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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 227 · M ontag, 30. September 2019<br />
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Feuilleton<br />
Trostloser Hyperkonsum<br />
Die wichtigste Ausstellung in diesem Herbst: Chinesische Medienkunst in der Ausstellung „Micro Era“ in den Staatlichen Museen<br />
VonTilman Baumgärtel<br />
Auf einer Texttafel am Eingang<br />
der Ausstellung<br />
„Micro Era“ steht ein<br />
merkwürdiger Satz: Die<br />
Künstler, die bei der Präsentation<br />
chinesischer Medienkunst im Kulturforum<br />
vertreten sind, „hinterfragen<br />
die verführerische These vonder<br />
Demokratisierung“ durch Medien.<br />
Hm. Bei China denkt wohl niemand<br />
an Demokratisierung durch<br />
Medien –eher an staatliche Propaganda<br />
und Manipulation auf allen<br />
Kanälen. Und wer gegenwärtig an<br />
China denkt, dem fällt wohl als erstes<br />
ein, wie das riesige Land versucht,<br />
dem kleinen Stadtstaat Hongkong<br />
sein bisschen Demokratie zu nehmen.<br />
Nunmag es unfair sein, voneiner<br />
Ausstellung, die ja lange vorbereitet<br />
wird, eine direkte Reaktion auf die<br />
aktuelle politische Lage zu erwarten.<br />
Aber andererseits ist es unmöglich,<br />
sie sich anders als durch die „Hongkong-Brille“<br />
anzusehen.<br />
Dystopisch und uncool<br />
„Micro Era“ bezieht sich auf eine<br />
Kurzgeschichte des chinesischen<br />
Science-Fiction-Autors Liu Cixin, in<br />
der China durch wissenschaftlichtechnischen<br />
Fortschritt den Weltuntergang<br />
verhindert. (Die englische<br />
Übersetzung der Story heißt allerdings<br />
anders als die <strong>Berliner</strong> Ausstellung<br />
„Micro-Age“.) Doch das China,<br />
das die Ausstellung zeigt, ist dystopisch<br />
und uncool.<br />
Als gesunde Demokratie mit<br />
freien Medien erscheint China in<br />
keiner der gezeigten Arbeiten, im<br />
Gegenteil: Cao Fei, die wohl bekannteste<br />
Teilnehmerin der Ausstellung,<br />
legt ihren Finger in eine<br />
bekannte Wunde der chinesischen<br />
Gesellschaft. In dem Video „Asia<br />
One“ hat sie ohne großes Kunstwollen<br />
trostlosen chinesischen Hyperkonsum<br />
abgefilmt: In der Shopping-Mall<br />
bezahlt man per Gesichtserkennung,<br />
ohne dass sich jemand<br />
über den Verlust der<br />
Privatsphärebeschwert.<br />
Bespaßt werden die Kunden –<br />
während sie von allgegenwärtigen<br />
Überwachungskameras gefilmt<br />
werden –von aufdringlichen Werbefiguren.<br />
Hinter den Kulissen laufen<br />
die Paketboten um ihr Leben<br />
und sinnieren in der kurzen Pause<br />
darüber,obsie wohl demnächst von<br />
Drohnen ersetzt werden. Und wo<br />
sie schon dabei ist, lässt Cao Fei in<br />
ihrer zweiten Videoinstallation ein<br />
paar versprengte Hausmeisterinnen<br />
und Hausmeister in einem gigantischen,<br />
vollautomatisierten<br />
Asia One, Videoinstallation von Cao Fei, 2018<br />
Delusional Mandala, Video von Lu Yang,2015 LU YANG Assignment No.1., Zwölf-Monitor-Videoinstallation von Zhang Peili, 1992 ZHANG PEILI<br />
und weitgehend menschenleeren<br />
Logistikzentrum zu Eurodisco absurde<br />
Choreografien tanzen. Im<br />
Hintergrund werben Banner wie<br />
aus der Zeit der Kulturrevolution<br />
dafür, dass „Mensch und Roboter<br />
Hand in Hand arbeiten“ sollen.<br />
CAO FEI<br />
Der gierige, sinnentleerte Konsumismus<br />
bei gleichzeitiger staatlicher<br />
Gängelung und Totalüberwachung,<br />
der China heute prägt, gehört bekanntlich<br />
genau zu den Dingen, die<br />
sich die Demonstranten in Hongkong<br />
nicht gerne aufoktroyieren lassen<br />
möchten. Das Leiden an der reduzierten<br />
Existenz, das sich in den<br />
Arbeiten vonCao Feiartikuliert, trifft<br />
sich in der generationenübergreifenden<br />
Ausstellung aufs Schönste mit<br />
den Videos vonZhang Peili. Derchinesische<br />
Pionier der Videokunst gehörte<br />
in den 90er-Jahren zu den ersten<br />
Künstlern, die nach dem Ende<br />
des chinesischen Sonderwegs zum<br />
Sozialismus international Erfolg hatten.<br />
In„1988 30x30“ aus dem namensgebenden<br />
Jahr zerkloppt er eine<br />
Glasscheibe,klebt sie wieder zusammen,<br />
haut sie wieder kaputt, klebt sie<br />
wieder zusammen, bis das Tape zu<br />
Ende ist. In „Uncertain Pleasures“<br />
schabt eine Hand so lange auf Körperteilen<br />
herum, bis aus der scheinbaren<br />
Liebkosung entzündliche<br />
Striemen geworden sind.<br />
In den 90er-Jahren verstand man<br />
solche selbstzerstörerischen, an einen<br />
sinokommunistischen SM-Beckett<br />
gemahnenden Exerzitien als<br />
Reflexionen einer realsozialistischen<br />
Selbstentleerung und Auslöschung.<br />
Wenn man diese Arbeiten<br />
nach einem Vierteljahrhundertwieder<br />
sieht, kann man sie auch als<br />
Darstellung der inneren Leere nach<br />
dem Ende des realsozialistischen<br />
Mangels begreifen. Um die Arbeit<br />
für das Hongkong der Gegenwartzu<br />
aktualisieren, müsste man möglicherweise<br />
ein iPhone kaputtmachen<br />
und wieder und wieder zusammenkleben.<br />
Dann ist da noch Lu Yang, die sich<br />
den größten Raum nimmt, um das<br />
Lebensgefühl der Gegenwartmit der<br />
Hilfe von Videos von Lobotomien,<br />
Elektroschocks und Anime-Schlägereien<br />
auszudrücken. Wenn das die<br />
Gesellschaft widerspiegelt, aus der<br />
die Künstlerin kommt, kann man jeden<br />
verstehen, der damit nichts zu<br />
tun haben will.<br />
Kolonialismus bleibt Kolonialismus<br />
Schier zum Verzweifeln sind die<br />
zwei Videos von Fang Di, die möglicherweise<br />
zu zeigen versuchen, wie<br />
zweifelhaft jede Art von kultureller<br />
Aneignung immer ist – in diesem<br />
Fall der Folklorevon Papua Neuguinea.<br />
Die Neue Seidenstraße, die<br />
China derzeit um den Globus zu legen<br />
versucht und an der der Künstler<br />
mitarbeitet, dürfte auf jeder<br />
Ebene genau solche bizarren Verständnisversuche<br />
und Fehlkommunikation<br />
hervorbringen, wie sie in<br />
diesen beiden Videos zu beobachten<br />
sind. Kolonialismus ist und<br />
bleibt eben Kolonialismus.<br />
Trotz dieser beiden Totalausfälle<br />
ist diese Ausstellung auf jeden Fall<br />
die wichtigste in diesem Herbst in<br />
Berlin. Nicht zuletzt hilft sie,die Befürchtungen,<br />
die die Demonstranten<br />
vonHongkong motivieren, auch<br />
im Westen verständlich zu machen.<br />
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