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Berliner Kurier 06.10.2019

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15<br />

Eine Augenweide ist dieses Mohnblumenfeld<br />

am Rande des Wassers im Oderbruch.<br />

Bienen &Co. laben sich an Fleckchen Erde<br />

wie diesen.<br />

Fotos: Götz Behrendt<br />

Kinder<br />

sollen<br />

eine<br />

Gemeinschaft<br />

erleben<br />

Villen vorbeiruderte. „Hier<br />

wird gebaut und gebaut, die<br />

Grundstückspreise sind so gestiegen,<br />

dass sich kaum einer<br />

aus dem Dorf das leisten kann.<br />

Die Bürgermeister denken immer<br />

noch, dass es darum ginge,<br />

Kapital anzulocken. Aber was<br />

bringt Kapital, wenn die Leute<br />

mit dem Ort nichts zu tun<br />

haben? Die wollen ein Wassergrundstück<br />

und ihre Ruhe.“<br />

Er unterstütze eine Initiative,<br />

die sich dafür einsetze, dass wenigstens<br />

ein Streifen am Wasser<br />

für die Allgemeinheit zugänglich<br />

bleibe. Dort sei der alte<br />

Treidelweg, auf dem er früher<br />

spazieren gegangen sei –oder<br />

zum Baden. Doch engagiert<br />

hätten sich nur zwei Leute.<br />

Kaum einer habe geholfen beim<br />

Aufstellen der Holzkreuze, die<br />

aussehen wie die X-tausendmal-quer-Kreuze<br />

im Wendland.<br />

Die Kreuze von Trebatsch<br />

sind blau und tragen den Slogan:<br />

„Ufer frei!“ Die Verwaltung<br />

habe ihnen mitgeteilt, dass<br />

man erst einmal prüfen müsse,<br />

ob ein öffentliches Interesse an<br />

dem Weg bestehe. Außerdem<br />

sei der Weg mit Instandhaltungskosten<br />

verbunden.<br />

Als der Trebatscher erfuhr,<br />

dass ich aus Berlin komme, sagte<br />

er: „Da wären die Leute bestimmt<br />

auf die Straße gegangen!“<br />

Und dann, als ich ihm<br />

schon den Rücken zukehrte:<br />

„Der Marx war nicht dumm.<br />

Der hat so was vorausgesehen.“<br />

Das Geld und die Großspurigkeit,<br />

die Ungleichheit und das<br />

Nichternstgenommenfühlen –<br />

das waren die Vokabeln, die in<br />

fast allen Gesprächen auf dieser<br />

Tour fielen. Vielleicht lag das<br />

daran, dass ich allein unterwegs<br />

war, eine schmale Frau in einem<br />

schmalen Boot. Vielleicht<br />

strahlte ich auch diese Einsamkeit<br />

aus.<br />

Über die Wahl redete niemand.<br />

Nicht einmal im Spreewaldhotel<br />

Matschke in Werder,<br />

am schönsten Abschnitt der<br />

Spree, wo sich eine Gruppe<br />

Männer lautstark zuprostete<br />

mit dem Spruch: „Auf die Merkel,<br />

die uns das eingebrockt<br />

hat!“ Ich fragte, ob das ironisch<br />

gemeint sei.<br />

Wo ich denn entlaufen sei,<br />

fragten sie. Immerhin fragen sie<br />

nicht: Kommst du aus dem<br />

Westen, das war seit der Sache<br />

mit dem Bild so die Angst, die<br />

ich zuvor nie hatte. Zum Glück<br />

war ich aus Berlin, Berlin konnte<br />

beides heißen.<br />

Na, dann kannst du ja immer<br />

deinen Spaß haben, rief einer.<br />

Und wollte mich auf ein Bier<br />

einladen. „Danke, ich muss<br />

noch paddeln“, sagte ich, und<br />

das stimmte, denn die Paddler-<br />

Zeltwiese in Werder liegt ein<br />

bisschen außerhalb, das Hotel<br />

Matschke war die einzige Nahrungsquelle<br />

weit und breit, Läden<br />

hatte ich unterwegs nicht<br />

gefunden. Im Schwarzwald gab<br />

es auch keine Läden mehr auf<br />

den Dörfern. Aber es gab Gasthöfe,<br />

Dorfgemeinschaftshallen,<br />

Feste und Vereine. Vielleicht<br />

war es das Fehlen solcher Orte,<br />

das dieses Gefühl der Leere und<br />

Verlassenheit vermittelte, das<br />

mich an Sibirien erinnerte. Als<br />

Wanderpaddler ist einem Sibirien<br />

ganz recht, schließlich ist<br />

es die Sehnsucht nach Abenteuer,<br />

nach Zivilisationsflucht, die<br />

einen hinauszieht.<br />

Aber als ich an Land ging, war<br />

es sehr dunkel und sehr einsam,<br />

die Saison ging dem Ende entgegen.<br />

Überall hörte ich es knacken<br />

und rascheln –und stellte<br />

mir alle Horrorszenarien vor,<br />

die ich je im Sonntagabend-<br />

„Tatort“ gesehen hatte.<br />

Und so kehrte ich am nächsten<br />

Morgen um und fuhr zurück<br />

nach Beeskow, zurück zu<br />

meinem Kanuverein. Nach der<br />

Wende war der Verein geschrumpft,<br />

es fanden sich keine<br />

Ehrenamtlichen. Die meisten<br />

Mitglieder waren schon vor der<br />

Wende dabei, waren Leistungs-<br />

Paddler. Heute organisieren sie<br />

Wettbewerbe für Kinder, um<br />

sie „ein bisschen von Konsumdenken<br />

wegzubringen“. Die<br />

Kinder wüchsen in einer seltsamen<br />

Welt auf, nein, bemerkte<br />

ein Vater, er wolle heute nicht<br />

mehr jung sein. Zwischen den<br />

einzelnen Rennen verglichen<br />

die Jungen Turnschuh-Preise<br />

im Netz. „Einer aus meiner<br />

Klasse, der hat’s raus!“ sagte einer.<br />

„Der hat so ein limitiertes<br />

Modell gekauft und für 500 Euro<br />

auf Ebay versteigert!“<br />

Am Ende stand jeder von ihnen<br />

auf dem Treppchen –die<br />

Altersklassen waren so zusammengestellt,<br />

dass am Ende jeder<br />

einmal Sieger war. Es gehe<br />

mehr darum, dass die Kinder eine<br />

Gemeinschaft erleben, sagte<br />

der Trainer. Viele Jugendliche<br />

würden wegwollen von hier, –<br />

nein, nicht weg aus dem Osten,<br />

sondern weg vom Land.<br />

Hinter dem Siegerpodest<br />

stand eine Mutter und sagte:<br />

„In Beeskow sieht man jetzt<br />

viele verschleierte Frauen.“ Ich<br />

zuckte zusammen. Und dachte<br />

plötzlich wieder an die Wahl.<br />

Sie fuhr fort: „Die haben so viele<br />

Kinder. Wir könnten Kinder<br />

gebrauchen. Aber die kommen<br />

nicht zu uns.“<br />

Früher sei man quasi in eine<br />

Gemeinschaft reingezwungen<br />

worden, das habe schlechte,<br />

aber auch gute Seiten gehabt.<br />

Heute breche alles auseinander,<br />

was gemeinschaftsstiftend<br />

sein könnte. Dabei könne sich<br />

die Mitgliedschaft in einem<br />

Sportverein jeder leisten, ein<br />

Fitnessstudio könnten sich Familien<br />

mit mehreren Kindern<br />

nicht leisten. Außerdem trainiere<br />

da jeder für sich.<br />

Ich war schon fast wieder in<br />

Berlin, als ich das das Foto vom<br />

Sonnenaufgang über dem<br />

Bootssteg doch noch postete,<br />

dazu wir drei Paddler, der<br />

Brandenburger, der Westfale<br />

und ich. 40 Likes, drei Herzen.<br />

Der Brandenburger hatte<br />

recht: Sonnenaufgänge ziehen<br />

immer.

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