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Inspiration 2/2018 dt

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CHRONIK<br />

VITALIJ MIHAILOVIC ABALAKOW<br />

EINFACH EIN<br />

«GENIALES DING»<br />

Manchmal bringen selbst die<br />

besten Klemmknoten nichts,<br />

wenn man noch nie von Abalakow<br />

gehört hat. Die Gebrüder<br />

Witali Michailowitsch und<br />

Jewgeni Abalakow waren so<br />

etwas wie die Klitschkos des<br />

sowjetischen Bergsteigens. Wann und wie genau dem<br />

älteren Witali einst die Idee zur heute berühmten Abalakow-Eissanduhr<br />

kam, lässt sich vielleicht noch durch<br />

geheime Unterlagen in unentdeckten Sonderbibliotheken<br />

der Kommunistischen Partei der Sowjetunion rekonstruieren.<br />

Aber auch das scheint fraglich. Laut dem in Material-<br />

und Technikfragen hochgradig versierten Magazin<br />

«bergundsteigen» ist jedenfalls nicht einmal bekannt, ob<br />

Witali seine Methode zum Errichten eines Fixpunktes nun<br />

als Eisuhr oder Eissanduhr bezeichnet habe. Doch sei sie<br />

schlicht ein «geniales Ding». Hat man einmal Übung darin,<br />

mit einer Eisschraube zwei Eiskanäle zu bohren, die sich<br />

dann idealerweise auch noch im 60-Grad-Winkel treffen,<br />

lässt sich womöglich auch ein sowjetischer Kampfpanzer<br />

oder zumindest ein Kommando-Stabsfahrzeug daran<br />

befestigen. Laut einer Erhebung des Alpenvereins ist ein<br />

Schwachpunkt einer gut erstellten Abalakow-Eisuhr jedenfalls<br />

eher in der Reepschnur zu finden.<br />

Dabei ist es vielleicht das grösste Wunder und die schönste<br />

Ironie an Abalakow, dass es das geniale Ding überhaupt<br />

unter diesen Namen aus der Sowjetunion in die westliche<br />

Welt schaffte und heute auf jedem Hochtourenkurs der<br />

Welt zu finden ist. Immerhin sollte das Bergsteigen sozialistischer<br />

Prägung ja keineswegs der Sicherheit imperialistischer<br />

Ausländer dienen als vielmehr dem Kommunismus<br />

und sowjetischen Führern. So bestieg Jewgeni Abalakow<br />

1933 beispielsweise mit dem Pik Stalin (7495 m) den<br />

höchsten Berg des Landes, der heute freilich Pik Ismoil<br />

Somoni heisst. Witali wiederum schaffte es nicht nur auf<br />

den Pik Lenin, sondern 1952 auch auf den – kein Witz – Pik<br />

19. Parteitag. Neben der Eissanduhr erfand er auch noch<br />

revolutionäre Klemmkeile und musste trotz seines Nimbus<br />

als mehrfacher russischer «Bergsteiger-Champion» ins<br />

Gefängnis. Ihm wurde vorgeworfen, ein deutscher Spion zu<br />

sein, nachdem er westliche Klettertechniken angewendet<br />

hatte. Vielleicht war auch das Piazen schon Teil seiner<br />

Übungen.<br />

GRADIOSER TYP, WILDER ANARCHIST<br />

Damit nun ab in die Wand, weg von Eis und Schnee, in die<br />

Felsen der Dolomiten zu Giovanni Battista Piaz (1879 –<br />

1948), Spitzname Tita. Er erweitert auch das politische<br />

Spektrum unserer Technikpaten nach Prusik und Abalakow<br />

noch ein Stück. Denn Piaz galt nicht nur als ein<br />

begnadeter Kletterer und Hausmeister der Vajolettürme,<br />

sondern auch als ein Anarchist. Die Bozener Lehranstalt<br />

schloss ihn aus; weder die Faschisten noch die österreichischen<br />

Habsburger mochten ihn; die Kirche empfahl,<br />

Distanz zu ihm zu halten. In einem Nachruf hiess es, er<br />

sei ein grandioser Typ gewesen, aber auch ein «wütendes,<br />

trampelndes und fauchendes Menschenkind», wenn<br />

eine Kletterstelle nicht gelingen wollte. Sein Leitsatz<br />

lautete: «Wie eine Katze musst du klettern.» Sein Hund<br />

namens Satan biss wiederum angeblich am liebsten Polizisten.<br />

Er habe Zwiebeln wie Äpfel gegessen und in seiner<br />

Heimat, dem Fassatal, munkelten die Bauern, dass er sich<br />

dem Teufel verschrieben habe und deshalb nicht stürzen<br />

könnte. Das stimmte freilich nicht, weil er – welch ein<br />

Treppenwitz der Geschichte – 1948 an den Folgen eines<br />

Fahrradunfalls starb. Dabei war er eigentlich schon während<br />

des Zweiten Weltkriegs zum Tode verurteilt worden.<br />

Wen wundert es bei so viel innerem Widerstand, dass<br />

zumindest im deutschsprachigen Raum eine Gegendrucktechnik<br />

beim Klettern von Rissverschneidungen, eben das<br />

Piazen, nach ihm benannt wurde. Sie erinnert ein wenig an<br />

das Aufziehen einer schweren Stahltür – und wird im französischen<br />

und italienischen Sprachraum wiederum eher als<br />

dülfern bezeichnet.<br />

KÜNSTLER AN KLAVIER UND KALK<br />

Eben jener Hans Dülfer (1892 – 1915) war ein Wegbegleiter<br />

und guter Freund von Piaz, «ein Künstler,<br />

am Klavier und im Kalkgestein», wie es in einer Veröffentlichung<br />

des Alpenvereins einmal hiess. Irgendwie<br />

verstärkt sich damit der Eindruck, dass die Alpinisten<br />

früher nicht nur politischer, sondern auch vielfältiger<br />

und einfallsreicher waren. Dülfer erdachte Seilquergänge,<br />

um nicht kletterbare Wandpartien zu überwinden;<br />

seine Marksteine tragen Namen wie Totenkirchl-Westwand<br />

und Fleischbank-Ostwand. Biografen behaupten,<br />

er habe den Fels beim Klettern «gestreichelt», weil er<br />

die Technik über rohe Kraft stellte. Obwohl er erst 1911<br />

aus dem Westen Deutschlands nach Bayern übersiedelte<br />

und schon 1915 im Alter von nur 23 Jahren starb, wurde<br />

in München eine Strasse zu seinen Ehren benannt. Es<br />

gibt diverse Dülfer-Risse und Dülfer-Kamine. Und vor<br />

allem gibt es den Dülfer-Sitz.<br />

In Zeiten von Klettergurt, Abseilachter und sonstigen Hilfen<br />

ist die puristischste aller Abseilmethoden selbstredend<br />

aus der Mode gekommen. Doch gerade ältere Bergführer<br />

FOTOS: ARCHIV DES DAV, MÜNCHEN<br />

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