Berliner Zeitung 02.04.2019
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14 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 77 · D ienstag, 2. April 2019<br />
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Berlin<br />
Freie Wahl für freie Bürger,fordertHeinrich Strößenreuther,Mitinitiator des <strong>Berliner</strong> Mobilitätsgesetzes und Autor des Buches „Der Berlin-Standard“. WerRad fahren will, soll sicher und bequem vorankommen, sagt er.<br />
DPA/JÖRG CARSTENSEN<br />
„In der Innenstadt haben viele ihr Auto längst abgeschafft“<br />
Ist es richtig, die <strong>Berliner</strong> aufzufordern,<br />
ihr Auto abzuschaffen?<br />
Ja, ohne Wenn und Aber!<br />
Denn die Grenzen des Wachstums<br />
bei der Zahl der Autos und Lkw<br />
in Berlin sind längst überschritten.<br />
Um mehr als 15 000 Kraftfahrzeuge<br />
wächst der Bestand jedes Jahr.<br />
Bei vier Millionen Einwohnern wären150<br />
000 zusätzliche Autos zu verkraften,<br />
die Parkplatzflächen vonder<br />
Größe eines Tempelhofer Feldes benötigen.<br />
Ausschließlich legal beparkte<br />
Straßen sind schon heute die<br />
Seltenheit. Werwill schon mehr Stau<br />
und weniger freie Parkplätze? Autofahrer<br />
müssten schon aus egoistischem<br />
Eigeninteresse die Verkehrssenatorin<br />
beknien, möglichst viele<br />
andere Autofahrer aufzufordern, ihr<br />
Auto abzuschaffen.<br />
Wären da nicht auch noch Fahrverbote,weil<br />
zu viele Autos an Messstellen<br />
ihre Ausdünstungen hinterlassen.<br />
Oder die Klimakrise, weil zu<br />
viele Autos Megatonnen Kohlendioxid<br />
in den Himmel blasen, die unser<br />
Wetter zum Kippen bringen –im<br />
vergangenen Hitzesommer standen<br />
die Waldbrände kurz vor den Toren<br />
Berlins.Keiner hörtgerne den tosen-<br />
den Lärmder Straßen in seinem Vorgarten<br />
oder mag seine Kinder noch<br />
mehr Autos und Lkws aussetzen.<br />
Freie Wahl für freie Bürger<br />
Gastbeitrag<br />
Fahrradaktivist Heinrich Strößenreuther findet<br />
den Aufruf der Verkehrssenatorin gut –und nimmt<br />
„egoistische Vorstadtschmarotzer“ aufs Korn<br />
„Die Grenzen des Wachstums<br />
bei der Zahl der Autos und Lkw in Berlin<br />
sind überschritten.“<br />
BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER<br />
Abgesehen davon: Die 1,2 Millionen<br />
Pkw, die derzeit in Berlin zugelassen<br />
sind, entziehen der Öffentlichkeit<br />
Fläche –die zum Beispiel für billiges<br />
Wohnen fehlt. Ja, esist richtig, die<br />
<strong>Berliner</strong> aufzufordern, ihr Auto abzuschaffen.<br />
Ein Jammer, dass die<br />
Verkehrssenatorin Regine Günther<br />
zwei Jahrebrauchte,umsolch einfache<br />
Sätze auszusprechen. Sätze, die<br />
der von ihr entlassene Verkehrsstaatssekretär<br />
Jens-Holger Kirchner<br />
schon vorher en passant in die Debatte<br />
eingebracht hat –wofür er von<br />
ihr einen Maulkorb verpasst bekam.<br />
Aber:Für das Abschaffen braucht<br />
es Alternativen. Kann ich sicher und<br />
entspannt mit dem Radfahren? Sind<br />
4000 Kilometer Radwege bis 2030<br />
gebaut, gilt freie Wahl für freie Bürger?<br />
Empfinde ich keine Sorgen,<br />
lasse ich auch meine Kinder wieder<br />
aufs Rad –das Elterntaxi wird überflüssig.<br />
Die Minderheit der Autobesitzer<br />
unter den zwei Millionen Innenstadt-Einwohnern<br />
wird zunehmend<br />
vergessen, wo ihr Auto parkt,<br />
weil das Rad zuoft die bessereWahl<br />
war. Laut Statistik ist jeder zweite<br />
Wegnicht mal fünf Kilometer lang.<br />
Verkehrsprobleme in der Stadt<br />
sind auch außerhalb zu lösen. Die<br />
Staus bilden sich durch zu viele Autos<br />
vor allem in den Zufahrtstraßen,<br />
in der Stadt spürtman sie kaum. Der<br />
Aufschrei kommt denn auch mehr<br />
von den Zehlen- oder Reinicken-<br />
Dörflern, die als egoistische „Vorstadtschmarotzer“<br />
in den Villenund<br />
Eigenheimgegenden im Grünen<br />
bei frischer Luft leben. Unbewusst –<br />
aber gleichzeitig zwangsläufig –vergrößern<br />
die Autofahrer aus den Außenbezirken<br />
mit ihrer Automobilität<br />
die Probleme der anderen <strong>Berliner</strong>.<br />
Auch die Bewohner der Außenbezirke<br />
brauchen Alternativen, die der<br />
Berlin-Standard imMobilitätsgesetz<br />
längst gesetzlich vorschreibt: 100 Kilometer<br />
Radschnellwege morgen<br />
und nicht erst 2027, 50 000 Bike-and-<br />
Ride-Plätze, die bis 2025 verpflichtend<br />
zu bauen sind, um mit dem<br />
Radel zur Bahn zu fahren und sich<br />
dann gemütlich <strong>Berliner</strong>-<strong>Zeitung</strong>-lesend<br />
in die Stadt chauffieren zu lassen.<br />
4000 Kilometer Radwege in der<br />
Stadt, damit auch die letzten Urbanisten<br />
aufs Rad umsteigen. Wäre ich<br />
Autofahrer, würde ich möglichst<br />
viele Freunde und Kollegen überreden,<br />
ihren Wagen abzuschaffen und<br />
aufs Radumzusteigen.<br />
Dasbeste Anti-Stau-Programm<br />
Spät abends in der Innenstadt sind<br />
tatsächlich fast nur noch Taxis unterwegs,denn<br />
dorthaben viele ihr Auto<br />
schon längst abgeschafft. Am Alexanderplatz<br />
haben sich die Kfz-Bewegungen<br />
in den vergangenen 20 Jahren<br />
halbiert. In vielen anderen Städten<br />
schrumpft der Kfz-Verkehr ebenfalls.<br />
Wie also sagen wir’s denen<br />
draußen in den Außenbezirken und<br />
vor der Stadt, dass wir sie mit ihren<br />
Autos nicht mehr im Zentrum wollen,<br />
dass sie das Stau-Selbermachen-<br />
Spiel gerne draußen spielen dürfen?<br />
Der Berlin-Standard, das Mobilitätsgesetz,<br />
ist Deutschlands bestes<br />
Anti-Stau-Programm. Dieses<br />
schnellstmöglich umzusetzen, ist<br />
die beste Einladung, das Auto abzuschaffen.<br />
Bisher erschienen: Roland Stimpel (25.März),<br />
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