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4. Ausgabe Dezember [PDF, 3.33 MB] - Staufen

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Das Wirtshaus im Feld<br />

Spukt es in <strong>Staufen</strong>?<br />

Die Frau, die allein im Bauernhaus neben<br />

dem grossen Nussbaum wohnt, liegt oft<br />

schlaflos in langen Nächten. Dann leben<br />

ihre Erinnerungen auf. Hier ist sie aufgewachsen,<br />

zusammen mit vielen Geschwistern.<br />

Die Grossmutter kümmerte sich<br />

tagsüber um die Jüngste, wenn die Eltern<br />

der Feldarbeit nachgingen. Marie liebte<br />

es, bei der Grossmutter vor dem Haus zu<br />

sitzen. Deren Hände ruhten nie; Erbsen,<br />

Karotten, Äpfel rüsten – es brauchte volle<br />

Schüsseln für die grosse Runde am Mittagstisch.<br />

Wenn der alte Nachbar aus seinem Stall<br />

trat, grüsste er herüber. Unverheiratet<br />

waren er und seine Schwestern geblieben.<br />

Zufrieden und bescheiden hatte man den<br />

kleinen Bauernbetrieb geführt. Noch hing<br />

ein altes Schild unter dem Vordach: «Wirtschaft<br />

im Feld» stand darauf. «Warum<br />

heisst das Haus ”im Feld”?» fragte das<br />

kleine Mädchen. Die Grossmutter seufzte.<br />

«Vor langer, langer Zeit war hier eine<br />

Wirtschaft. Eigenen Wein haben die<br />

Wirtsleute ausgeschenkt, etwa auch ein<br />

Tauf- oder ein Hochzeitsessen gerichtet.»<br />

«Früher» fuhr sie fort, «ja früher war das<br />

Haus voll Leben. Nach Feierabend sassen<br />

Männer in der Stube, diskutierten, ereiferten<br />

sich, hieben etwa mit der Faust auf den<br />

Tisch, dass die Gläser klirrend aneinander<br />

schlugen. Neben dem Fenster sassen vier<br />

Männer und spielten Karten. «Stöck» rief<br />

der eine; «vier Bauern» triumphierte ein<br />

Anderer. Über den Köpfen schwebte ein<br />

Schleier aus Tabakrauch. Die Gespräche<br />

wurden hitzig, man stritt über die Politik,<br />

schimpfte über die Regierung oder klagte<br />

über die schlechte Ernte.»<br />

Aus dem Kind von damals war die alte<br />

Marie geworden. Längst hatte sie vom<br />

Nachbarn und seinen Schwestern Abschied<br />

genommen. Kein Gruss kam mehr von<br />

drüben, kein Räuchlein stieg aus dem<br />

Kamin. Seit dem Tod von Karl Wernli<br />

stand das Haus leer. Und nun lag sie<br />

schlaflos in ihrem Bett und wälzte Erinnerungen.<br />

Plötzlich horchte sie auf. Wieder diese<br />

Geräusche. Seit ein paar Wochen wiederholten<br />

sie sich Nacht für Nacht. Das war<br />

nicht nur der Wind, das waren nicht bloss<br />

alte Balken, die knarrten.<br />

Der Vollmond leuchtete in Maries Schlafzimmer.<br />

Sie stand auf, kleidete sich an<br />

und trat zur Türe hinaus. Das Nachbarhaus<br />

lag still. Marie ging langsam über<br />

den Wiesenpfad auf die Haustüre zu.<br />

Nichts regte sich.<br />

Da – da war es! Schritte schlurften über<br />

nackte Dielenbretter, leise klirrten Gläser.<br />

Es war unmöglich, aber Marie hörte es<br />

ganz deutlich. Die Geräusche kamen aus<br />

dem Haus nebenan!<br />

15<br />

Sie schauderte, wollte umkehren, aber<br />

wie unter einem Zwang stieg sie die paar<br />

Stufen zur Haustüre hinauf, drückte auf<br />

die Klinke – die Türe gab nach. Marie trat<br />

in den dunklen Korridor, rechts lag die<br />

Küche. Ein Stöhnen kam aus der Stube.<br />

Marie zitterte; vorsichtig stiess sie die Türe<br />

zur einstigen Wirtsstube auf. Durch das<br />

Fenster schien der Mond und tauchte die<br />

Stube in ein fahles Licht. Und da stand er,<br />

der ehemalige Wirt im Feld. Marie erkannte<br />

ihn. So hatte ihn die Grossmutter<br />

geschildert. Gross, stark, mit einem weissen<br />

Bart. Im linken Mundwinkel hing seine<br />

Tabakpfeife, aus der Westentasche blitzte<br />

die Uhrkette im Mondlicht. Seine Augen<br />

suchten die Stube ab, in jede Ecke guckte er.<br />

«Wo sind sie alle» jammerte er, «wo sind<br />

sie alle, die Jasser, die Bauern, die Kinder,<br />

die Menschen alle.» Er schlurfte zur Ecke,<br />

wo damals der runde Tisch gestanden<br />

hatte. «Wer gibt die Karten?» fragte er.<br />

Dann schaute er sich um. Marie stockte<br />

der Atem – aber der Wirt sah sie nicht.<br />

«Wann kommt ihr wieder?» rief er aus.<br />

«Wann kehrt endlich wieder Leben ein in<br />

dieses Haus?»<br />

Marie spürte einen kalten Hauch, der<br />

Wirt wandte sich zur Türe «Lisa» rief er in<br />

die Küche. «Stell die Suppe auf den Herd.<br />

Vielleicht hat jemand Hunger.»<br />

Er ging zurück in die Stube, setzte sich<br />

auf die Ofenbank und stützte den Kopf in<br />

beide Hände. «Das Leben» murmelte er,<br />

«das Leben muss wiederkehren in dieses<br />

Haus, erst dann finde ich meine Ruhe.»<br />

Vor Maries erstaunten Augen verwandelte<br />

sich der Wirt langsam in einen leichten<br />

Nebel, der sich mit dem Tabakqualm, der<br />

in der Stube zu hangen schien, vermischte.<br />

Verena Sandmeier

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