Berliner Kurier 02.10.2018
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*<br />
SERIE<br />
EXPEDITION OST<br />
DDR -Erbe neu entdeckt −<br />
waswir vom Gestern für morgen<br />
lernen können<br />
Teil 1<br />
Wirtschaft<br />
Mein Kind,<br />
das Kombinat<br />
Christa Bertag war einmal eine der ganz Großen der DDR-Wirtschaft.<br />
Sie leitete den VEB Berlin Kosmetik mit 8500 Mitarbeitern,<br />
sie führte den Betrieb auch nach der Wende weiter, wurde arbeitslos,<br />
fing von vorn an. Lange wollte ihre Geschichte niemand hören.<br />
Doch sie hat viel zu erzählen. Vom Stolz auf die Arbeit, Einfallsreichtum<br />
und lebenslangen Lernen<br />
Von<br />
Sabine Rennefanz<br />
Von dem Betrieb, der einmal<br />
ein ganzes Land mit<br />
Kosmetikprodukten<br />
versorgte, ist wenig geblieben.<br />
An dem Plattenbau in der Wolfener<br />
Straße in Marzahn hängt<br />
ein verwittertes Schild. „Berlin<br />
Cosmetics“ steht darauf. Davor<br />
steht Christa Bertag und zeigt<br />
auf ein Fenster im ersten Stock:<br />
„Mein Büro“, sagt sie. Die 76-<br />
Jährige war eine der ganz Großen<br />
der DDR-Wirtschaft, eine<br />
der wenigen Frauen, die es bis<br />
an die Spitze gebracht hat. Sie<br />
leitete einst das VEB Berlin<br />
Kosmetik mit 8500 Mitarbeitern,<br />
nach der Wende führte sie<br />
den Betrieb weiter.<br />
Sie hat zwei Systeme erlebt,<br />
sie war Kombinatsdirektorin,<br />
Chief Operating Officer, arbeitslos,<br />
Unternehmensberaterin.<br />
Am Ende des Arbeitslebens<br />
stand sie wieder dort, wo sie anfangen<br />
hat: im Labor.<br />
Für den Fototermin hat sie<br />
sich schick gemacht. Es ist das<br />
erste Mal seit vielen Jahren,<br />
dass die ehemalige Spitzenmanagerin<br />
an ihren alten Arbeitsplatz<br />
zurückgekehrt ist. Sie<br />
wirkt nervös, wird beim Rundgang<br />
immer stiller. „Berlin Cosmetics“<br />
hat heute etwa ein Dutzend<br />
Mitarbeiter, produziert<br />
wird auf dem Gelände nichts<br />
mehr.<br />
Ein paar Tage vor dem Treffen<br />
in Marzahn sitzt Christa<br />
Bertag im Erker in ihrem Häuschen<br />
in Karlshorst, leger gekleidet<br />
mit T-Shirt und Leggings.<br />
Es ist lange her, dass sie ein Interview<br />
gegeben hat. Wer wollte<br />
schon die alten Geschichten<br />
hören, noch dazu von einer<br />
ehemaligen Funktionärin, einer<br />
Vertreterin des SED-Staats? Jeder<br />
wusste doch längst alles,<br />
was man über die DDR-Wirtschaft<br />
wissen musste: leere Regale,<br />
Diktatur, Autos aus Pappe.<br />
Als habe es nicht auch anderes<br />
gegeben: Stolz auf die Arbeit,<br />
Kreativität, Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Christa Bertag beschönigt die<br />
DDR nicht. Sie berichtet von<br />
den berüchtigten Seminaren<br />
mit dem Minister Günther Mittag,<br />
der zweimal im Jahr alle<br />
Generaldirektoren zu sich rief<br />
und auf Linie brachte. „Das war<br />
furchtbar, alle haben vorher gezittert“,<br />
sagt sie im Rückblick.<br />
Am schlimmsten sei gewesen,<br />
dass kaum einer sich getraut<br />
habe, zu widersprechen. Einmal<br />
wurde sie auch angegriffen,<br />
weil nicht genug Blaufärbung