Berliner Zeitung 18.07.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 164 · D onnerstag, 18. Juli 2019 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
NorbertScheuer<br />
über sein neues Buch<br />
„Winterbienen“<br />
Seite 22<br />
„Ich gehöre zu den vielen Lesern, die ihr niemals gedankt haben.“<br />
Arno Widmann gratuliert der Verlegerin Katharina Wagenbach-Wolff zum 90. Geburtstag Seite 23<br />
Löschungen<br />
Klick<br />
und weg<br />
Harry Nutt<br />
begibt sich hinein in die<br />
Cancel Culture.<br />
Die amerikanische Sängerin<br />
Pink macht nicht mehr mit.<br />
Nachdem eine Bildnachricht von<br />
ihren spielenden Kindern im<strong>Berliner</strong><br />
Holocaust-Mahnmal die übliche<br />
Kommentierungswut ausgelöst<br />
hatte, quittierte sie nun der Bildnachrichtenplattform<br />
Instagram<br />
ihrevollständige Mitarbeit. „Es wird<br />
keine Kommentare mehr auf dieser<br />
Seite geben, die könnt ihr an jemand<br />
anderen verteilen“, schrieb<br />
Pink zu einem Schnappschuss, auf<br />
dem sich ihr Ehemann Carey Hart<br />
im Pool vergnügt. Ihre Fans liebe sie<br />
trotzdem, schrieb sie noch und<br />
schaltete – zumindest vorübergehend<br />
–ab.<br />
Die Reaktion der Sängerin ist ein<br />
Beispiel für das,was seit einiger Zeit<br />
unter dem StichwortCancel Culture<br />
verhandelt wird. Im immer stärker<br />
als erbittertes Ringen aufgeführten<br />
Werben um öffentliche Aufmerksamkeit<br />
gibt es auch den umgekehrten<br />
Weg. Siekann entzogen werden.<br />
Keineswegs nur in der Form eines<br />
demonstrativen Protestes, wie Pink<br />
ihn gegen die bösartige Wucht ihrer<br />
falschen Fans richtete. Es häufen<br />
sich die Beispiele, indenen eine Art<br />
digitaler Liebesentzug als moralische<br />
Waffe daherkommt.<br />
Auf drastische Weise war davon<br />
der Schauspieler Kevin Spacey betroffen,<br />
der nach Vorwürfen der sexuellen<br />
Belästigung aus dem Jahr<br />
1986 eines damals 14-jährigen Jungen<br />
aus dem aktuellen Film des Regisseurs<br />
Ridley Scott getilgt wurde.<br />
Als Werbefigur für die Automarke<br />
Renault hat man Spacey, der als<br />
Darsteller der „House of Cards“-Figur<br />
Frank Underwood weltberühmt<br />
wurde, ebenfalls nicht mehr gesehen.<br />
Ein Gerichtsverfahren gegen<br />
ihn steht, nachdem Beweismittel<br />
verschwunden zu sein scheinen,<br />
vor der Einstellung. Das Urteil über<br />
den Künstler Kevin Spacey aber<br />
scheint gefällt. Die Cancel Culture<br />
zeichnet sich aus durch ihren Rigorismus<br />
und der kaum vorhandenen<br />
Möglichkeit, die einmal vollzogene<br />
Abwendung wieder zu korrigieren.<br />
VonCornelia Geißler<br />
Mit seinem Comissario<br />
Montalbano hat Andrea<br />
Camilleri Geschichte<br />
geschrieben,<br />
26 Bücher, die von Menschen und<br />
ihren Abgründen erzählen. Diese<br />
Krimis zeigen Italien, speziell Sizilien,<br />
in einem liebevoll-kritischen<br />
Blick. Dass Andrea Camilleri als einer<br />
der erfolgreichsten italienischen<br />
Schriftsteller der Gegenwart auch in<br />
der Öffentlichkeit stand, nahm er, je<br />
älter er wurde, immer stärker auch<br />
als Aufgabe wahr. AmMittwoch ist<br />
Camilleri imAlter von 93Jahren gestorben.<br />
Zwölf Millionen Bücher verkaufte<br />
er allein in seiner Heimat. Der<br />
Anteil seiner deutschsprachigen Leser<br />
war gewaltig, die Statistik nennt<br />
vier Millionen ins Deutsche übersetzte<br />
und verkaufte Titel.<br />
Die Verantwortung des Autors<br />
Ein Sizilianer mit Gewissen<br />
Zum Toddes italienischen Schriftstellers Andrea Camilleri<br />
Andrea Camilleri (1925–2019)<br />
Camilleri, auf Sizilien geboren und<br />
aufgewachsen, hatte zunächst als<br />
Theater- und Hörspielregisseur gearbeitet,<br />
an der Nationalen Filmschule<br />
und dann an der Nationalakademie<br />
der Dramatischen Künste<br />
in Romgelehrt.„Eigene Leser war ich<br />
also gar nicht gewohnt“, erzählte er<br />
der Literaturkritikerin Maike Albath,<br />
als diese ihn im September 2018 besuchte.„Leser<br />
fühlen sich direkt von<br />
einem angesprochen, sie suchen<br />
den Kontakt, schreiben, wollen etwas<br />
von dir.“ Diese Erfahrung<br />
schärfte sein Bewusstsein für seine<br />
Verantwortung als Autor. Seit 1978<br />
veröffentlichte er mehrere Romane,<br />
„Hahn im Korb“ hieß der erste, und<br />
erhielt dafür wichtige Literaturpreise.Doch<br />
erst Commissario Montalbano<br />
machte ihn seit 1994 zum<br />
Bestsellerautor. Camilleri schrieb<br />
seine Krimis in genauem Bewusstsein<br />
der Möglichkeiten des Genres<br />
und stets mit einem starken Interesse<br />
ander Gesellschaft. Den Namen<br />
gab er seiner Figur auch als ein<br />
Zeichen der Verehrung für den spanischen<br />
Schriftsteller Manuel<br />
VázquezMontalbán (1939–2003), einem<br />
Franco-Kritiker und Journalisten.<br />
Comissario Montalbano arbeitet<br />
im fiktiven Ort Vigàta, den Camilleri<br />
seiner Heimatstadt PortoEmpedocle<br />
nachempfunden hat. Für die Verfilmungen<br />
wählte man das etwas weniger<br />
verbaute, südlicher gelegene Ragusa.<br />
Mehr als 30 Folgen wurden seit<br />
1999 gedreht, noch 2018, zu Zeiten<br />
von Netflix und anderen Ablenkungen,<br />
hatte eine neue Episode mit<br />
mehr als elf Millionen Zuschauernin<br />
Italien einen Marktanteil von 45Prozent.<br />
Es sind viele Aspekte, die Comissario<br />
Montalbano so anziehend machen,<br />
seine Leidenschaft für italienisches<br />
Essen gehört genauso dazu<br />
wie sein Gesundheitszustand und<br />
seine Launen. Er fragt oft scheinbar<br />
abwegig, denkt aber weiträumig. Er<br />
DPA/MARIO DE RENZIS<br />
mag machohaft wirken, doch ist er<br />
ein Verfechter vonRecht und Gesetz.<br />
Ein Mann wie der Autor selbst, der<br />
sich lange als Kommunist bezeichnete.Erlegte<br />
sich mit Berlusconi an,<br />
den er einen Verfassungsfeind<br />
nannte, beklagte die Heftigkeit des<br />
Polizeieinsatzes beim G8-Gipfel in<br />
Genua und kritisierte den italienischen<br />
Innenminister Matteo Salvini<br />
nicht nur für seine Weigerung,<br />
Flüchtlingsschiffe an Land zu lassen,<br />
sondern jüngst auch dafür, dass er<br />
öffentlich mit einem Rosenkranz<br />
aufgetreten sei.<br />
„Der Ideenschmuggler“ nannte<br />
Maike Albath das Kapitel über Camilleri<br />
inihrem Buch „Trauer und<br />
Licht“, das Wort stammte von ihm<br />
selbst. Er gab zu, den Erfolg der Krimis<br />
auszunutzen, um „bestimmte<br />
politische und soziale Ideen unters<br />
Volk zu bringen. Ich betätige mich<br />
als Ideenschmuggler“. Bereits erblindet,<br />
konnte er zuletzt nur noch<br />
mithilfe seiner Assistentin arbeiten.<br />
Er diktierte,sie las die Passage vor, er<br />
überarbeitete und erzählte weiter.So<br />
hielt er sich am Leben. Den letzten<br />
Band um Montalbano aber hatte er<br />
bereits geschrieben. Sein Verlag<br />
sollte ihn erst nach seinem Todherausbringen.<br />
Eine Mondphase lang<br />
DieTageszeitung La Repubblica rechnete<br />
schon zu Lebzeiten mit der Reinkarnation<br />
des Autors. „Sollte Camilleri<br />
wiedergeboren werden“, zitiert<br />
der Verlag Nagel &Kimche das Blatt<br />
auf dem Buchrücken von„Die Revolution<br />
des Mondes“, und sollte er<br />
„weitere Krimis schreiben, wäre sein<br />
Montalbano eine Frau.“ Der Roman,<br />
2013 im Original erschienen, ist ein<br />
herausragendes Beispiel für die Kunst<br />
Camilleris als Autor historischer Romane.Auch<br />
diese haben ihresichtbarenund<br />
unsichtbaren Verbindungslinien<br />
in die Gegenwart. „Die Revolution<br />
des Mondes“ geht vonder Tatsache<br />
aus, dass der von Spanien auf<br />
Sizilien eingesetzte VizekönigimJahr<br />
1677 überraschend starb und dann<br />
nicht übergangsweise der Bischof auf<br />
den Thron folgte, sondern die Witwe<br />
desVizekönigs. Sie war damit, so Camilleri,„zu<br />
jener Zeit die einzige Frau<br />
derWelt, die ein so hohes politisches<br />
und administratives Amt bekleidete“.<br />
Eine Mondphase lang regierte sie.<br />
Der Autor zeichnet sie mit starkem<br />
Gerechtigkeitsempfinden, hoher Bildung,<br />
analytischer Gedankenschärfe<br />
und blendender Schönheit. In einem<br />
männlich dominierten korrupten<br />
System schafft siees, das Volk auf ihre<br />
Seite zu bringen. Sie überführt sogar<br />
den Bischof des sexuellen Missbrauchs<br />
an Chorknaben.<br />
Andrea Camilleri schrieb Krimis<br />
auch für Leser, die das Genre sonst<br />
mieden, und seine Ausflüge in die<br />
Geschichte sind Bücher für heute.<br />
Für die kommende Woche ist das Erscheinen<br />
eines Erzählungsbandes<br />
angekündigt,„Der Teufel, natürlich“.<br />
NACHRICHTEN<br />
Neue deutsche Filme beim<br />
Festival in Locarno<br />
Derdeutsche Spielfilm „Das freiwillige<br />
Jahr“ vonUlrich Köhler („Schlafkrankheit“)<br />
und Henner Winckler<br />
(„Lucy“) wirdimWettbewerb des<br />
72. Internationalen Filmfestivals von<br />
Locarno seine Weltpremierefeiern.<br />
DasVater-Tochter-Drama bewirbt<br />
sich neben 16 anderen Filmen um<br />
den Hauptpreis,den Goldenen Leoparden,<br />
des Festivals vom7.bis<br />
17. August in Locarno.Das Festival<br />
wirderstmals vonder Französin Lili<br />
Hinstin geführt. (dpa)<br />
Rund fünf Millionen Euro<br />
für Festivals in Berlin<br />
Mitknapp fünf Millionen Euro unterstützt<br />
Berlin in den kommenden<br />
vier Jahren rund zwei Dutzend Festivals<br />
und Kulturreihen. DasProgramm<br />
zur„spartenoffenen Förderung“<br />
solle neben etablierten Festivals<br />
auch neueVorhaben in den<br />
Stadtteilen sichern, teilte die Senatskulturverwaltung<br />
mit. Nach langem<br />
Auswahlverfahren habe eine Jury 26<br />
Projekte ausgesucht und Empfehlungen<br />
für die künftige Förderung gegeben.<br />
Neben Geldernfür bestehende<br />
Festivals wie die Autorentheatertage<br />
(500 000 Euro), der Europäische Monat<br />
der Fotografie (500 000 Euro)<br />
oder„48 Stunden Neukölln“ (180 000<br />
Euro)kommen weitereVorhaben in<br />
die Festivalförderung. Dazu gehören<br />
das Treffen„Tactics of Empowerment“<br />
(150 000 Euro)zur digitalen<br />
Kultur und Politik, der„Kiezsalon“<br />
der InitiativeDigital Berlin<br />
(49 800 Euro)und das Filmfestival<br />
„Afrikamera“ (68 300 Euro). (dpa)<br />
Südafrikanischer Musiker<br />
JohnnyClegg gestorben<br />
DerMusiker Johnny Clegg ist tot.<br />
Er erlag am Dienstag im Alter von<br />
66 Jahren in Johannesburgeiner<br />
Bauchspeicheldrüsenkrebserkrankung,<br />
teilte sein Konzertveranstalter<br />
mit. Derimbritischen Rochdale geborene<br />
Clegg trat schon während der<br />
Zeit der Apartheid mit schwarzen<br />
Musikernauf, „weißer Zulu“ wurde<br />
er auch genannt. Sein Song „Scatterlings<br />
of Africa“ war Teil des Soundtracks<br />
des Films „Rain Man“ von<br />
1988. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Maulfeil<br />
Ich mein<br />
ja bloß<br />
VonUte Cohen<br />
Lässig wirken, bitte! Nur nicht den Anschein<br />
erwecken, einen erzieherischen<br />
Anspruch zu erheben! Der pädagogische<br />
Zeigefinger sollte ganz schnell wieder weggesteckt<br />
werden. Schon besser! Jetzt noch<br />
eine geschmeidige Satzstruktur, ein paar<br />
knackige Verben, ein Ausrufezeichen hier,<br />
ein Pünktchen da, und schon sitzt der Satz!<br />
Mit Texten ist es wie mit Frisuren: Man<br />
muss die angemessene Form wählen, nicht<br />
zu kurz, nicht zu lang, und mit viel Kunstfertigkeit<br />
ein scheinbar anstrengungsfreies Ergebnis<br />
erzielen. Da blitzgescheite Eingebungen<br />
und eiserne Disziplin nicht jedem täglich<br />
vergönnt sind, gibt es die Trickser unter<br />
uns,die mit ein paar einfachen Kniffen einen<br />
ganz natürlich wirkenden Out-of-Bed-Look<br />
aufs Papier zaubern. Der Out-of-Bed-Look<br />
ist übrigens die Königin der Frisuren. Nicht<br />
ein aufwändig geflochtener Mozartzopf oder<br />
ein mit der Wasserwaage auf Präzision getrimmter<br />
Pony zeugen von den Fähigkeiten<br />
eines Meister-Coiffeurs.Nein, die Zotteln am<br />
rechten Fleck zeichnen ihn aus. Schließlich<br />
sollen seine Kunden so aussehen, wie sie sich<br />
fühlen: wild und ungebändigt, durch nichts<br />
aus der Ruhe zu bringen, ein bisschen verspielt<br />
und vorallem entspannt. Dass sie sich<br />
durch nichts und niemanden in eine Form<br />
pressen lassen, versteht sich vonselbst.<br />
Autor und Friseur verbindet eine Seelenverwandtschaft.<br />
Texte sind mindestens so<br />
kapriziös wie Haare. Leser wiederum erwarten<br />
eine ebenso lässige Brillanz von einem<br />
Text wie Out-of-Bed-Fans vonder Frisur.Wie<br />
also locker wirken, ohne journalistischer<br />
Nachlässigkeit verdächtigt zu werden? Im<br />
Zweifelsfall klappt’s mit einem Anglizismus.<br />
KARL BURKHARD TIMM<br />
„Just saying“ lautet sozusagen der „Magic<br />
Touch“ für den perfekten Out-of-Bed-Look<br />
eines Textes.Man hat eigentlich die Nase voll<br />
von Ignoranz und Boshaftigkeit, kurzum<br />
man wird vom Weltschmerz geplagt, und<br />
reißt sich doch am Riemen. Statt Tacheles zu<br />
reden, lässt man ganz lässig ein „Just saying“<br />
einfließen, was ungefähr so viel heißt wie<br />
„Mal ganz nebenbei gesagt“, „Ich sach ja nur<br />
mal so“ oder „Ich mein ja bloß“. Dabei wird<br />
ganz und gar nichts nur so nebenbei gemeint.<br />
Meist steckt ein bierernstes Anliegen<br />
dahinter und am liebsten würde der Autor<br />
dem Leser seine Meinung aufzwingen, aber<br />
er will ja nicht als zwangsneurotischer Spießer<br />
rüberkommen.<br />
Just saying –das klingt so, als wisse man,<br />
wie der Hase läuft, ohne dieWeisheit mit Löffeln<br />
gefressen zu haben. Just saying –daassoziiert<br />
man doch gleich ein Cabrio auf der<br />
Route 66, zwei Darlings in Hotpants,Marlon<br />
Brando am Steuer, und alle drei zwitschern<br />
fröhlich: „The answer my friend is blowin’in<br />
the wind.“ „Blowin’“, bittschön! Der Apostroph<br />
signalisiert das ultimative Coolness-<br />
Level und verleiht auch „Just saying“ noch<br />
den letzten Pfiff.<br />
Aber Achtung (jetzt kommt der pädagogische<br />
Zeigefinger doch noch zum Zuge)!<br />
Nicht hinter jedem „Just sayin’“ verbirgt<br />
sich auch ein lässiger Kopf. Manchmal ist es<br />
der verkrampfte Versuch eines Verfechters<br />
von Recht und Ordnung, den eigenen Fasson-Haarschnitt<br />
ein bisschen wild und verrucht<br />
wirken zu lassen. Auf der Hut sollte<br />
man also sein, wenn es allzu sehr nach Lässigkeit<br />
duftet. Und wie langweilig auch,<br />
wenn alle gleich zurechtgestutzt und wie<br />
aus dem Bett gefallen wirken! Augen zu und<br />
träumen also: Von Segelschiffen auf gepuderten<br />
Perücken. Das hat noch keiner Laus<br />
geschadet!