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12 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 64 · M ontag, 18. März 2019<br />
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Berlin<br />
Schwangerschaftsabbrüche<br />
von <strong>Berliner</strong>innen<br />
Schwangerschaftsabbrüche nach Altersgruppen<br />
in Berlin, 2017<br />
10 994<br />
unter 18 Jahren<br />
2,5 %<br />
10 881<br />
10 637<br />
18 bis unter 20 Jahre<br />
4,3 %<br />
10 024<br />
20 bis unter 25 Jahre<br />
18,0 %<br />
9621<br />
9648<br />
9402<br />
9503<br />
9393<br />
9269<br />
9289<br />
25 bis unter 30 Jahre<br />
30 bis unter 35 Jahre<br />
26,1 %<br />
24,7 %<br />
8871<br />
8800<br />
35 bis unter 40 Jahre<br />
17,2 %<br />
8643<br />
8494<br />
§ 219a<br />
40 bis unter 45 Jahre<br />
6,5 %<br />
2003<br />
’04<br />
’05<br />
’06<br />
’07<br />
’08<br />
’09<br />
’10<br />
’11<br />
’12<br />
’13<br />
’14<br />
’15 ’16 ’17<br />
45 Jahre und älter<br />
0,6 %<br />
BLZ/HECHER; QUELLE: STATISTIKAMT BERLIN-BRANDENBURG<br />
Wiedie Abtreibungsfrage die Ärzteschaft spaltet<br />
Leben muss geschützt werden, sagen die einen. Frauen haben das Recht, selbst zu entscheiden, meinen die anderen. Zwei Gynäkologen erklären ihre Haltung<br />
VonAnnika Leister<br />
Deutschland streitet wieder<br />
über Abtreibungen.<br />
Feministen und Konservative<br />
stehen sich dabei<br />
unversöhnlich gegenüber. Wie<br />
schon bei den letzten großen Debatten<br />
Anfang der 70er- und Mitte<br />
der 90er-Jahre geht es auch 2019<br />
wieder um die zentrale Frage: Was<br />
wiegt mehr –der Schutz des ungeborenen<br />
Lebens oder das Recht der<br />
Frau, über ihren Körper zu bestimmen?<br />
Und darf der Staat durch Gesetze<br />
wie die Paragrafen 218 und<br />
219a Partei ergreifen?<br />
Paragraf 218: Schwangerschaftsabbrüche<br />
werden im Strafgesetzbuch durch zwei Paragrafen<br />
geregelt. Laut Paragraf 218 sind sie<br />
rechtswidrig,eine Straftat. Sie bleiben in den<br />
ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft<br />
aber straffrei: Wenn die Frau sich zuvor bei einer<br />
staatlich anerkannten Stelle beraten<br />
lässt und drei Tage bis zum Eingriff abwartet,<br />
oder wenn der Eingriff medizinisch oder kriminologisch<br />
(Vergewaltigung) indiziertist.<br />
RECHTSWIDRIG, ABER STRAFFREI<br />
Paragraf 219a: Abtreibungsgegner gründen<br />
ihre aktuellen Klagen gegenFrauenärzte auf<br />
Paragraf 219a, der einen „Vermögensvorteil“<br />
wegenWerbung für Schwangerschaftsabbrüche<br />
verbietet. Weil das Wort „Werbung“ nicht<br />
näher definiertund jeder Frauenarzt für seine<br />
Leistungen bezahlt wird, also ein „Vermögensvorteil“<br />
automatisch vorliegt, können<br />
auch kurze, sachliche Infos auf Frauenarzt-<br />
Webseiten zu einer Verurteilung führen.<br />
In den vergangenen Monaten<br />
stehen dabei vor allem die Ärzte im<br />
Fokus,die den umstrittenen Eingriff<br />
vornehmen. Doch sie sind in ihrer<br />
Branche in der Minderheit –und es<br />
werden immer weniger.<br />
Ob sie Schwangerschaften beenden,<br />
überlässt der Staat ihrem Gewissen.<br />
Allein von 2003 bis 2018 ist<br />
die Zahl der Praxen und Kliniken,<br />
die Abtreibungen vornehmen, nach<br />
Berechnungen des Statistischen<br />
Bundesamts um 40 Prozent gesunken.<br />
In manchen ländlichen Regionen<br />
müssen Frauen mehr als hundert<br />
Kilometer zurücklegen, um einen<br />
Arzt zu finden, der bereit ist,<br />
den Eingriff vorzunehmen.<br />
In einigen Städten, wie zum Beispiel<br />
Trier, nimmt nach ARD-Recherchen<br />
kein einziger Arzt mehr<br />
diesen Eingriff vor. DieKluft, die die<br />
Gesellschaft bei diesem Thema<br />
durchzieht, teilt auch die Ärzteschaft.<br />
Warumwagen manche Ärzte den<br />
Eingriff, warum verweigern ihn so<br />
viele andere? Und was bedeutet das<br />
für ihre Patientinnen? Repräsentative<br />
Erhebungen zu diesen Fragen<br />
gibt es nicht, nur Einzelstimmen.<br />
Besuch bei zwei <strong>Berliner</strong> Extrempolen<br />
in dieser Diskussion.<br />
Wenn Johannes Decker Patientinnen<br />
in seiner Praxis am<br />
Kreuzberger Mehringplatz empfängt,<br />
nehmen sie vor seinem<br />
Schreibtisch Platz. Zwischen Arzt<br />
und Frau, an der Wand direkt neben<br />
dem Tisch, hängt dann ein Schriftstück:<br />
„Der Arzt soll und darf nichts<br />
anderes als Leben schützen“, sind<br />
die ersten Wörter darauf.<br />
DerText stammt aus einem Buch<br />
vonGoethes Leibarzt Christoph Wilhelm<br />
Hufeland, veröffentlicht wurde<br />
er 1805. Für Decker ist es der Leitfaden<br />
für seine Arbeit im Jahr 2019. Seit<br />
gut drei Jahrzehnten ist der hagere<br />
Mann Frauenarzt. In seiner langen<br />
Karrierehat er nicht eine Abtreibung<br />
durchgeführt, versicherter.<br />
Warum?„Man kann eine Schwangerschaft<br />
nicht an- oder abschalten,<br />
so wie es einem gefällt“, sagt Decker<br />
ruhig. Ein Bein hat er über das andere<br />
geschlagen. Seine Frau kommt<br />
zwischendurch kurz inden Raum,<br />
lächelt und grüßt nickend. Sie ist<br />
Arzthelferin in der Praxis, zusammen<br />
hat das Paar sieben Kinder.<br />
Patchwork. Ein Foto der jüngsten,<br />
eineiige Zwillingsmädchen, klebt an<br />
Deckers Monitor.<br />
Seine Haltung speise sich aus der<br />
ärztlichen Ethik der„letzten Tausend<br />
Jahre“, sagt Decker. „Eine persönliche<br />
Entscheidung, die bis vor50Jahrenjaauch<br />
Konsens war.“ Er ist gläubig,<br />
römisch-katholisch. Das spiele<br />
eine Rolle –gebe aber nicht den Ausschlag.<br />
Aufgabe des Arztes sei es immer,„für<br />
das Leben zu beraten“, und<br />
zwar für das ungeborene,soversteht<br />
Decker seinen Beruf.<br />
Der 65-Jährige ist Mitglied des<br />
Vereins „Ärzte für das Leben“ und<br />
damit Teil der umstrittenen Lebensschutz-Bewegung.<br />
Extreme Aktivisten<br />
dieser Bewegung protestieren<br />
Abtreibungsgegner<br />
Für das ungeborene Leben<br />
betend vor den Praxen von Deckers<br />
liberalen Kollegen und verklagen sie<br />
auf Basis des Paragrafen 219a. Der<br />
Präsident der Bundesärztekammer<br />
sieht in dem Druck, den die Abtreibungsgegner<br />
ausüben, den Grund<br />
„Dieses Leben<br />
beginnt mit der<br />
Befruchtung<br />
der Eizelle und es<br />
muss geschützt<br />
werden.“<br />
Johannes Decker, Frauenarzt in<br />
Kreuzberg und Mitglied des<br />
Vereins „Ärzte für das Leben“<br />
dafür, dass immer weniger Frauenärzte<br />
Schwangerschaftsabbrüche<br />
vornehmen wollen.<br />
Decker betont, dass die Lebensschutz-Bewegung<br />
divers sei. Er<br />
selbst missioniere nicht, trage seine<br />
Haltung eigentlich nicht nach au-<br />
BLZ/ENGELSMANN<br />
ßen. Doch die Strafen für seine Kollegen<br />
seien gerechtfertigt, die Paragrafen<br />
218 und 219a notwendig. Decker<br />
versteht sie als Bollwerkgegen einen<br />
gesellschaftlichen „Mainstream“,<br />
dem das ungeborene Leben nur<br />
noch wenig gilt.<br />
Dieses Leben beginnt für ihn mit<br />
der Befruchtung der Eizelle und<br />
müsse geschützt werden. Manchmal<br />
auch vorder Frau, die es in sich trägt,<br />
und den Ärzten, die sie behandeln.<br />
Viele staatlich anerkannte Beratungsstellen<br />
wie ProFamilia, die den<br />
Schein ausstellen, der eine Abtreibung<br />
erst straffrei macht, gehen<br />
nach Deckers Geschmack zu schnell<br />
vor. „Stempelstellen“, sagt er und<br />
klingt zum ersten Malabfällig.<br />
Lieber verweist er Patientinnen,<br />
die an einen Abbruch denken, an<br />
konfessionsgebundene Stellen wie<br />
die Caritas oder die Diakonie. Dort<br />
loten die Mitarbeiter mit den Frauen<br />
vorallem die Alternativen zur Abtreibung<br />
aus,die Caritas stellt gar keinen<br />
Beratungsschein aus. „Hervorragende<br />
Sozialberatung“, lobt Decker.<br />
Die Hilfsangebote heute seien<br />
zahlreich, soziale Stigmata gegen Alleinerziehende<br />
nicht mehr vorhanden,Verhütungsmittel<br />
gut und leicht<br />
verfügbar. „Davon konnten Frauen<br />
vor100 Jahren nur träumen.“<br />
Ist für ihn also jede der rund<br />
100 000 Abtreibungen in Deutschland<br />
pro Jahr unnötig? Nein, auch<br />
Decker räumt bereitwillig ein, dass<br />
„gravierende soziale Probleme“<br />
Frauen dazu führen könnten, sich<br />
gegen ein Kind zu entscheiden. Dass<br />
es für diese Frauen legale Möglichkeiten<br />
gebe,darüber sei er froh.„Weil<br />
ich mich um diese Problemfälle gewissensmäßig<br />
nicht kümmern<br />
muss“, sagt er. „Das machen meine<br />
Kollegen.“<br />
Gabriele Halder findet, Gynäkologen<br />
wie Johannes Decker dürfte<br />
es gar nicht geben.„Eigentlich müssten<br />
alle Frauenärzte Abtreibungen<br />
vornehmen“, sagt sie.Wer das nicht<br />
wolle, könne ja in die Reproduktions-Medizin<br />
gehen, habe in der Erstversorgung<br />
von Frauen aber wenig<br />
verloren.<br />
Gabriele Halder lehnt sich über<br />
den Schreibtisch in ihrer Wilmersdorfer<br />
Praxis, spricht und gestikuliert<br />
energisch. Seit den 80ern ist sie<br />
Frauenärztin in Berlin, ebenso lange<br />
nimmt sie Abtreibungen vor. Im Landesverband<br />
von Pro Familia ist sie<br />
Vorstandsmitglied.<br />
Auch für die 66-Jährige,die selbst<br />
drei Kinder hat, ist eine Abtreibung<br />
kein ganz gewöhnlicher Eingriff.<br />
Egal, wie oft sie ihn schon gemacht<br />
hat. Sie ist in Baden-Württemberg<br />
aufgewachsen und wurde streng katholisch<br />
erzogen. Die Bedenken der<br />
Konservativen kennt sie nur zu gut.<br />
Doch das Leben der Frau und ihr<br />
Recht auf Selbstbestimmung haben<br />
für Halder Priorität. Schuld fühle sie<br />
bei einer Abtreibung nicht. „Eher<br />
eine Form vonBetroffenheit.“<br />
Halder vertraut den Frauen. Ihrer<br />
Erfahrung nach entscheiden sie sich<br />
nicht leichtfertig gegen ein Kind,<br />
sondern wohlüberlegt. Viele, die<br />
eine Schwangerschaft abbrechen,<br />
hätten bereits mehrere Kinder. „Sie<br />
wissen sehr genau, was ein Kind bedeutet.“<br />
Nach wie vorsei Nachwuchs<br />
für Frauen verbunden mit massiven<br />
Nachteilen im Berufsleben, ungewollte<br />
Schwangerschaften führten<br />
sie häufig direkt in die Armut.<br />
Halder versteht es als ihre Aufgabe<br />
und Gebot der Fairness,Patientinnen<br />
in dieser schwierigen Situation<br />
nicht im Stich zu lassen.<br />
Die Paragrafen 218 und 219a, die<br />
Abtreibungsbefürworterin<br />
Eine Frage der Fairness<br />
Schwangerschaftsabbrüche als<br />
rechtswidrig definieren und Informationen<br />
unter Strafe stellen, sind<br />
für Halder ein massives Problem.<br />
„Sie wirken wie ein bleiernes Tuch“,<br />
sagt sie. „und führen zu Angst und<br />
„Wir müssen<br />
Frauen vor<br />
ungewollten<br />
Schwangerschaften<br />
schützen.“<br />
Gabriele Halder, Frauenärztin<br />
in Wilmerdorf. Sie erklärt<br />
Medizinstudenten der Charité<br />
in Seminaren Abtreibungen.<br />
Zurückhaltung –nicht nur bei Frauenärzten,<br />
sondern auch in der Forschung.“<br />
DieFolgen für Frauen in Deutschland<br />
seien dramatisch: In der Ausbildung<br />
seien Abbrüche kaum Thema,<br />
viele Frauenärzte schreckten vorden<br />
Eingriffen zurück. Es tue sich rein gar<br />
nichts bei der Entwicklung sicherer<br />
Verhütungsmittel, die ungewollte<br />
Schwangerschaften von vornherein<br />
verhindern könnten. „Deutschland<br />
hinkt in der Frauengesundheit weit,<br />
SABINE GUDATH<br />
weit hinterher.“ Ein Blick in andere<br />
Länder verrate, wie es besser gehe.<br />
Kanada zum Beispiel hat die Regelungen<br />
zu Abtreibungen in den 80er-<br />
Jahren aus dem Strafrecht gestrichen.<br />
Seither werden sie wie jeder<br />
andere ärztliche Eingriff behandelt.<br />
Die Zahlen sind seitdem sogar gesunken,<br />
und nach wie vor finden 90<br />
Prozent der Eingriffe vor der zwölften<br />
Schwangerschaftswoche statt.<br />
In Deutschland scheint eine so liberale<br />
Regelung weit entfernt, zuletzt<br />
konnten sich Union und SPD lediglich<br />
auf eine Mini-Reformdes Paragrafen<br />
219a verständigen. Halder<br />
kämpft auf anderen Wegen für eine<br />
bessere Versorgung der Frauen: Mit<br />
Kolleginnen hat sie eine Appentworfen,<br />
die Frauen beim medikamentösen<br />
Schwangerschaftsabbruch in<br />
den eigenen vier Wänden begleitet.<br />
In Seminaren der „Medical Students<br />
for Choice“, einer Studentengruppe<br />
an der Charité, erklärt sie angehenden<br />
Medizinern, wie sie eine Abtreibung<br />
vornehmen. Die Studenten<br />
üben dann in ihrer Freizeit zum ersten<br />
Mal mit Vakuum-Pumpen, Papayas<br />
die Kerne abzusaugen –weil<br />
Form und Aufbau der Frucht grob<br />
dem Uterus ähneln.<br />
Neben Halders Schreibtisch,<br />
zwischen Ärztin und Patientin,<br />
hängt ein Familienerbstück: ein<br />
großes Gemälde der Heiligen Familie.<br />
Der Hintergrund ist dunkel, Josef<br />
sehr alt, Maria außergewöhnlich<br />
jung, das Jesuskind liegt leichenbleich<br />
in ihrem Schoss, fast<br />
wie tot.<br />
Halder hat das Bild erst nach<br />
langem Überlegen aufgehängt.<br />
Doch für sie ist die entglorifizierte<br />
Heilige Familie ein Sinnbild für das<br />
Leben: „Es ist halt nicht immer alles<br />
einfach.“