Berliner Kurier 23.09.2018
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Pur sind, vonlinks nach rechts: Joe Crawford,<br />
Hartmut Engler,Martin Ansel, Ingo Reidl und<br />
Rudi Buttas. Ihr 16. Album, das jetzt erschienen<br />
ist,dreht sich um Respekt für das uns Fremde.<br />
Fotos: Jens Wolf/dpa, Carsten Klick/Umusic/dpa<br />
aushalten, dass ich etwas zurückkriege.Ich<br />
kann auf einem<br />
Album zwölf Liebeslieder singen,<br />
dann entziehe ich mich jeder<br />
Diskussion und nehme<br />
auch nicht an der sozialen Veränderung<br />
teil. Oder ich bin –<br />
wie bei Pur üblich –offen für alle<br />
möglichen Themen.<br />
Hilft Kunst in schwierigen<br />
Zeiten?<br />
Zumindest weiß ich durch<br />
das Feedback, das ich bekomme,<br />
dass unsere Musik für viele<br />
Menschen durchaus eine Relevanz<br />
hat. Es geht bis hin zu<br />
Statements wie „Ihr habt mein<br />
Leben gerettet!“ Ich habe eine<br />
Verantwortung, wenn ich mich<br />
öffentlich äußere, und die nehme<br />
ich auch an. Deshalb ist alles,<br />
was ich singe, mehrfach<br />
durchdacht.<br />
Legen Sie auf die Texte mehr<br />
wert denn je?<br />
Ich war schon immer sehr<br />
sorgfältig, das sind ja keine<br />
Schnellschüsse. Als ich um meinen<br />
Vater getrauert habe,<br />
schrieb ich „Walzer für dich“,<br />
um mir noch einmal klarzumachen,<br />
was da passiert ist. Beim<br />
letzten Album habe ich mir das<br />
Leben meiner Mutter, die damals<br />
90 wurde, noch einmal angeschaut.<br />
Als sie dann starb,<br />
war ich mit mir im Reinen. Und<br />
in „Winter 59“ fragte ich mich,<br />
warum ich so bin, wie ich bin.<br />
Ich habe festgestellt, wenn<br />
mein Bruder nicht nach fünf<br />
Monaten abgegangen wäre,<br />
weil meine Mama beim Hausbau<br />
zu kräftig zupackte, wäre<br />
die Familienplanung 1959 abgeschlossen<br />
gewesen. Stattdessen<br />
bin ich auf die Welt gekommen.<br />
In welche Lebenssituation<br />
wurden Sie hineingeboren?<br />
Ich wurde in eine Lebenssituation<br />
hineingeboren, in der ich<br />
als Nachzügler das Glück der<br />
Familie dann doch noch vervollständigt<br />
habe. Ich wurde<br />
verhätschelt, aber ich musste<br />
wirklich alle happy machen.<br />
Meine Eltern haben sich viel<br />
gestritten, und ich war der<br />
Schlichter, weil ich ein lieber<br />
kleiner Kerl war. Man hat mir<br />
die Last auferlegt, für Harmonie<br />
zu sorgen. Das hat mich zu<br />
einem harmoniesüchtigen<br />
Menschen gemacht. Ich gehe<br />
keiner Konfrontation aus dem<br />
Weg, aber ich ertrage es bis<br />
heute ganz schwer, mich von<br />
jemandem zu trennen, mit dem<br />
Ich gehe<br />
keiner<br />
Konfrontation<br />
aus dem Weg.<br />
ich nicht im Reinen bin. Das<br />
verursacht bei mir wiederum<br />
Affen im Kopf, die mich nicht<br />
einschlafen lassen. Das ist ein<br />
Bild aus der buddhistischen<br />
Philosophie. Ich muss mich mit<br />
dem eigenen Atem und Herzschlag<br />
befassen, um die Affen<br />
ruhig zu kriegen.<br />
Die AfD hetzt gegen Flüchtlinge<br />
und nutzt vermeintlich<br />
harmlose Verbotsforderungen,<br />
um gegen Minderheiten<br />
wie Juden und Homosexuelle<br />
zu sticheln. Warum gehen<br />
Menschen überall Hetzern<br />
und Populisten so leicht auf<br />
den Leim?<br />
In meinem Umfeld kann ich<br />
es nicht nachvollziehen. Ich lebe<br />
recht idyllisch in der 40000-<br />
Einwohner-Stadt Bietigheim-<br />
Bissingen. Auch wir haben<br />
AfD-Wähler, was ich nicht begreifen<br />
kann. Wir haben quasi<br />
Vollbeschäftigung, und die<br />
Flüchtlinge bereiten wenig<br />
Probleme. Ich habe durchaus<br />
Sorge, dass es noch mehr werden,<br />
die so verquer denken,<br />
weil sie falsch informiert sind.<br />
Das eigentlich Schlimme an der<br />
AfD sind nicht deren Inhalte,<br />
sondern sie macht den Menschen<br />
Angst vor Dingen, vor denen<br />
man überhaupt keine Angst<br />
haben muss. Ich hoffe immer<br />
noch, dass es sich irgendwann<br />
verläuft.<br />
Wie erhalten Sie sich Ihren<br />
Optimismus in Zeiten wie<br />
diesen?<br />
Ich bin grundsätzlich in allen<br />
Lebenslagen pessimistisch,<br />
weil ich mich richtig darüber<br />
freuen will, wenn es dann doch<br />
nicht so schlimm kommt, wie<br />
ich es befürchtet habe. Esist ein<br />
Zweckpessimismus. Wenn bei<br />
Bandsitzungen beschlossen<br />
wird, wie groß die Hallen bei<br />
einer Tournee sein sollen, bin<br />
ich immer derjenige, der sagt:<br />
„Ob wir das noch hinkriegen?“<br />
Und über ein „Ausverkauft“<br />
freue ich mich immer am meisten.<br />
Fazit: Ich bin zwar ein Pessimist,<br />
aber ein hoffnungsfroher.<br />
Das Interview führte<br />
Olaf Neumann<br />
Hartmut Engler und Pur spielen am<br />
Sonnabend, dem 15. Dezember 2018,<br />
in der Mercedes-Benz-Arena Berlin