REGIOBUSINESS NR. 196 - Oktober 2018
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06 Blickpunkt<br />
<strong>Oktober</strong> <strong>2018</strong> I Jahrgang 17 I Nr. <strong>196</strong><br />
Im Westen<br />
nichts Neues<br />
Der 29. März 2019 ist der Stichtag: Dann tritt Großbritannien aus der<br />
Europäischen Union aus. Die Verhandlungen gestalten sich bislang<br />
wenig erfreulich. Die Fronten sind verhärtet, sowohl London als auch<br />
Brüssel wollen nicht von ihren Forderungen abweichen.<br />
Ein „No Deal“-Austritt wird wahrscheinlicher. VON MARIUS STEPHAN<br />
Vor mehr als zwei Jahren tat<br />
das britische Volk seine Meinung<br />
kund: Raus aus der Europäischen<br />
Union, forderten die<br />
Menschen im Königreich. Der<br />
„Brexit“ beschäftigt seitdem nicht<br />
nur die britische Regierung und<br />
die EU, sondern auch Unternehmen<br />
überall auf der Welt – nicht<br />
zuletzt in der Region Heilbronn-<br />
Franken, die in engen Handelsbeziehungen<br />
mit Großbritannien<br />
steht. Nicht wenige Firmen zwischen<br />
Schwäbisch Hall, Crailsheim<br />
und Künzelsau unterhalten<br />
erfolgreiche Tochtergesellschaften<br />
auf der Insel.<br />
KRISE Bereits kurz nach dem Votum<br />
2016 sorgten sich die Geschäftsführer<br />
eben jener Firmen<br />
um steigende Kosten, erhöhten administrativen<br />
Aufwand und längere<br />
Lieferzeiten. Der Blick in die<br />
Glaskugel wurde bei den Entscheidern<br />
jedoch von einem gewissen<br />
Optimismus begleitet. Zum<br />
Schlimmsten werde es sicher<br />
»Großbritannien<br />
hat keine Angst,<br />
ohne Deal zu<br />
gehen.«<br />
nicht kommen, die EU und das Königreich<br />
werden sich in irgendeiner<br />
– halbwegs sinnvollen – Form<br />
schon einigen.<br />
UNEINIGKEIT Die damaligen<br />
Befürchtungen scheinen sich nun<br />
jedoch immer weiter zu verfestigen:<br />
Die britische Premierministerin<br />
Theresa May schwor unlängst<br />
ihre Partei auf ihren „Chequers“<br />
genannten Plan ein, den die EU jedoch<br />
ablehnt. May will zwar den<br />
freien Warenverkehr mit der EU,<br />
die damit verknüpften unregulierten<br />
Finanztransaktionen, die Personenfreizügigkeit<br />
und den freien<br />
Dienstleistungsverkehr lehnt sie<br />
jedoch ab. Vier Punkte, welche<br />
Brüssel als „untrennbar“ bezeichnet.<br />
Britische Rosinenpickerei ist<br />
keine Option. May’s schärfster<br />
Gegner im eigenen Lager, der ehemalige<br />
Londoner Bürgermeister<br />
Boris Johnson, kanzelte aber<br />
selbst den „Chequers“-Plan als zu<br />
weich ab. Dies sei nicht, wofür<br />
das britische Volk gestimmt habe,<br />
Einsam: Premierministerin Theresa May sitzt beim Brexit zwischen allen Stühlen.<br />
da es Großbritannien „unter der<br />
Herrschaft der EU“ halte. Großbritanniens<br />
Position hilft auch nicht<br />
weiter, dass Labour-Chef Jeremy<br />
Corbyn auf dem letzten Parteitag<br />
wohl aus taktischen Gründen offen<br />
ließ, ob er als Oppositionsführer<br />
in Sachen Brexit an May’s<br />
Seite steht oder aber ein weiteres<br />
Referendum, das erneut Volkes<br />
Stimme zum Austritt befragen soll,<br />
unterstützen würde. Jüngste Umfragen<br />
deuten darauf hin, dass die<br />
Briten zum jetzigen Zeitpunkt für<br />
einen Verbleib in der EU votieren<br />
würden.<br />
SORGE Klar ist, dass ein Austritt<br />
Großbritanniens ohne Regelung,<br />
das sogenannte „No Deal“-Szenario,<br />
wirtschaftliche Nachteile für<br />
beide Seiten bereithält. Experten<br />
erwarten einen merklichen<br />
Schlag in der Konjunktur, sollte es<br />
Foto: NPG-Archiv<br />
zu dieser Situation kommen.<br />
Dann würde kein Abkommen geschlossen,<br />
das Zölle, Logistik und<br />
steuerliche Fragen zum beiderseitigen<br />
Vorteil regeln könnte. Aus<br />
Sicht der EU wäre Großbritannien<br />
dann einfach eine felsige Insel im<br />
Nordatlantik, der keine besondere<br />
Bedeutung mehr zukommen<br />
würde. Laut May habe das Königreich<br />
jedoch keine Angst, ohne<br />
Deal zu gehen.<br />
Komplizierter als eine Mondlandung<br />
Als komplexen Vorgang mit unklarem Ausgang bezeichnet Roland Alter, Professor für Betriebswirtschaft und Unternehmensführung an der Hochschule<br />
Heilbronn, die Brexit-Verhandlungen. Besonders Firmen mit engen Lieferbeziehungen zu Großbritannien sollten sich wappnen. INTERVIEW VON FRANK LUTZ<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Sie haben den<br />
Brexit in einer Studie als komplexer<br />
als die erste Mondlandung bezeichnet.<br />
Könnten Sie das näher<br />
erläutern?<br />
ROLAND ALTER Beide Projekte<br />
sind in sich objektiv außerordentlich<br />
komplex. Die Mondlandung<br />
startet allerdings mit einem klaren<br />
inhaltlichen Ziel, einem realistischen<br />
Zeitrahmen und ohne Relevanz<br />
der Kosten. Der Mond als<br />
Zielobjekt war und ist dynamisch,<br />
aber physikalisch berechenbar.<br />
Ganz zentral: Die Nation stand hinter<br />
dem Ziel. NASA war die geeignete<br />
und hochmotivierte Organisation<br />
für das Vorhaben. Der Brexit<br />
startet mit einer gespaltenen Nation,<br />
einer unklaren inhaltlichen<br />
Zielaussage und einem viel zu<br />
knappen zeitlichen Rahmen. Es<br />
fand nie eine gemeinsame nationale<br />
Diskussion zu den Kosten<br />
und Effekten der denkbaren Arten<br />
des Brexits und damit der Prioritäten<br />
statt. Es besteht bis heute kein<br />
gesellschaftlicher Konsens. Zudem<br />
ist die EU dynamisch und<br />
schwer berechenbar. Zugleich ist<br />
man auf britischer Seite überhaupt<br />
nicht vorbereitet und<br />
schätzt die Komplexität des Vorhabens<br />
in Relation zu den eigenen<br />
Fähigkeiten völlig falsch ein.<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Viele deutsche<br />
Unternehmen stellen sich auf<br />
einen ungeordneten Brexit ein.<br />
Welche Folgen hätte dieser für die<br />
Wirtschaft in der Region?<br />
ROLAND ALTER Die Firmen können<br />
grundsätzlich auf der Beschaffungsseite<br />
und auf der Absatzseite,<br />
direkt betroffen sein. Also einerseits<br />
die Einkäufer, die Komponenten<br />
aus Großbritannien beziehen<br />
und andererseits die Lieferanten,<br />
die dorthin liefern. Es wird auf jeden<br />
Fall Effekte für Firmen mit engen<br />
Lieferketten in das Land haben<br />
– etwa Automobilzulieferer.<br />
Allerdings ist das Volumen auf der<br />
Zulieferseite, was nach Großbritannien<br />
geht, zumeist überschaubar.<br />
Ein größeres Problem ist es,<br />
wenn Sie bestimmte Komponenten<br />
aus dem Land für Ihre Endprodukte<br />
benötigen. Dann müssen<br />
Sie rechtzeitig nach Alternativen<br />
suchen oder einen Vorrat anlegen.<br />
Die negative Hebelwirkung<br />
aus der Beschaffungsseite kann<br />
deutlich größer sein, als wenn Sie<br />
zum Beispiel fünf Prozent Umsatz<br />
in Großbritannien nicht mehr machen.<br />
Wunsch: Roland Alter hofft, dass sich die EU und die Briten doch<br />
noch auf einen tragfähigen Kompromiss einigen werden. Foto: HHN<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Gibt es auch<br />
Branchen, die vom Brexit profitieren<br />
könnten?<br />
ROLAND ALTER Gewinner sehe<br />
ich keine, denn ich sehe keine Unternehmen,<br />
die nennenswerte<br />
Marktanteile von britischen Firmen<br />
gewinnen könnten. Profitieren<br />
könnten die Finanzdienstleister,<br />
aber davon gibt es eher wenig<br />
in der Region.<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Was können<br />
Firmen in der Region tun, um sich<br />
auf einen möglicherweise ungeordneten<br />
Brexit vorzubereiten?<br />
ROLAND ALTER Sie sollten ihre<br />
Lieferungsbeziehungen mit Großbritannien<br />
bei Nicht-Standardteilen<br />
analysieren. Dabei sollten sie<br />
auch eine Stufe weiter schauen<br />
und zum Beispiel sicherheitshalber<br />
auch bei ihren nicht-britischen<br />
Lieferanten nachfragen:<br />
Sind in euren Zulieferungen eventuell<br />
Teile aus Großbritannien enthalten?<br />
Dann sollten sie ihre Verträge<br />
durchgehen und sich dabei<br />
fragen: Wie kann ich mich auf bestimmte<br />
Szenarien einstellen? Die<br />
Unternehmen sollten dazu einen<br />
Stresstest machen und überlegen:<br />
Was wäre, wenn die Lieferkette<br />
von und nach Großbritannien für<br />
sechs Wochen bis zu drei Monaten<br />
unterbrochen wird? Das Wegbrechen<br />
welcher Teile würde<br />
mich besonders treffen? Das ist alles<br />
nicht abwegig. Sie sollten sich<br />
mit ihren Logistikdienstleistern zusammensetzen<br />
und mit ihnen die<br />
notwendigen Dinge besprechen.<br />
Der IHK kommt hier eine wichtige<br />
Rolle zu, um ihren Mitgliedern robuste<br />
Empfehlungen zu geben,<br />
denn ich glaube, dass viele Unternehmen<br />
einfach überfordert sind.<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Wird der Brexit<br />
die deutsche Wirtschaft auch<br />
darüber hinaus treffen?<br />
ROLAND ALTER Ich sehe durchaus<br />
Risiken, dass von einer „No-<br />
Deal“-Situation und den chaotischen<br />
Folgen, über die dann täglich<br />
berichtet wird, ein rezessiver<br />
Impuls ausgehen könnte. Der<br />
deutsche Verbraucher könnte seinen<br />
Konsum runterfahren und<br />
das könnte zu einem Aufschaukeleffekt<br />
führen, der noch stärkere<br />
Auswirkungen auf die deutsche<br />
Wirtschaft hat als die unmittelbaren<br />
Risiken. Wir können kein wirtschaftliches<br />
Interesse an einem<br />
ungeregelten Austritt der Briten<br />
haben. Wir sollten sie im Sinne<br />
des gemeinsamen Nutzens möglichst<br />
gut an uns binden, auch als<br />
Stärkung der EU gegenüber anderen<br />
Ländern mit anderen Interessen.<br />
<strong>REGIOBUSINESS</strong> Wie sieht aus<br />
Ihrer Sicht das „Best-Case“- und<br />
wie das „Worst-Case“-Szenario<br />
für die Wirtschaft in der Region<br />
aus?<br />
ROLAND ALTER Das ideale Szenario<br />
wäre, wenn es ein zweites<br />
Referendum gibt, in dem sich die<br />
Briten mit überzeugender Mehrheit<br />
für Europa entscheiden. Ansonsten<br />
wäre der „Best Case“,<br />
wenn beide Seiten einen gesichtswahrenden<br />
Kompromiss finden,<br />
um den Austritt und die vorgesehene<br />
Übergangszeit in Kraft zu setzen.<br />
In den 21 Monaten Übergangszeit<br />
ab März 2019 muss<br />
dann in Großbritannien Klarheit<br />
geschaffen werden, was man eigentlich<br />
realistisch erreichen<br />
kann und wie es weitergehen soll.<br />
Der „Worst Case“ wäre, wenn es<br />
keinen Deal gibt und die Beziehungen<br />
zwischen Briten und EU auf<br />
das WTO-Konzept zurückfallen.<br />
Das würde zu Zollkontrollen mit<br />
Ketteneffekten an den Grenzen<br />
und darüber hinaus führen – in<br />
Großbritannien und der EU.<br />
www.hs-heilbronn.de