Berliner Zeitung 20.11.2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
2 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 271 · D ienstag, 20. November 2018<br />
·························································································································································································································································································<br />
Besser leben<br />
Ob Bassist, Bohrmaschine oder Bettgestell –bei nebenan.de kann jeder fündig werden. Hier entstehen sogar neue Freundschaften –und das in der unmittelbaren Nachbarschaft.<br />
NEBENAN.DE<br />
Ein Glück kommt selten allein.<br />
Diesen Schlusslässt die<br />
Geschichte von Melanie<br />
Burger zu, einer 46-Jährigen<br />
aus Friedrichshagen, einem Stadtteil<br />
vonBerlin-Köpenick. Siewollte einige<br />
Grünanlagen in ihrer Nachbarschaft<br />
am Müggelsee vom Müll befreien<br />
und schaffte nicht nur das.Sie<br />
fand eine neue Freundin und entwickelte<br />
das Heimatgefühl, das ihr<br />
lange gefehlt hat.Aber vonvorn.<br />
Köpenick bietet seinen Bewohnern<br />
ein paar wunderschöne Badestellen,<br />
doch die waren in diesem<br />
Sommer voller Müll. „Da lag Dreck<br />
wie verrückt“, sagt Burger. Nachts<br />
werdeamMüggelsee Partygemacht.<br />
Kippen, Bierdosen, Taschentücher<br />
bleiben zurück. Das sollte nicht so<br />
bleiben, fand sie. Schließlich wollte<br />
sie dort selbst gern baden und sich<br />
dabei wohlfühlen.<br />
Echte Menschen imNetz<br />
An einer Badestelle sah sie einen Zettel,<br />
der zum Aufräumen einlud und<br />
auf die Facebook-Seite „Forge abetter<br />
world“ verwies. Burger fand die<br />
Initiative der Anwohnerin Andrea<br />
Nickel großartig. „Doch Facebook ist<br />
nicht lokal genug und nicht jeder ist<br />
bei Facebook“, sagte sie sich.<br />
Sie kannte nebenan.de, ein digitales<br />
Netzwerk, das Menschen in Nachbarschaften<br />
miteinander in Kontakt<br />
bringt. Normalerweise ist Burger zurückhaltend,<br />
wenn es darum geht, ihre<br />
Daten im Internet zu hinterlassen.<br />
Dennoch fasste sie zu nebenan.deVertrauen:<br />
„Die sammeln keine Daten<br />
über mich. Die Menschen in dem<br />
Netzwerksind alle echt“, sagt sie.<br />
In der Tathat nebenan.de strenge<br />
Regeln für die Registrierung. Wer<br />
sich anmeldet, muss nachweisen,<br />
dass er tatsächlich am angegebenen<br />
Ort wohnt: mithilfe seines Personalausweises<br />
oder des Briefkopfs eines<br />
offiziellen Schreibens eines Amts,<br />
der Strom- oder Telefongesellschaft.<br />
Daswirdgeprüft und erst dann wird<br />
das Profil freigeschaltet.<br />
Mitglieder können anschließend<br />
mit ihren unmittelbaren Nachbarn<br />
in Kontakt treten –und zwar nur mit<br />
diesen. Das Netzwerk hat die Nachbarschaften<br />
so konzipiert, wie sie<br />
historisch gewachsen sind. Meist<br />
sind es nur wenige Straßenzüge.Wer<br />
möchte, kann die angrenzenden<br />
Nachbarschaften im eigenen Profil<br />
mit hinzunehmen. Melanie Burger<br />
ist zum Beispiel in Friedrichshagen<br />
Die virtuelle Nachbarschaft räumt auf<br />
WerLeute im Kiez kennenlernen will, registriert sich bei nebenan.de. Melanie Burger<br />
West registriert und eine von<br />
315 Nutzern inihrem Kiez. InFriedrichshagen<br />
Ostleben 411 aktiveNutzer.<br />
Angrenzende Nachbarschaften<br />
sind zum Beispiel Köpenick Nord,<br />
Köpenicker Dammvorstadt und der<br />
Köpenicker Altstadt-Kiez. Insgesamt<br />
erreichen Burgers Beiträge,wenn sie<br />
die angrenzenden Nachbarschaften<br />
aktiviert, 2660 Nachbarn.<br />
Um Anwohner zum Aufräumen<br />
einzuladen, postete Burger fünf Aufräumaktionen<br />
bei nebenan.de und<br />
die Zahl der Menschen, die sonntags<br />
kamen, um zu helfen, wuchs.„Wenn<br />
andere zur Messe gehen, trafen wir<br />
uns“, sagt sie. Anfünf Badestellen,<br />
am Eingang zu einem Park und auf<br />
Wegen sammelten bis zu 30 Freiwillige<br />
Müll ein. „Wir haben 106 fette<br />
blaue Müllsäcke vollbekommen“,<br />
sagt Burger. Hinzu kam Sperrmüll:<br />
Überlandkabel, Bettgestelle,Kinderwagen,<br />
Einkaufstrolleys. Die BSR<br />
half, die Säcke und den Sperrmüll<br />
fortzuschaffen und gabWarnwesten,<br />
Handschuheund Greifer aus.<br />
Burger staunte,wie die Aktion ihr<br />
Leben veränderte. Sie zog erst vor<br />
fünf Jahren nach Friedrichshagen.<br />
Ihre Eltern waren 1984 aus der DDR<br />
ausgebürgert worden, wo die Familie<br />
inRüdersdorf, imOsten Berlins,<br />
gelebt hatte. Nach vielen Jahren in<br />
Hamburgzog es Burger zurück in die<br />
alte Heimat. Doch wirklich Fußfasste<br />
sie erst in den letzten Monaten.<br />
Idealismus und Zusammenhalt<br />
Nach den Aufräumaktionen traten<br />
die Helfer gemeinsam den Heimweg<br />
an und blieben über die Sonntage<br />
hinaus verbunden. „Wenn ich durch<br />
die Straßen gehe,treffe ich Leute,die<br />
mit aufgeräumt haben. Wir bleiben<br />
stehen und quatschen ein bisschen“,<br />
sagt sie.<br />
Burger bewirbt inzwischen auch<br />
den Chor, indem sie singt, auf nebenan.de<br />
und hat vor kurzem durch<br />
das Netzwerk den perfekten Schuster<br />
gefunden, der auch noch bezahlbar<br />
war. Wenn sie über all das<br />
organisierte so eine Putzaktion amMüggelsee<br />
spricht, wird sie ganz gerührt, weil<br />
sie so viel Idealismus und Zusammengehörigkeit<br />
bei den Aufräumaktionen<br />
gespürt hat. Das wirkt bis<br />
heute nach „Es ist viel einfacher geworden,<br />
Menschen anzusprechen“,<br />
sagt sie dankbar. Und eine neue<br />
Freundin sie auch gefunden.<br />
Von Mechthild Henneke<br />
Wohin mit dem ganzen Laub im Garten? –Mancher kann es gut gebrauchen.<br />
Nachbarschaftshilfe wird großgeschrieben. –Gemeinsamkeit macht stark. ANDREA NICKEL (2)<br />
Beeindruckt hat sie zudem die<br />
Geschichte des Gründers von nebenan.de,<br />
Christian Vollmann. Der<br />
heute 41-Jährige hatte bereits eine<br />
steile Karriere hinter sich, bevor er<br />
vor drei Jahren nebenan.de online<br />
stellte. Ergründete unter anderem<br />
die Portale „eDarling“ und „my video“,<br />
die er beide mit hohem Gewinn<br />
verkaufte. Doch glücklich<br />
machte ihn das Geld nicht. Ersaß<br />
mit Frau und drei Kinderninseiner<br />
Eigentumswohnung in Mitte und<br />
überlegte, was als nächstes kommen<br />
könnte.<br />
Das amerikanische Vorbild von<br />
nebenan.de, „nextdoor“, kam ihm<br />
immer wieder in den Sinn und<br />
schließlich überzeugte er seinen<br />
Bruder und einen weiteren Partner<br />
eine deutsche Variante ins Leben zu<br />
rufen. Aufdie Frage,wieso Nachbarschaftshilfe<br />
heute digital organisiert<br />
werden muss,fallen Vollmann gleich<br />
drei Gründe ein.<br />
Der erste: „Es ist einfach und<br />
niedrigschwellig.“ Es sei praktisch,<br />
einen Tennispartner oder einen<br />
Saxophonisten für die Band per Internet<br />
zu suchen. Nebenan.de senke<br />
die Hürde, auf Fremde zuzugehen.<br />
Besonders wenn man sie um<br />
Hilfe bittet, zum Beispiel bei der<br />
Reparatur der Badezimmerlampe.<br />
Vor allem Menschen, denen es<br />
schwerfällt, fremde Leute anzusprechen,<br />
profitieren.<br />
Der zweite: „Die Plattform bewahrt<br />
vor unangenehmen Situationen“,<br />
sagt Vollmann. Er gibt das Beispiel<br />
einer Bohrmaschine, die man<br />
vomNachbarnleihen möchte.Bevor<br />
man überhaupt bei ihm klingele, beginne<br />
das Kopfkino: Stört man beim<br />
Abendessen? Schlafen die Kinder<br />
schon? Vielleicht versage man sich<br />
die Bitte am Ende –auch aus Angst<br />
vor einem Nein. Der Fall ist schließlich<br />
nicht unwahrscheinlich, dass<br />
der Nachbar eine Bohrmaschine hat<br />
und diese nicht gern abgibt. Eine<br />
Frage bei nebenan.de wird nur von<br />
denen aufgegriffen, die die Bohrmaschine<br />
gernverleihen.<br />
Der dritte: „Die Plattform erhöht<br />
die Wahrscheinlichkeit, das zu finden,<br />
was ich suche.“ Zum Nachbarschaftstreff<br />
kommen fünf bis 20 Leute.<br />
Und was, wenn der Saxophonist<br />
nicht dabei ist? Auf nebenan.de erreichen<br />
Nutzer mit angrenzenden<br />
Nachbarschaften mehrere Tausend<br />
Menschen. Da steigen die Chancen,<br />
den Wunschmusiker zu finden.<br />
Die Idee verfängt. Deutschlandweit<br />
hat nebenan.de mehr als eine<br />
Million Nutzer, in Berlin, wo die<br />
Plattform gestartet ist, sind es rund<br />
140000, in Brandenburgetwa 15 400.<br />
Nach Frankreich, Italien und Spanien<br />
ist nebenan.de schon expandiert.<br />
Fördermitgliedschaften gesucht<br />
Noch ist die Plattformkostenlos und<br />
werbefrei. Wer hier etwas sucht,<br />
kann unbehelligt von Cookies surfen.<br />
Seit kurzemwirbt das Portal um<br />
Fördermitgliedschaften, um Geld zu<br />
generieren. Es ist der erste Schritt zur<br />
Wirtschaftlichkeit. Bisher finanziert<br />
sich die Webseite aus eigenem Geld<br />
vonVollmann und dem vonInvestoren.<br />
Unter anderem ist der Burda<br />
Verlag beteiligt.<br />
In Zukunft soll lokales Gewerbe<br />
gegen Gebühren eingebunden werden<br />
und auch kommunale Behörden.„Ich<br />
sehe nebenan.de als digitale<br />
öffentliche Infrastruktur“, sagt<br />
Vollmann. Stadtverwaltungen hätten<br />
viel Kommunikationsbedarf mit<br />
den Bürgern. Hier vermutet der gelernte<br />
BetriebswirtPotenzial.<br />
Stammtisch mit Gemeinderat<br />
Dienebenan.de-Nutzerin Irina Szarvasy<br />
aus Hönow bei Berlin kann das<br />
bestätigen. Siegründete mithilfe der<br />
Plattform inihrer Nachbarschaft einen<br />
Stammtisch, um mehr Menschen<br />
in ihrer Siedlung kennenzulernen.<br />
Eigentlich ging es darum, zu<br />
plaudern und einen schönen Abend<br />
beim lokalen Griechen zu verleben.<br />
Doch Bauvorhaben der Gemeinde<br />
spielten bei den Treffen immer wieder<br />
eine Rolle.<br />
Die Bewohner wollten sich zum<br />
Beispiel über den neuen Schulbau<br />
informieren und luden schließlich<br />
sogar Bürgermeister und Ortsvorsteher<br />
zum Stammtisch ein. Der Kreis,<br />
der sich alle zwei Wochen trifft,<br />
wuchs zusammen und entwickelte<br />
sich zu einer informellenBürgervertretung.<br />
Ein Gemeinderat ist inzwischen<br />
fest dabei.<br />
Irina Szarvasy wurde kürzlich gefragt,<br />
ob sie nicht selbst für den Gemeinderat<br />
kandidieren will. Im Moment<br />
kann sie sich das noch nicht<br />
vorstellen, aber wer weiß. „Im Bauausschuss<br />
bin ich jetzt erst mal als<br />
sogenannte sachkundige Anwohnerin“,<br />
sagt sie fröhlich.