Berliner Zeitung 13.11.2018
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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 265 · D ienstag, 13. November 2018<br />
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Feuilleton<br />
Wegist weg. Oder nicht?<br />
Judith Schalansky erkundet Verschwundenes von Sapphos Liebeslyrik bis zum Palast der Republik: „Verzeichnis einiger Verluste“<br />
VonSabine Rohlf<br />
Wer ein launig-nostalgisches<br />
Kompendium<br />
ausgestorbener Berufe,<br />
Elektrogeräte<br />
und DDR-Produkte erwartet oder<br />
ein zorniges Manifest gegen Umweltzerstörung,<br />
ist hier im falschen<br />
Buch. Zwar finden sich im„Verzeichnis<br />
einigerVerluste“ durchaus ausgerottete<br />
Tierarten, eine Kindheit in<br />
Mecklenburg-Vorpommern, Mondkartenzeichner<br />
oder im Meer versunkene<br />
Inseln, aber Judith Schalansky<br />
geht ihr Thema ein bisschen<br />
grundsätzlicher an. Sie bespricht<br />
nicht Verluste am Übergang vom<br />
zweiten zum dritten Jahrtausend,<br />
Alltagsbedauern und Gesellschaftskritik,<br />
sondern schaut auf die Weltgeschichte<br />
vom Urknall bis in die<br />
ferne Zukunft, in der einst unsere<br />
Erde verglühen wird. Immerhin konzentriertsie<br />
sich dabei auf die letzten<br />
paar Jahrtausende.<br />
In zwölf Kapiteln lesen wir etwa<br />
vom Beginn des Ackerbaus an Euphrat<br />
und Tigris, als Menschen ihr<br />
Nomadenleben vermissten, von rollenden<br />
Köpfen während der Französischen<br />
Revolution, wir lesen voneiner<br />
längst vergessenen Weltreligion,<br />
von Greta Garbos schwindender<br />
Schönheit, vonEinhörnern, Bücherverbrennungen,<br />
bröselnden Archiven,<br />
zerstörten Kunstschätzen oder<br />
vomausgestorbenen Kaspischen Tiger.<br />
Der prächtigen Raubkatze ist<br />
keine umweltpolitische Anklage gewidmet,<br />
sondern eine herzzerreißende<br />
Schilderung der Tierkämpfe<br />
in Römischen Arenen. Sie zeigt eindrucksvoll,<br />
dass die Menschen „früher“<br />
weder netter noch weniger zerstörerisch<br />
waren als heute.<br />
Zwei Kapitel über eine dörfliche<br />
DDR-Kindheit, die Schalanskys eigene<br />
sein könnte, beschwören eine<br />
untergegangene Welt zwischen Palast<br />
der Republik, Gutshausruine<br />
und Plattenbauten, erzählen von<br />
ersten Erinnerungen, der Frage eines<br />
Kindes nach dem Tod, einem untreuen<br />
Vater. Dieses Erzählen wirkt<br />
sehr persönlich, wirdaber mit Fragezeichen<br />
versehen.Wareswirklich so?<br />
Lässt sich das überhaupt sagen?<br />
Lässt sich überhaupt etwas fixieren?<br />
Manchmal auch Poesie<br />
Stärker noch als in ihrem „Atlas der<br />
abgelegenen Inseln“, der die Sehnsucht<br />
nach paradiesischen Eilanden<br />
mit höllengleichen Robinsonaden<br />
konfrontiert und so jeder Projektion<br />
den Boden entzieht, reflektiert ihr<br />
neues Buch den Akt des Erzählens in<br />
Bezug auf sein stets abwesendes Sujet<br />
und führtihn gleichzeitig vor.<br />
Schalansky erkundet Verluste sowie<br />
die Mittel, ihnen zu begegnen, ja<br />
die Lücken womöglich zu schließen.<br />
Sieuntersucht sie in Ruinen, Gemälden<br />
und Landschaften, vor allem<br />
aber Büchern, Gedichten, Archiven<br />
und immer wieder in den Geschichten<br />
Verstorbener, die sie gern inder<br />
ersten Person erzählt.<br />
Sie liefert keine trockene Reflektion,<br />
sondernein Spiel mit der Kunst,<br />
etwas mit Worten zum Atmen,<br />
Judith Schalansky, Schriftstellerin und Buchgestalterin<br />
Schwingen, Vibrieren zu bringen,<br />
kurz, es lebendig werden, ja wiederauferstehen<br />
zu lassen. Und zwar<br />
während sie gleichzeitig darüber<br />
nachdenkt, was dabei eigentlich geschieht.<br />
Man kann dieses Schreiben<br />
BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK<br />
essayistisch nennen, aber tatsächlich<br />
entstehen dabei Erzählungen,<br />
manchmal auch Poesie.<br />
Anlässlich der größtenteils verschollenen<br />
Liebeslieder Sapphos<br />
geht es auch um die,glaubt man Sigmund<br />
Freud, ultimative Leerstelle<br />
(kein Penis!) des menschlichen Körpers:<br />
die weibliche genitale Anatomie.<br />
Neben dem von Patriarchen aller<br />
Jahrhunderte beharrlich geleugneten<br />
weiblichen Begehren, seinen<br />
gleichgeschlechtlichen Möglichkeiten<br />
und kreativen Implikationen<br />
widmet sich das Sappho-Kapitel außerdem<br />
der Schwierigkeit, dass<br />
Sprache auch in der freiesten Kultur<br />
nie alles sagen kann. Versagt sie<br />
doch, sobald sich heftige Körperimpulse<br />
und das Unbewusste regen.<br />
Wasbedeuten diese Lücken der Signifikation,<br />
diese Leerstellen, wenn<br />
Zeichen doch alles sind, was wir haben,<br />
um Vergangenes, Gegangenes<br />
zu bezeugen?<br />
Schalansky weiß um diese Unsicherheit<br />
wie um die manischen,<br />
meist wissenschaftlichen Versuche,<br />
alles festzuschreiben. Sieergeht sich<br />
mit ansteckendem Enthusiasmus in<br />
langen Aufzählungen biologischer,<br />
geologischer, astronomischer, kulturhistorischer,<br />
manchmal auch<br />
phantastischer Verluste und ihrer<br />
Details. Scheinbar mühelos verknüpft<br />
sie diese Wissensbeschwörungen<br />
mit erzählenden Passagen,<br />
die uns die Gefühle eines Försters<br />
um 1830 ebenso nahebringen wie<br />
den Geräuschpegel im Circus Maximus<br />
oder den Gestank neben geplünderten<br />
Heiligengräbern.<br />
Diese Schilderungen sind zuweilen<br />
fast ein bisschen pathetisch,<br />
manchmal auch lustig. Vorallem das<br />
letzte Kapitel über einen mondsüchtigen<br />
Botaniker zelebriert diesen<br />
Witz wie den Ernst, mit dem dieses<br />
Buch geschrieben wurde. Schön gestaltet<br />
ist es, wie alle Veröffentlichungen<br />
der preisgekrönten Buchgestalterin<br />
Schalansky,sowieso.<br />
Mit schwarzen Blättern zwischen<br />
den Kapiteln, deren Farbnuancen<br />
erst bei genauerem Hinsehen etwas<br />
längst Verschwundenes zeigen. Von<br />
außen sieht die Schwärze ein bisschen<br />
düster oder streng aus, wie<br />
Trauerränder oder ordnende Pappdeckel,<br />
während innen im Buch<br />
Geschichten liegen, die sich Kategorisierungen<br />
entziehen und die<br />
Lust am Text ebenso nähren wie den<br />
Intellekt.<br />
Erfreuliche Vermehrung<br />
Schon vorseinem Erscheinen wurde<br />
dem „Verzeichnis einiger Verluste“<br />
der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis<br />
zugesprochen. Undbestimmt folgen<br />
weitereEhrungen, auch Schalanskys<br />
„Atlas der abgelegenen Inseln“ oder<br />
ihr„Hals der Giraffe“ wurden mit Auszeichnungen<br />
und Lob überhäuft. Wie<br />
eine es schaffen kann, nicht nur ein<br />
gefeiertes Buch nach dem anderen zu<br />
schreiben, und zugleich eine ihrerseits<br />
höchst erfolgreiche Buchreihe<br />
(„Naturkunden“ bei Matthes &Seitz)<br />
herauszugeben, ist das Geheimnis Judith<br />
Schalanskys.Was ihre Arbeit betrifft,<br />
sind jedenfalls nicht Verlustezu<br />
beobachten, sondern eher eine erfreuliche<br />
Vermehrung ganz wunderbarer<br />
Bücher.<br />
JudithSchalansky: Verzeichniseiniger Verluste<br />
Suhrkamp, Berlin2018,252 S.,24Euro<br />
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