24.09.2018 Aufrufe

Berliner Kurier 23.09.2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

19<br />

Pur sind, vonlinks nach rechts: Joe Crawford,<br />

Hartmut Engler,Martin Ansel, Ingo Reidl und<br />

Rudi Buttas. Ihr 16. Album, das jetzt erschienen<br />

ist,dreht sich um Respekt für das uns Fremde.<br />

Fotos: Jens Wolf/dpa, Carsten Klick/Umusic/dpa<br />

aushalten, dass ich etwas zurückkriege.Ich<br />

kann auf einem<br />

Album zwölf Liebeslieder singen,<br />

dann entziehe ich mich jeder<br />

Diskussion und nehme<br />

auch nicht an der sozialen Veränderung<br />

teil. Oder ich bin –<br />

wie bei Pur üblich –offen für alle<br />

möglichen Themen.<br />

Hilft Kunst in schwierigen<br />

Zeiten?<br />

Zumindest weiß ich durch<br />

das Feedback, das ich bekomme,<br />

dass unsere Musik für viele<br />

Menschen durchaus eine Relevanz<br />

hat. Es geht bis hin zu<br />

Statements wie „Ihr habt mein<br />

Leben gerettet!“ Ich habe eine<br />

Verantwortung, wenn ich mich<br />

öffentlich äußere, und die nehme<br />

ich auch an. Deshalb ist alles,<br />

was ich singe, mehrfach<br />

durchdacht.<br />

Legen Sie auf die Texte mehr<br />

wert denn je?<br />

Ich war schon immer sehr<br />

sorgfältig, das sind ja keine<br />

Schnellschüsse. Als ich um meinen<br />

Vater getrauert habe,<br />

schrieb ich „Walzer für dich“,<br />

um mir noch einmal klarzumachen,<br />

was da passiert ist. Beim<br />

letzten Album habe ich mir das<br />

Leben meiner Mutter, die damals<br />

90 wurde, noch einmal angeschaut.<br />

Als sie dann starb,<br />

war ich mit mir im Reinen. Und<br />

in „Winter 59“ fragte ich mich,<br />

warum ich so bin, wie ich bin.<br />

Ich habe festgestellt, wenn<br />

mein Bruder nicht nach fünf<br />

Monaten abgegangen wäre,<br />

weil meine Mama beim Hausbau<br />

zu kräftig zupackte, wäre<br />

die Familienplanung 1959 abgeschlossen<br />

gewesen. Stattdessen<br />

bin ich auf die Welt gekommen.<br />

In welche Lebenssituation<br />

wurden Sie hineingeboren?<br />

Ich wurde in eine Lebenssituation<br />

hineingeboren, in der ich<br />

als Nachzügler das Glück der<br />

Familie dann doch noch vervollständigt<br />

habe. Ich wurde<br />

verhätschelt, aber ich musste<br />

wirklich alle happy machen.<br />

Meine Eltern haben sich viel<br />

gestritten, und ich war der<br />

Schlichter, weil ich ein lieber<br />

kleiner Kerl war. Man hat mir<br />

die Last auferlegt, für Harmonie<br />

zu sorgen. Das hat mich zu<br />

einem harmoniesüchtigen<br />

Menschen gemacht. Ich gehe<br />

keiner Konfrontation aus dem<br />

Weg, aber ich ertrage es bis<br />

heute ganz schwer, mich von<br />

jemandem zu trennen, mit dem<br />

Ich gehe<br />

keiner<br />

Konfrontation<br />

aus dem Weg.<br />

ich nicht im Reinen bin. Das<br />

verursacht bei mir wiederum<br />

Affen im Kopf, die mich nicht<br />

einschlafen lassen. Das ist ein<br />

Bild aus der buddhistischen<br />

Philosophie. Ich muss mich mit<br />

dem eigenen Atem und Herzschlag<br />

befassen, um die Affen<br />

ruhig zu kriegen.<br />

Die AfD hetzt gegen Flüchtlinge<br />

und nutzt vermeintlich<br />

harmlose Verbotsforderungen,<br />

um gegen Minderheiten<br />

wie Juden und Homosexuelle<br />

zu sticheln. Warum gehen<br />

Menschen überall Hetzern<br />

und Populisten so leicht auf<br />

den Leim?<br />

In meinem Umfeld kann ich<br />

es nicht nachvollziehen. Ich lebe<br />

recht idyllisch in der 40000-<br />

Einwohner-Stadt Bietigheim-<br />

Bissingen. Auch wir haben<br />

AfD-Wähler, was ich nicht begreifen<br />

kann. Wir haben quasi<br />

Vollbeschäftigung, und die<br />

Flüchtlinge bereiten wenig<br />

Probleme. Ich habe durchaus<br />

Sorge, dass es noch mehr werden,<br />

die so verquer denken,<br />

weil sie falsch informiert sind.<br />

Das eigentlich Schlimme an der<br />

AfD sind nicht deren Inhalte,<br />

sondern sie macht den Menschen<br />

Angst vor Dingen, vor denen<br />

man überhaupt keine Angst<br />

haben muss. Ich hoffe immer<br />

noch, dass es sich irgendwann<br />

verläuft.<br />

Wie erhalten Sie sich Ihren<br />

Optimismus in Zeiten wie<br />

diesen?<br />

Ich bin grundsätzlich in allen<br />

Lebenslagen pessimistisch,<br />

weil ich mich richtig darüber<br />

freuen will, wenn es dann doch<br />

nicht so schlimm kommt, wie<br />

ich es befürchtet habe. Esist ein<br />

Zweckpessimismus. Wenn bei<br />

Bandsitzungen beschlossen<br />

wird, wie groß die Hallen bei<br />

einer Tournee sein sollen, bin<br />

ich immer derjenige, der sagt:<br />

„Ob wir das noch hinkriegen?“<br />

Und über ein „Ausverkauft“<br />

freue ich mich immer am meisten.<br />

Fazit: Ich bin zwar ein Pessimist,<br />

aber ein hoffnungsfroher.<br />

Das Interview führte<br />

Olaf Neumann<br />

Hartmut Engler und Pur spielen am<br />

Sonnabend, dem 15. Dezember 2018,<br />

in der Mercedes-Benz-Arena Berlin

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!