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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 46 · 2 3./24. Februar 2019 27<br />
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Feuilleton<br />
dass dies möglicherweise nur die<br />
Spitze des Eisbergs ist –umesmisslich,<br />
aber im Grunde verzeihlich zu<br />
finden.<br />
Denn wie könnte es auch anders<br />
sein: Ein Künstler, der nicht nur als<br />
Dirigent und Pianist Spitzenleistungen<br />
bringt, sondern gesellschaftlich<br />
und politisch engagiert ist, dessen<br />
Lebensleistung kaum auf vier Programmheft-Seiten<br />
zusammengefasst<br />
werden kann, den sich die<br />
Staatskapelle auf Lebenszeit zum Dirigenten<br />
gewählt hat und der Anfang<br />
der 90er-Jahre mit Ausnahmebezügen<br />
als Generalmusikdirektor der<br />
Staatsoper von Anfang an uneingeschränkte<br />
Ansprüche formulierte;<br />
ein Weltstar mit vier Staatsbürgerschaften,<br />
dessen Auszeichnungen<br />
gar nicht aufzuzählen sind –man erwartet<br />
nicht wirklich, dass so jemand<br />
mit anderen anders umgeht als vermutlich<br />
mit sich selbst: unnachgiebig,<br />
mit höchsten Ansprüchen, maximaler<br />
Selbstverantwortung und<br />
manisch fokussiert. Oder?<br />
Vonder Deutschen Presseagentur<br />
auf die Vorwürfe angesprochen und<br />
danach befragt, ob er sich selbst für<br />
einen „Diktator“ halte, distanzierte<br />
sich Barenboim von der politischen<br />
Noch herrscht<br />
das Nachkriegs-<br />
Einverständnis,<br />
dass persönliche<br />
Opfer unumgänglich<br />
sind.<br />
Daniel Barenboims Impulsivität ist auch das Ergebnis seiner schier unbegrenzten Machtfülle<br />
nanziell auf Weltniveau gebracht<br />
hat. Die öffentliche Hand hat ihm<br />
das Opernhaus aufs Feinste renoviert,<br />
ihm gleich daneben noch einen<br />
Konzertsaal als Privatspielplatz<br />
hingestellt und von deutschen<br />
Steuergeldern eine Hochschule<br />
finanziert, an der kein<br />
deutscher Staatsbürger studieren<br />
kann. Wenn das Geld nicht kommt,<br />
wird sofort mit Rücktritt gedroht,<br />
und das darf auf keinen Fall sein,<br />
denn wie schon der ehemalige Regierende<br />
Bürgermeister Klaus Wowereit<br />
sagte,ist Barenboim der einzige<br />
Musiker von Weltruf in dieser<br />
Stadt –womit er die damals hier tätigen<br />
Kollegen Simon Rattle, Kent<br />
Nagano und Marek Janowski zu<br />
Provinzgrößen degradierte.<br />
Wenn man sich derartig abhängig<br />
macht von einem Dirigenten,<br />
darf man sich nicht wundern,<br />
wenn einem ohnehin eher mäßig<br />
erzogenen Wunderkind innerlich<br />
Bedeutung des Begriffs, sagte aber:<br />
„Ich kann nicht zur Wahl stellen, der<br />
eine will hier schneller und der anderelangsamer<br />
spielen. DerDirigent<br />
bestimmt die Geschwindigkeit und<br />
die Lautstärke und ist insoweit ein<br />
Diktator –das bin ich dann natürlich<br />
auch. Aber wenn Sie vom menschlichen<br />
Umgang sprechen, bin ich alles<br />
andere. Sie können so viele Musiker<br />
fragen, die ein wichtiges Solo hatten.<br />
Die haben mich gefragt: Können Sie<br />
das bitte für mich etwas schneller<br />
oder langsamer machen, ich komme<br />
so nicht zurecht. Natürlich höre ich<br />
dann zu und wir finden gemeinsam<br />
einen Weg.“ Einen musikalischen<br />
Wegnatürlich.<br />
Auch im Bereich der klassischen<br />
Musik, die hinsichtlich des Präzisionsanspruches<br />
vermutlich mit keiner<br />
anderen Sparte zu vergleichen<br />
ist, werden hochrangige Dirigenten<br />
nach(ge)wachsen (sein), die andere<br />
Wege gehen, fragender und offener<br />
sind, neugieriger auf Einflüsse von<br />
außen und dennoch eine entschiedene<br />
künstlerische Aussage zu treffen<br />
imstande sind. Aber man muss<br />
sich darüber im Klaren sein, dass<br />
sich in einem System nicht nur ein<br />
Teil verändernkann.<br />
die Pferde durchgehen. Und was<br />
auch immer an seelischen Defekten<br />
dahintersteckt: Diewerden sich<br />
im Alter –Barenboim ist 76 –verstärken,<br />
das weiß jeder aus der Verwandtschaft.<br />
Barenboim gehört<br />
der Generation der Pulttyrannen<br />
schon nicht mehr an. Aber dass die<br />
heutigen Dirigenten freundlicher<br />
daherkommen und von Teamgeist<br />
reden, soll nicht dafür blind machen,<br />
dass die Mitgliedschaft in einem<br />
Spitzenorchester zu den belastendsten<br />
Berufen überhaupt gehört.<br />
Es ist hier wie in jedem anderen<br />
Beruf nach dem Wandel von<br />
der Disziplinar- zur Leistungsgesellschaft:<br />
Die Disziplinierung verschwindet<br />
nicht mit dem autoritären<br />
Chef, der Leistungsdruck wird<br />
vielmehr vom Musiker internalisiert.<br />
Man macht sich nun gegenseitig<br />
fertig. Wersich verspielt und<br />
dabei erwischen lässt, dem drohen<br />
auch unter Kollegen Mobbing und<br />
Seit fast drei Jahrzehnten saugt<br />
die sogenannte <strong>Berliner</strong> Stadtgesellschaft<br />
samt ihren Politikernkünstlerische<br />
Weltgeltung aus den Erfolgen<br />
der Staatskapelle –die letztlich allein<br />
Barenboim zugeschrieben werden.<br />
Von den vielleicht 150 Mitgliedern<br />
der Staatskapelle dürften selbst von<br />
den Solisten nur wenige einer größeren<br />
Öffentlichkeit bekannt sein.<br />
Über den Paukisten wirdinder Regel<br />
nicht geschrieben. Aber ein Dirigent<br />
kritisiert den Paukisten, weil er ihm<br />
wichtig ist. Wichtig sein muss. Er<br />
wäre nichts ohne ihn. Wenn das Orchester<br />
streikte, bliebe der Dirigent<br />
Ausschluss. Es ist wohl kein Gerücht,<br />
dass Alkohol, Betablocker<br />
und Psychopharmaka in Orchesternüppig<br />
konsumiertwerden.<br />
In der Staatskapelle kommt der<br />
autoritäre Chef noch oben drauf.<br />
Während alle anderen <strong>Berliner</strong> Orchester<br />
und Chöre ihre Mitglieder<br />
im Werbematerial fotografisch einzeln<br />
oder in kleinen Gruppen ablichten<br />
und ihnen Gelegenheit zur<br />
Vorstellung geben, ist das Gesicht<br />
der Staatskapelle ihr Dirigent. Wie<br />
die schweigende Mehrheit des Orchesters<br />
mit Barenboim klarkommt,<br />
weiß man nicht –wie auch:<br />
Entweder haben sie nicht zu klagen,<br />
oder sie haben Angst.<br />
DerInhalt dieser Nachrichten erstaunt<br />
kaum –Barenboim geht auch<br />
nicht darauf ein, sondern erwundertsich<br />
über den Zeitpunkt.„Wenn<br />
ich ihn“ –den mittlerweile in Kopenhagen<br />
arbeitenden Posaunisten<br />
Martin Reinhardt –„so ungerecht<br />
Gedanken über den künstlerischen Absolutismus<br />
anlässlich der Vorwürfe gegen Daniel Barenboim<br />
stumm. DerAlleinherrscher am Pult,<br />
der die Töne per Handstreich zu erschaffen<br />
scheint, als wäre es der<br />
achte Tagder Genesis –auch er ist<br />
ein Tänzer ohne eigenen Körper.<br />
Es passt zur digitalisierungsgetriebenen<br />
Emanzipation und Ausdifferenzierung<br />
immer weiterer Bevölkerungskreise,<br />
zur Ich-Kultur, dem<br />
sichtbaren Zerbröseln des Repräsentationsgedanken,<br />
der Infragestellung<br />
der Autoritäten und nicht zuletzt<br />
der durch all das ermöglichten<br />
MeToo-Bewegung, dass Einzelne<br />
ihre Rolle im Ganzen selbst definieren<br />
und Versehrungen nicht länger<br />
hinnehmen wollen. DerhöhereSinn<br />
auch künstlerischer Arbeit hat die<br />
Verletzung Einzelner vielleicht noch<br />
nie gerechtfertigt, aber bisher<br />
herrschte diesbezüglich gesellschaftsweit<br />
das Nachkriegs-Einverständnis,<br />
dass Dabeisein alles und<br />
persönliche Opfer unumgänglich<br />
seien. Doch perspektivisch gesehen<br />
gehen die nur für manche ausschließlich<br />
schönen Tage in Aranjuez<br />
nun zu Ende. Und mit dem Absolutismus<br />
wird auch der Geniebegriff<br />
schwinden. Mitdem absoluten Führungsanspruch<br />
die Notwendigkeit<br />
des absoluten Dienens. Bei jeder<br />
behandelt hätte, warum ist er dann<br />
zwölf oder 13 Jahrehiergeblieben?“<br />
Barenboim kann natürlich immer<br />
gehen und wohin er will. Für<br />
Musiker ist das ein finanzielles und<br />
familiäres Problem, und ab einem<br />
gewissen Alter werden auch Staatskapell-Mitglieder<br />
nicht überall mit<br />
Kusshand genommen. Dazu kommen<br />
seelische Abhängigkeiten,<br />
wenn das Selbstbewusstsein am<br />
Kollektiv hängt oder die Anerkennung<br />
durch den Patriarchen gesucht<br />
wird. Auch hier befremdet Barenboims<br />
kompletter Ausfall an<br />
Empathie, den man mit seiner<br />
Selbstdarstellung als Humanist und<br />
Weltbürger nicht zusammenreimen<br />
kann.<br />
Dennoch: Die Vorwürfe gegen<br />
Barenboim haben etwas Flaues, insofern<br />
sie auf der Welle des allgemeinen<br />
Gemaules segeln über exzentrische,<br />
schlecht erzogene Leistungsträger,die<br />
sich nun bitteschön<br />
PetraKohse<br />
glaubt an Widerstand –und<br />
Weggehen.<br />
Peter Uehling<br />
schaut illusionslos auf<br />
den Musikbetrieb.<br />
VonPetraKohse<br />
DPA/BERND VON JUTRCZENKA<br />
Neubesetzung hochrangiger Leitungsstellen<br />
wird inzwischen auf<br />
Teamstrukturen geachtet. Und die<br />
Öffentlichkeit muss sich daran gewöhnen,<br />
dass an die Stelle ganzjähriger<br />
Bestrahlung bestellter Sonnenkönige<br />
tendenziell das Wechselwetter<br />
künstlerischer Partizipationsprozesse<br />
treten wird. Dasist das eine.<br />
Das andere ist, dass die Gesellschaft<br />
im Augenblick der Krise des<br />
Systems, das der Hochleistungskünstler<br />
und Multifunktionär Barenboim<br />
repräsentiert, noch einmal die<br />
Gelegenheit hat, ihre eigenen Ansprüche<br />
und Projektionen sowie die<br />
Ängste auf allen Seiten zu erkennen.<br />
Undbeobachtet, wie auch in diesem<br />
Fall durch schlichtes Aufstehen<br />
Misslichkeiten öffentlich und dadurch<br />
verändert werden können.<br />
Warum nicht eher, warum nicht direkt,<br />
muss man sich mit Blick auf die<br />
Zukunft natürlich fragen. Undschon<br />
das Bewusstsein dieser Möglichkeit<br />
macht einen Unterschied.<br />
zerschneiden sollen in geniale Geister<br />
und angepasste Gesellschaftsmitglieder.<br />
Zweifellos ist Barenboims<br />
Verhalten unmöglich, aber<br />
wenn einem die Teilhabe an seiner<br />
einzigartigen Musikalität wichtig ist,<br />
muss man es wohl in Kauf nehmen.<br />
Dieextreme Intensität seines Musizierens<br />
ist vonseinerextremen seelischen<br />
Disposition wohl kaum zu<br />
trennen; freundliche Dirigenten wie<br />
der nicht weniger intensive Simon<br />
Rattle sind eben anders. Mit dem<br />
Anderen kann man sich auseinandersetzen<br />
– bei den Londoner<br />
Proms haben Musiker, die Barenboim<br />
angebrüllt hat, zurückgebrüllt<br />
–oder sind ihm aus demWeggegangen.<br />
Zum<br />
ersten Mal<br />
aus Asien<br />
Künstler-Kollektiv aus<br />
Jakarta kuratiert Documenta<br />
Zum ersten Mal wird die Leitung<br />
der Documenta aus einem Team<br />
bestehen, zum ersten Mal wird sie<br />
aus Asien kommen: Das Künstler-<br />
Kollektiv Ruangrupa aus dem indonesischen<br />
Jakarta soll die „documenta<br />
15“ im Jahr 2022 kuratieren.<br />
Dies gaben die Verantwortlichen der<br />
weltweit wichtigsten Schau für zeitgenössische<br />
Kunst am Freitag in Kassel<br />
bekannt. Ruangrupa, das aus einem<br />
festen Kern aus zehn Künstlern<br />
besteht, tritt damit die Nachfolge<br />
von Adam Szymczyk an, der die documenta<br />
14 vorzweiJahren künstlerisch<br />
verantwortete. Eskönnen aber<br />
noch mehr Künstlerinnen und<br />
Künstler an dem Kollektiv beteiligt<br />
sein.<br />
Ruangrupa besteht seit dem Jahr<br />
2000, gegründet hat es der 1974 geborene<br />
Ade Darmawan, von Anfang<br />
an gehörte eine Galerie dazu, aus der<br />
inzwischen ein großes Kulturzentrum<br />
geworden ist. Ihr Internet-Radioprogramm<br />
RuRu-Radio war bei<br />
der letzten Documenta Teil des Documenta-Radios.<br />
Seit 2004 organisiertdie<br />
Gruppe die Biennale Jakarta<br />
32ºC mit visueller Kunst, sie war unter<br />
anderem an der Gwangju Biennale<br />
(2002 und 2018), der Istanbul<br />
Biennale (2005) und der Singapur Biennale<br />
(2016) beteiligt. Ruangrupa<br />
beschäftigt sich mit dem urbanen<br />
Raum,naheliegend, wenn man in einer<br />
Mega-City mit rund zehn Millionen<br />
Einwohnern lebt. Farid Rakun<br />
und Ade Darmawan, die Ruangrupa<br />
am Freitag in Kassel vertraten, formulieren<br />
einen partizipativen kura-<br />
Ade Darmawan(l.) und Farid Rakun am<br />
Freitag in Kassel<br />
UWE ZUCCHI /DPA<br />
torischen Anspruch: „Wir wollen<br />
eine global ausgerichtete, kooperativeund<br />
interdisziplinäreKunst- und<br />
Kulturplattform schaffen, die über<br />
die 100 Tage der Documenta 15 hinaus<br />
wirksam bleibt. Unser kuratorischer<br />
Ansatz zielt auf ein anders geartetes,<br />
gemeinschaftlich ausgerichtetes<br />
Modell der Ressourcennutzung<br />
– ökonomisch, aber auch im Hinblick<br />
auf Ideen, Wissen, Programme<br />
und Innovationen.“<br />
Für die achtköpfige Findungskommission<br />
begründete Elvira<br />
Dyangani Osevon The Showroom in<br />
London die Entscheidung unter anderem<br />
damit, dass die Gruppe in der<br />
Lage sei, vielfältige Zielgruppen anzusprechen,<br />
auch solche, die über<br />
ein reines Kunstpublikum hinausgingen.<br />
„In einer Zeit, in der innovative<br />
Kraft insbesondere von unabhängigen,<br />
gemeinschaftlich agierenden<br />
Organisationen ausgeht, erscheint<br />
es folgerichtig, diesem<br />
kollektiven Ansatz mit der documenta<br />
eine Plattformzubieten.“<br />
Ihr Vorgänger Szymczyk war<br />
künstlerisch wie wirtschaftlich in die<br />
Kritik geraten: Mit ihren erstmals<br />
zwei Standorten in Kassel und Athen<br />
kam die Documenta 14 auf ein Defizit<br />
von 7,6 Millionen Euro und<br />
stürzte darüber in eine Krise. Auch<br />
künstlerisch wurde das Konzept unter<br />
anderem als zu didaktisch und<br />
schwer verständlich kritisiert. Es kamen<br />
aber mit mehr als einer Million<br />
Besucher so viele Menschen wie<br />
noch nie zu der Schau.<br />
DieDocumenta hat sich seit 1955<br />
zur weltweit bedeutendsten Ausstellung<br />
für zeitgenössische Kunst entwickelt.<br />
Eine ähnliche Größenordnung<br />
erreicht nur noch die Venedig-<br />
Biennale. Seit 1972 findet die Documenta<br />
alle fünf Jahrestatt. (suz./dpa)