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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 227 · M ontag, 30. September 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
„Solidaritäts“-<br />
Performance in den<br />
Sophiensälen<br />
Seite 23<br />
„In der Shoppingmall bezahlt man mit Gesichtserkennung.“<br />
Tilman Baumgärtel über „Micro Era“, eine Ausstellung chinesischer Medienkunst Seite 22<br />
Lob des Regens<br />
Lasst euch<br />
treiben!<br />
PetraKohse<br />
macht gern das Fenster auf,<br />
wenn es draußen tropft.<br />
Ein regnerischer Sonntag, wie<br />
schön! Nicht schön für die Marathonläufer<br />
und -läuferinnen da<br />
draußen, aber die meisten Laufschuhe<br />
sehen ja ohnehin aus wie<br />
Amphibienfahrzeuge, sodass sie es<br />
damit schon ins Ziel schaffen werden.<br />
Regenzeit ist geschenkte Zeit.<br />
Denn man muss nicht nach draußen,<br />
um „die Sonne zu genießen“<br />
und dabei seine Zeit an Cafétischen<br />
oder auf Parkbänken vertrödeln.<br />
Sondern man kann tun, was man<br />
wirklich gerne macht, und das umsonst<br />
und drinnen: Lesen. Stricken.<br />
Schlafen. Lesen. Sachen ordnen. Lesen.<br />
Essen. Lesen. Lesen. Oder auch<br />
Garnichtstun. Undzwar bei offenem<br />
Fenster unter der Decke, um kein<br />
Plitsch oder Platsch zu verpassen.<br />
Regengeräusche sind ja wie<br />
Trommelmusik, Meeresrauschen,<br />
Grillenzirpen oder Katzenschnurren<br />
Balsam für den Geist, weil sie das,<br />
was Yogalehrerinnen gerne „Monkey<br />
Mind“ nennen, lahmlegen. Langsam,<br />
aber sicher bändigen sie das<br />
Alltagsbewusstsein, indem sie das<br />
affenartige Hin und Her der Gedanken<br />
sanft an sich ziehen und verwischen.<br />
Werdarüber nicht gleich einschläft,<br />
bekommt sturmfreie Bude<br />
im Kopf und kann den Geist das tun<br />
lassen, was er am dringendsten<br />
braucht, und das ist: dahintreiben.<br />
In Retreats im Bayerischen Wald<br />
oder auf Lanzarote bezahlt man für<br />
diesen Effekt bestimmt zweihundert<br />
Euro am Tagmit Vollpension, noch<br />
einmal fünfzig dazu, wenn man sich<br />
jeden Morgen das Smartphone abnehmen<br />
lässt, und weitere fünfzig,<br />
wenn man dabei fastet. In dem Bewusstsein<br />
stören dann auch die Geräusche<br />
der übers <strong>Berliner</strong> Kopfsteinpflaster<br />
vorbeifahrenden Autos<br />
schon etwas weniger.Und nein, es ist<br />
kein Verbrechen, das Getropfe als<br />
Meditation zu loben, obwohl es auch<br />
daran erinnert, dass der Eisbär dringend<br />
eine Rettungsweste braucht.<br />
Im Gegenteil. Wenn man häufiger<br />
aus dem System aussteigen würde,<br />
das all die Probleme verursacht, fiele<br />
es vielleicht leichter,eszuändern.<br />
Gabriel trägt teure Anzüge,<br />
arbeitet zu viel und hat<br />
nicht die allergeringste<br />
Lust, sich über seine<br />
Hautfarbe den Kopf zu zerbrechen.<br />
Nicht zuletzt deswegen lebt er im<br />
multikulturellen London. Während<br />
er voneinem Bauprojekt zum nächsten<br />
hetzt, sein eigenes Architektur-<br />
Büro eröffnet, heiratet und Vater<br />
wird, tanzt sein Bruder Mick die <strong>Berliner</strong><br />
Nächte durch, widmet sich<br />
Spaß, Drogen, Musik und vielen<br />
Frauen. Mick rackertsich für rein gar<br />
nichts ab und hat dennoch irgendwann<br />
einen eigenen Club, den er<br />
aber bald wieder verliert. Im neuen<br />
Jahrtausend tingelt er durch die Welt<br />
und wirdschließlich Yogalehrer.<br />
Die beiden sehen sich ähnlich<br />
und könnten unterschiedlicher<br />
nicht sein, der Streber und der Lebenskünstler.<br />
Sie wissen nichts voneinander.Denn<br />
sie haben zwar denselben<br />
Vater, einen Senegalesen, der<br />
Anfang der 70er-Jahre in der DDR<br />
studierte, aber unterschiedliche<br />
Mütter, eine in Leipzig, eine in Berlin.<br />
Jackie Thomae erzählt in ihrem<br />
Roman „Brüder“ ihre Geschichten.<br />
Es sind die Geschichten zweier<br />
durchaus typischer Vertreter ihrer<br />
Generation –der eine macht Party,<br />
bis sein Leben quasi zerbröselt (und<br />
fällt trotzdem auf die Füße), der andere<br />
schuftet sich an die internationale<br />
Architektenspitze, bis er vorlauter<br />
Funktionieren die Nerven verliert.<br />
Mick und Gabriel<br />
Wirbegleiten sie vonihrer Geburtin<br />
Leipzig und Berlin-Treptowbis in die<br />
Gegenwart. BeiMick legt Thomae einen<br />
Schwerpunkt auf die Neunzigerjahre<br />
inBerlin und ihre Clubkultur,<br />
in der die Hautfarbe, soheißt es jedenfalls<br />
in ihrem Roman, keine<br />
große Rolle spielte. Bei Gabriel konzentriertsie<br />
sich mehr auf die ernsterenJahrzehnte<br />
danach, in denen der<br />
Architekt schon mal gesagt bekommt,<br />
er solle sich mehr für seine<br />
schwarze Identität und den Kolonialismus<br />
interessieren.<br />
Der Roman fächert beide Leben<br />
nacheinander auf, führt uns in<br />
Clubs, Büros, Bars, Häuser und<br />
Wohnungen, stets mit Sinn für das<br />
zeitgeistige Detail und die Torheiten<br />
der jeweiligen Ära. Er tut es mit<br />
entspanntem Humor. Wenn Mick<br />
als Teenager kurzfristig zum<br />
schwarzen Skinhead mutiert –„Oi<br />
Mama, ich bin Red Skin, kein Nazi,<br />
das geht bei mir doch gar nicht!“ –<br />
ist das ziemlich lustig. Oder wenn<br />
Gabriel, der sein halbes Leben lang<br />
so tat, als gäbe es keinen Rassis-<br />
Leben<br />
von heute<br />
Jackie Thomaes Roman über zwei Brüder<br />
steht auf der Shortlist<br />
des Deutschen Buchpreises<br />
VonSabine Rohlf<br />
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, lebt seit 1989 in Berlin.<br />
DAS BUCH<br />
Jackie Thomae: Brüder<br />
Roman, Hanser Berlin, 2019,<br />
430 Seiten, 23 Euro<br />
DPA<br />
mus,amEnde als rassistischer Irrer<br />
dasteht, auch. Gleichzeitig ist beides<br />
auch bitterernst – ein Leben<br />
ohne Vater, dessen Gene beziehungsweise<br />
Hautfarbe doch stets<br />
an ihn erinnern.<br />
Statt einfache Antworten zu geben,<br />
widmet Thomae sich den Widersprüchen<br />
ihrer Hauptfiguren.<br />
Der eine baut manisch Bahnhöfe,<br />
Museen oder Villen, seine Arbeit<br />
führt ihn bis in aus dem Boden gestampfte<br />
Metropolen Chinas.<br />
Nichts interessiert ihn so sehr wie<br />
urbane Räume, die er am liebsten<br />
sozial, ökologisch und innovativ gestalten<br />
würde,während er vorallem<br />
Angeberarchitektur für Reiche baut.<br />
Seine Leidenschaft und auch sein<br />
starrsinniger Ernst passen nicht<br />
recht zusammen, und gerade das<br />
macht ihn lebendig. Der andere,<br />
Mick, belügt und betrügt seine Frau<br />
auf eine Weise, die schlicht unverzeihlich<br />
ist. Und amEnde mag man<br />
ihn dennoch, denn er hat auch sehr<br />
liebenswürdige Züge. Dazu gibt es<br />
Frauen und Freundinnen, Kinder<br />
und Freunde, unter denen auch interessante<br />
bis sperrige Menschen<br />
sind.<br />
Rassismus definiertsie nicht<br />
Thomae hat einen weitläufigen Roman<br />
geschrieben, der sich nicht auf<br />
eine Aussage oder dieses oder jenes<br />
Hauptproblem festlegen lässt. Er ist<br />
ein Entwicklungs-, Liebes-, ein Zeitund<br />
Großstadtroman –wenn man<br />
denn Schubladen aufziehen will.<br />
Das heißt überhaupt nicht, dass<br />
dies nicht auch ein Buch über Rassismus<br />
wäre, im Gegenteil. Rassismus<br />
begegnet beiden Männern,<br />
aber,und das ist wichtig, er definiert<br />
sie nicht. Sie gehen nicht darin auf,<br />
denn sie sind nicht das Problem,<br />
sondern etwas ganz anderes und<br />
viel mehr.<br />
Undder Roman ist auch mehr als<br />
ein Reflex auf Jackie Thomaes eigenes,<br />
dem der Brüder nicht unähnliches<br />
Leben. Die in Berlin lebende<br />
Journalistin und Fernsehautorin<br />
wurde 1972 als Tochter eines Westafrikaners<br />
und einer Deutschen in<br />
Halle geboren und wohnte bis 1989<br />
in Leipzig. Dass sie für ihren zweiten<br />
Roman (2014 erschien „Momente<br />
der Klarheit“) männliche Hauptfiguren<br />
wählte, und dann noch zwei so<br />
verschiedene, deutet darauf hin,<br />
dass sie keine Freundin schlichter<br />
Zuordnungen ist. Das lässt sich<br />
durchaus auch als Statement zum<br />
Thema Rassismus lesen, vor allem<br />
aber ist es eine Haltung, aus der heraus<br />
wirklich ganz ausgezeichnete Literatur<br />
entsteht.<br />
NACHRICHTEN<br />
Russischer Regisseur<br />
MarkSacharow gestorben<br />
Derrussische Regisseur Mark Sacharowist<br />
tot. Er sei im Alter von85Jahrennach<br />
langer Krankheit gestorben,<br />
teilte das Lenkom-Theater der<br />
Agentur Interfax zufolge am Sonnabend<br />
mit. Dortwar er bis zuletzt<br />
künstlerischer Leiter.Invier Jahrzehnten<br />
habe er mehr als 40 Aufführungen<br />
auf die Bühne gebracht. Sacharow,der<br />
sich auch in Deutschland<br />
einen Namen gemacht hatte,<br />
führte darüber hinaus bei zahlreichen<br />
Filmen Regie –etwa „Zwölf<br />
Stühle“ von1976 und „Genau jener<br />
Münchhausen“ von1979. Sieseien<br />
Klassiker des sowjetischen Kinos,<br />
würdigte das Theater.Außerdem<br />
drehte er demnach mehr als 20 Fernsehsendungen.<br />
Er erhielt für sein<br />
Wirken viele Auszeichnungen. Im<br />
Jahr 2018 bekam er den Titel „Held<br />
der Arbeit“ verliehen. (dpa)<br />
Prange und Fitzek arbeiten<br />
an gemeinsamem Thriller<br />
Beide sind Bestseller-Autoren. Jetzt<br />
arbeiten die Schrifsteller Peter<br />
Prange („DasBernstein-Amulett“)<br />
und Sebastian Fitzek („Amokspiel“)<br />
eigenen Angaben zufolge an einem<br />
gemeinsamen Krimi. Wiedie beiden<br />
der Bild am Sonntag sagten, gebe es<br />
für den historischen Thriller bereits<br />
ein Konzept. „Es geht um die Frage,<br />
ob es das Böse an sich gibt“, sagte<br />
Fitzek. Prange ergänzte: „Arbeitstitel<br />
ist ,Der geborene Verbrecher‘.“ Der<br />
64 Jahrealte Peter Prange ist durch<br />
historische Romane bekanntgeworden.<br />
Sebastian Fitzek, 47, stand mit<br />
Krimis wie „Passagier 23“ und „Der<br />
Insasse“ wochenlang an der Spitze<br />
der Bestsellerlisten. (dpa)<br />
Isabelle Huppertbegeistert<br />
als Maria StuartinHamburg<br />
Triumph für Isabelle Huppertin<br />
Hamburg: Für ihreeineinhalbstündige<br />
Soloperformance „MarySaid<br />
What SheSaid“ erhielt die französische<br />
Schauspielerin (66, „Greta“,<br />
„Frankie“) im Thalia Theater minutenlangen<br />
Applaus.Die Deutschlandpremieredes<br />
Stücks vonDarryl<br />
Pinckney,bei der Altmeister Robert<br />
Wilson Regie führte,war am Freitagabend<br />
ausverkauft. (dpa)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Rom &Peter<br />
Über den<br />
Brillenrand<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Pass ja nur gut auf, warnen sie im Studio<br />
Rom, nachdem ich dortüber mein neues<br />
Buch, den Liebestölpel, reden durfte.Die Linie<br />
64 ist dafür bekannt, dass dort die Taschendiebe<br />
mitfahren. Die Haltestelle ist direkt<br />
vorder Haustür.Besser geht es nicht. Ist<br />
allerdings die bekannteste Touri-Strecke der<br />
Stadt, sagt der Mitarbeiter. Und redet dann<br />
vonKollegen, die,trotzdem sie argaufmerksam<br />
geblieben sind, frech beklaut wurden.<br />
Ist nicht so schlimm wie geschildert, sucht<br />
eine Frau vomRadio mich wieder zu beruhigen.<br />
Wenn man die Geldbörse auffällig dick<br />
in der Hintertasche trägt, muss man sich<br />
nicht wundern. Winkt ab, schüttelt in Zeitlupe<br />
den Kopf.<br />
Und doch räume ich vor der Haltestelle<br />
flink meine Taschen leer, stecke die Geldscheine<br />
in mein Brillenetui. Halte die knallrote<br />
Schatzschatulle in meiner Faust. Die<br />
Brille klemmt auf meiner Nase. Ich halte ein<br />
Buch auf meinen Knien. Möchte so römisch,<br />
wie es nur geht, wirken, wie ein normal Busreisender<br />
erscheinen. Einer, der eben liest<br />
statt sich die Dinge um den Busherum anzusehen,<br />
muss doch wohl von hier sein, sage<br />
ich mir.Guter Trick überall auf der Welt. Und<br />
so sitze ich im Bus recht locker und lose tuend,<br />
schaue über den Brillenrand hin eher<br />
nebenbei heraus.Als würde ich das alles um<br />
mich herum sehr gut kennen. Dabei geht es<br />
mit dem BusamPapstgebäude und so anderen<br />
Bauten vorbei, die alle Reisenden von<br />
den Rombildbänden her kennen. Und sie<br />
steigen auch wirklich alle ein, die Leute, die<br />
wie aus einem Null-acht-fünfzehn-Katalog<br />
angezogen so waschecht als Touristen zu erkennen<br />
sind. Die neckisch bunt gekleidete,<br />
KLAUS ZYLLA<br />
seltsame Gesellschaft mit ihren Hütchen auf<br />
dem Kopf, dem üblichen Behänge. Also Kameras,<br />
Täschchen und Stadtpläne vor der<br />
Brust, unter die Arme geklemmt.<br />
Es werden so viele, dass ich es an einer<br />
nächsten Haltestellen nicht mehr aushalte,<br />
aussteige und den Buswechsle.Die Linie 492<br />
ist es.Der Busist alt und klappertlaut. Es ist<br />
stickige Luft. Es sind wohl mehr Einheimische<br />
in ihm als Schaugäste. Ich sitze rechts<br />
vorne seitlich neben dem Fahrer und<br />
schwitze schnell. Wie ich nach hinten fasse,<br />
spüreich den Sitz voll heiß. Ob es vomMotor<br />
kommt, wer weiß. Ich denke schon. Und<br />
stehe auf. Eine Frau übernimmt den Sitz, will<br />
es jedenfalls. Sitzt kaum und spürt deutlich<br />
rascher als ich die Tücke des heißen Stuhls.<br />
Steht wieder auf und lieber im Gang. Es dauertlange,bis<br />
ich am Ziel bin. Wirfahren sehr<br />
viele bekannte Stätten ab.Ich werdedaheim<br />
unbedingt nachsehen. Denn ich will schon<br />
wissen, wie das heißt, was ich eben noch anschaue,von<br />
welcher Bedeutung es ist.<br />
Stazione Tiburtina endet die Fahrt. Von<br />
dort aus gehe ich zuFuß zurVilla Massimo.<br />
Dasist ganz gutso. Da kann ich die Zeit messen,<br />
die ich für den Wegbrauche. Denn ich<br />
muss ganz sicher bald schon denWegzurück<br />
nehmen. Wenn ich Romzum ersten Malverlasse<br />
und nach Berlin fliegen will. Wenn es<br />
früh am Morgen ist und ich nicht auf einen<br />
Bus warten mag, schon gar nicht mit dem<br />
Taxi zur Bahnstation sausen will. Dann bin<br />
ich die Strecke schon einmal gegangen.<br />
Dann weiß ich Bescheid. Dann schlendere<br />
ich auf dem Bürgersteig und werde sicher<br />
auch nicht so aufgeregt sein. Sondern ruhig<br />
einen Fußvor den anderen setzen. Ganz wie<br />
es der Römer vonWelt mit seinen Füßen hält.<br />
Dem Römer nämlich suche ich gleich zu<br />
sein, der zwischen Rom und Berlin wie ein<br />
Werktätiger hin und her pendelt.