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BIBER 11_17 ansicht

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der Integration und nimmt unter anderem<br />

die junge Afghanin Nesrin * bei sich zu Hause<br />

auf. „Ich musste ihr versprechen, dass ich sie<br />

nie, unter keinen Umständen, in Kontakt mit<br />

afghanischen Männern bringe“, so die Therapeutin.<br />

Das Leben mit einer österreichischen<br />

Familie hilft Nesrin sich zu öffnen. Anfangs<br />

noch scheu und ängstlich, entwickelt sich<br />

die 19-Jährige schnell weiter. Sie nimmt sich<br />

ein Vorbild an der vier Jahre älteren Tochter<br />

der Sexualtherapeutin. „Wir selbst gehen zu<br />

Hause offen mit tabuisierten Themen wie Sex<br />

oder Menstruation um und das hat Nesrin<br />

geholfen“, so Bregagna. „Nach einer Zeit hat<br />

sie verstanden, dass Sex etwas Natürliches<br />

ist und die Regel etwas, wofür man sich nicht<br />

schämen muss.“<br />

Trotzdem bricht Nesrin vor der Sexualtherapeutin<br />

in Tränen aus, als sie ihr „gesteht“,<br />

dass sie zum ersten Mal Sex mit einem<br />

jungen Afghanen in Wien hatte. „Sie war<br />

vor allem deswegen verzweifelt, weil sie<br />

nicht den ‚Mut‘ hatte, sich das Leben zu<br />

nehmen“, so Bregagna. „Ihrer Ansicht nach<br />

war ihr Leben nichts mehr wert, jetzt, wo sie<br />

keine Jungfrau mehr war.“ Es braucht viele<br />

Gespräche, um Nesrin klarzumachen, dass<br />

sie sich weder schämen noch umbringen<br />

muss, nur weil sie mit einem Jungen geschlafen<br />

hatte. „Zunächst sind neue Erkenntnisse<br />

wie diese schwer zu fassen, dann aber erlösen<br />

sie die Mädchen von dem Druck und der<br />

Angst“, beschreibt Bregagna den Entwicklungsprozess.<br />

DER WUNSCH NACH EINEM<br />

NORMALEN LEBEN<br />

Auch Ayise * kommt aus einer strengen Familie.<br />

Aufgewachsen in einer kleinen Stadt in<br />

Afghanistan, flieht sie gemeinsam mit ihren<br />

Eltern und Geschwistern vor etwa zwei Jahren<br />

nach Österreich. Hier geht sie das erste<br />

Mal richtig zur Schule, hier lernt sie lesen und<br />

schreiben.<br />

Anders als Sahar trägt Ayise ein Kopftuch<br />

und weite, lockere Kleider. Alle paar Minuten<br />

zupft sie ihr Kopftuch zurecht, die Schülerin<br />

spricht leise und unsicher. Nach kurzer Zeit<br />

entwickelt sich das Gespräch in eine andere<br />

Richtung. Man merkt Ayise an, dass sie<br />

froh ist, sich mit jemandem über Tabuthemen<br />

unterhalten zu können. So erzählt sie,<br />

dass sie sich nicht mit Jungs aus der Klasse<br />

anfreunden möchte. Körperkontakt ist strengstens<br />

untersagt, auch wenn es um harmlose<br />

Berührungen am Arm geht. Auf die Frage, ob<br />

sie schon einmal verliebt war, schüttelt sie<br />

zunächst peinlich berührt den Kopf, später<br />

erzählt sie von einem jungen Syrer, den sie<br />

in einem Jugendzentrum kennengelernt hat.<br />

„Sie sagen das aber nicht weiter, oder?“,<br />

fragt sie erschrocken. Erst das Versprechen,<br />

dass das Gespräch anonymisiert wird,<br />

beruhigt sie. „Meine Eltern wissen nicht, dass<br />

ich im Verein auch mit Jungs Computer oder<br />

Tischfußball spiele.“ Ayise vermeidet Augenkontakt,<br />

während sie über ihr Geheimnis<br />

spricht und rutscht auf ihrem Sessel hin und<br />

her. Einer Erwachsenen kann sie sich aber<br />

auch mit diesem Anliegen anvertrauen: einer<br />

der Betreuerinnen im Jugendtreff. „Ihr habe<br />

ich gesagt, dass ich mich in den Syrer verliebt<br />

habe und als ich traurig deswegen war,<br />

hat sie mich getröstet.“<br />

Noch verläuft das Gespräch entspannt,<br />

Aiyse * erzählt immer weiter. Bis es plötzlich<br />

um ihre Zukunftsträume geht. „Abends liege<br />

ich im Bett und wünsche mir, ein ganz normales<br />

Mädchen zu sein“, gesteht die 14-Jährige.<br />

Sie wirkt jetzt nicht mehr ausgelassen, sondern<br />

nachdenklich, fast traurig. „Ich möchte<br />

auch so leben wie Mädchen hier, gut in der<br />

Schule sein und österreichische Freundinnen<br />

haben.“ Manchmal, so Ayise, frage sie sich,<br />

warum sie das Kopftuch eigentlich trägt und<br />

was sie von anderen Mädchen unterscheidet.<br />

Verliebt sein und vor der Ehe sexuelle<br />

Erfahrung sammeln, kommt nicht in Frage –<br />

sie würde Gegenteiliges niemals vor anderen<br />

zugeben. Sie geht davon aus, dass ihre Eltern<br />

einen Ehemann für sie organisieren. „Ich<br />

kenne ja keine Jungs, da kann ich auch nicht<br />

selbst suchen“, erklärt die Schülerin. „Mama<br />

und Papa werden mir sicher einen guten<br />

Mann finden.“<br />

KEIN SEX, KEINE LIEBE<br />

Von einer arrangierten Ehe ist auch Meska *<br />

überzeugt, auch wenn sie es nicht so nennt.<br />

Ihr sei es lieber, wenn ihre Eltern einen Mann<br />

für sie finden. „Weißt du, wenn du in Afghanistan<br />

mit einem Jungen redest, musst du<br />

ihn heiraten“, erzählt die 15-Jährige lachend.<br />

„Hier in Österreich ist das ja egal.“ Männliche<br />

Freunde möchte sie keine, noch nicht einmal<br />

Kontakt zu Klassenkameraden strebt sie an.<br />

„Burschen sind gemein und rufen Mädchen<br />

komische Sachen nach“, so Meska. „Einmal<br />

haben Männer bei einer Straßenbahnstation<br />

einer Frau hinterhergepfiffen und als sie<br />

ihnen gesagt hat, sie sollen still sein, haben<br />

sie sie beschimpft.“ Deswegen sei sie froh,<br />

auch in Österreich ein Kopftuch zu tragen.<br />

KULTUR<br />

SCHOCK<br />

„Ich kann die Erzählungen<br />

und Empfindungen der<br />

Mädchen gut verstehen. Ich<br />

bin vor 18 Monaten nach<br />

Österreich gekommen und<br />

habe auch einen kulturellen<br />

Schock erlebt. Als Männer<br />

sich mit mir unterhalten<br />

haben, musste ich erst lernen,<br />

dass nichts Schlimmes<br />

passieren wird und sie nur<br />

höflich sind. In Afghanistan<br />

wäre es undenkbar gewesen,<br />

dass ich Männern die Hand<br />

schüttle, ihnen direkt in die<br />

Augen sehe oder öffentlich<br />

mit ihnen spreche. Ich<br />

wäre sofort als Schlampe<br />

beschimpft worden. Kurzer<br />

Augenkontakt hätte gereicht<br />

und Männer hätten das<br />

sofort als Einladung verstanden.<br />

Auch ich war das erste<br />

Mal, als ich ein küssendes<br />

Pärchen in der U-Bahn in<br />

Wien gesehen habe, überrascht.<br />

Ich selbst bin in den<br />

Öffis in Kabul oft sexuell<br />

belästigt worden, sicher habe<br />

ich mich als Frau nie gefühlt.<br />

Besser wurde die Situation<br />

auch nicht, als ich mein<br />

Studium begonnen habe.<br />

Gynäkologie ist kein angesehenes<br />

Fach, deswegen habe<br />

ich nach vier Semestern<br />

abgebrochen. In Afghanistan<br />

werden Frauenärztinnen<br />

nicht als wichtig empfunden.<br />

All das und noch viel mehr<br />

ist in Österreich ganz anders.<br />

Das zu verstehen, braucht<br />

Zeit. Ich tue mir mit diesen<br />

Veränderungen mit Anfang<br />

20 manchmal auch noch<br />

schwer. Ich kann mir also gut<br />

vorstellen, dass das für Teenager<br />

noch schwieriger ist.“<br />

Leila* (23) ist vor 18 Monaten<br />

nach Österreich geflohen.<br />

Zu ihrem Schutz haben wir ihren<br />

Namen geändert.<br />

/ RAMBAZAMBA / 31

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