br />
ein Vorbild an der vier Jahre älteren Tochter<br />
der Sexualtherapeutin. „Wir selbst gehen zu<br />
Hause offen mit tabuisierten Themen wie Sex<br />
oder Menstruation um und das hat Nesrin<br />
geholfen“, so Bregagna. „Nach einer Zeit hat<br />
sie verstanden, dass Sex etwas Natürliches<br />
ist und die Regel etwas, wofür man sich nicht<br />
schämen muss.“<br />
Trotzdem bricht Nesrin vor der Sexualtherapeutin<br />
in Tränen aus, als sie ihr „gesteht“,<br />
dass sie zum ersten Mal Sex mit einem<br />
jungen Afghanen in Wien hatte. „Sie war<br />
vor allem deswegen verzweifelt, weil sie<br />
nicht den ‚Mut‘ hatte, sich das Leben zu<br />
nehmen“, so Bregagna. „Ihrer Ansicht nach<br />
war ihr Leben nichts mehr wert, jetzt, wo sie<br />
keine Jungfrau mehr war.“ Es braucht viele<br />
Gespräche, um Nesrin klarzumachen, dass<br />
sie sich weder schämen noch umbringen<br />
muss, nur weil sie mit einem Jungen geschlafen<br />
hatte. „Zunächst sind neue Erkenntnisse<br />
wie diese schwer zu fassen, dann aber erlösen<br />
sie die Mädchen von dem Druck und der<br />
Angst“, beschreibt Bregagna den Entwicklungsprozess.<br />
DER WUNSCH NACH EINEM<br />
NORMALEN LEBEN<br />
Auch Ayise * kommt aus einer strengen Familie.<br />
Aufgewachsen in einer kleinen Stadt in<br />
Afghanistan, flieht sie gemeinsam mit ihren<br />
Eltern und Geschwistern vor etwa zwei Jahren<br />
nach Österreich. Hier geht sie das erste<br />
Mal richtig zur Schule, hier lernt sie lesen und<br />
schreiben.<br />
Anders als Sahar trägt Ayise ein Kopftuch<br />
und weite, lockere Kleider. Alle paar Minuten<br />
zupft sie ihr Kopftuch zurecht, die Schülerin<br />
spricht leise und unsicher. Nach kurzer Zeit<br />
entwickelt sich das Gespräch in eine andere<br />
Richtung. Man merkt Ayise an, dass sie<br />
froh ist, sich mit jemandem über Tabuthemen<br />
unterhalten zu können. So erzählt sie,<br />
dass sie sich nicht mit Jungs aus der Klasse<br />
anfreunden möchte. Körperkontakt ist strengstens<br />
untersagt, auch wenn es um harmlose<br />
Berührungen am Arm geht. Auf die Frage, ob<br />
sie schon einmal verliebt war, schüttelt sie<br />
zunächst peinlich berührt den Kopf, später<br />
erzählt sie von einem jungen Syrer, den sie<br />
in einem Jugendzentrum kennengelernt hat.<br />
„Sie sagen das aber nicht weiter, oder?“,<br />
fragt sie erschrocken. Erst das Versprechen,<br />
dass das Gespräch anonymisiert wird,<br />
beruhigt sie. „Meine Eltern wissen nicht, dass<br />
ich im Verein auch mit Jungs Computer oder<br />
Tischfußball spiele.“ Ayise vermeidet Augenkontakt,<br />
während sie über ihr Geheimnis<br />
spricht und rutscht auf ihrem Sessel hin und<br />
her. Einer Erwachsenen kann sie sich aber<br />
auch mit diesem Anliegen anvertrauen: einer<br />
der Betreuerinnen im Jugendtreff. „Ihr habe<br />
ich gesagt, dass ich mich in den Syrer verliebt<br />
habe und als ich traurig deswegen war,<br />
hat sie mich getröstet.“<br />
Noch verläuft das Gespräch entspannt,<br />
Aiyse * erzählt immer weiter. Bis es plötzlich<br />
um ihre Zukunftsträume geht. „Abends liege<br />
ich im Bett und wünsche mir, ein ganz normales<br />
Mädchen zu sein“, gesteht die 14-Jährige.<br />
Sie wirkt jetzt nicht mehr ausgelassen, sondern<br />
nachdenklich, fast traurig. „Ich möchte<br />
auch so leben wie Mädchen hier, gut in der<br />
Schule sein und österreichische Freundinnen<br />
haben.“ Manchmal, so Ayise, frage sie sich,<br />
warum sie das Kopftuch eigentlich trägt und<br />
was sie von anderen Mädchen unterscheidet.<br />
Verliebt sein und vor der Ehe sexuelle<br />
Erfahrung sammeln, kommt nicht in Frage –<br />
sie würde Gegenteiliges niemals vor anderen<br />
zugeben. Sie geht davon aus, dass ihre Eltern<br />
einen Ehemann für sie organisieren. „Ich<br />
kenne ja keine Jungs, da kann ich auch nicht<br />
selbst suchen“, erklärt die Schülerin. „Mama<br />
und Papa werden mir sicher einen guten<br />
Mann finden.“<br />
KEIN SEX, KEINE LIEBE<br />
Von einer arrangierten Ehe ist auch Meska *<br />
überzeugt, auch wenn sie es nicht so nennt.<br />
Ihr sei es lieber, wenn ihre Eltern einen Mann<br />
für sie finden. „Weißt du, wenn du in Afghanistan<br />
mit einem Jungen redest, musst du<br />
ihn heiraten“, erzählt die 15-Jährige lachend.<br />
„Hier in Österreich ist das ja egal.“ Männliche<br />
Freunde möchte sie keine, noch nicht einmal<br />
Kontakt zu Klassenkameraden strebt sie an.<br />
„Burschen sind gemein und rufen Mädchen<br />
komische Sachen nach“, so Meska. „Einmal<br />
haben Männer bei einer Straßenbahnstation<br />
einer Frau hinterhergepfiffen und als sie<br />
ihnen gesagt hat, sie sollen still sein, haben<br />
sie sie beschimpft.“ Deswegen sei sie froh,<br />
auch in Österreich ein Kopftuch zu tragen.<br />
KULTUR<br />
SCHOCK<br />
„Ich kann die Erzählungen<br />
und Empfindungen der<br />
Mädchen gut verstehen. Ich<br />
bin vor 18 Monaten nach<br />
Österreich gekommen und<br />
habe auch einen kulturellen<br />
Schock erlebt. Als Männer<br />
sich mit mir unterhalten<br />
haben, musste ich erst lernen,<br />
dass nichts Schlimmes<br />
passieren wird und sie nur<br />
höflich sind. In Afghanistan<br />
wäre es undenkbar gewesen,<br />
dass ich Männern die Hand<br />
schüttle, ihnen direkt in die<br />
Augen sehe oder öffentlich<br />
mit ihnen spreche. Ich<br />
wäre sofort als Schlampe<br />
beschimpft worden. Kurzer<br />
Augenkontakt hätte gereicht<br />
und Männer hätten das<br />
sofort als Einladung verstanden.<br />
Auch ich war das erste<br />
Mal, als ich ein küssendes<br />
Pärchen in der U-Bahn in<br />
Wien gesehen habe, überrascht.<br />
Ich selbst bin in den<br />
Öffis in Kabul oft sexuell<br />
belästigt worden, sicher habe<br />
ich mich als Frau nie gefühlt.<br />
Besser wurde die Situation<br />
auch nicht, als ich mein<br />
Studium begonnen habe.<br />
Gynäkologie ist kein angesehenes<br />
Fach, deswegen habe<br />
ich nach vier Semestern<br />
abgebrochen. In Afghanistan<br />
werden Frauenärztinnen<br />
nicht als wichtig empfunden.<br />
All das und noch viel mehr<br />
ist in Österreich ganz anders.<br />
Das zu verstehen, braucht<br />
Zeit. Ich tue mir mit diesen<br />
Veränderungen mit Anfang<br />
20 manchmal auch noch<br />
schwer. Ich kann mir also gut<br />
vorstellen, dass das für Teenager<br />
noch schwieriger ist.“<br />
Leila* (23) ist vor 18 Monaten<br />
nach Österreich geflohen.<br />
Zu ihrem Schutz haben wir ihren<br />
Namen geändert.<br />
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