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Berliner Kurier 06.10.2019

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23<br />

„Ich sehe mich<br />

als Weltbürgerin“,<br />

sagt Cornelia<br />

Funke(60).<br />

Ihr neues Buch<br />

„Das Labyrinth<br />

des Fauns“ ist der<br />

erste Roman, den<br />

sie auf Englisch<br />

schrieb.<br />

ges Buch auf Englisch ist. Sie<br />

solltemir meineGermanismen<br />

austreiben.<br />

Wie haben Sie den Wechsel<br />

zum Englischschreiben erlebt?<br />

Ich hatte schon ein paar Kurzgeschichten<br />

auf Englisch geschrieben.<br />

Aberesist doch etwas<br />

anderes, 250 Seiten zu schreiben.<br />

Es ging sehr gut, und ich muss sagen,<br />

eshat mir große Lust am<br />

Schreiben aufEnglisch gemacht.<br />

Ich konnte mich ganz auf die<br />

Sprache konzentrieren, was natürlich<br />

auch geholfen hat.<br />

Auch das ist ungewöhnlich.<br />

Die wenigsten Schriftsteller<br />

schreiben in einer anderen<br />

Sprache als ihrer Muttersprache.<br />

Ich liebees, in zwei Sprachen<br />

zu leben, denn ich glaube,<br />

dass man dadurch jede<br />

Sprache mehr wertschätzt.<br />

Man sieht permanent,<br />

das kann<br />

man im Deutschen<br />

nicht, das geht im<br />

Englischen besser<br />

und umgekehrt. Ich<br />

musste mich aber auch zum<br />

ersten Mal damit abfinden, dass<br />

ich übersetzt werde. Trotzdem<br />

saß ich natürlich noch sechs<br />

Wochen an dieser Übersetzung,<br />

bestimmte Dinge kann<br />

halt nur der Autor entscheiden.<br />

Es ist<br />

aber<br />

schön,<br />

zu hören,<br />

dass die Leser<br />

auch im Englischen<br />

meine eigene<br />

Stimme wiederfinden.<br />

Wie unterscheidet sich die<br />

Kinderbuch-Kultur inAmerika<br />

und Deutschland?<br />

Sowohl in England als in Amerika<br />

gibt es eine andere Wertschätzung<br />

fürs Kinderbuch,<br />

ebensowie fürs fantastischeKinderbuch.<br />

Die Deutschen haben<br />

einsehr gestörtes Verhältnis zur<br />

Fantasy. Meine Theorie ist: Dadurch,<br />

dass der Faschismus so<br />

sehr mit unseren Mythen und<br />

dem Irrationalen gearbeitet<br />

hat, haben wiruns von diesem<br />

literarischen Erbe<br />

entfremdet. Wir hatten<br />

mal eine ganz starke<br />

fantastische Erzähltradition,die<br />

dann<br />

abrupt abbrach.<br />

Danach war es<br />

fast verteufelt, Fantasy<br />

zu schreiben. Das<br />

findet man in anderen Ländern<br />

nicht so. Der Respekt vor dem<br />

Kinderbuch ist einfach anders.<br />

Niemand würde in Amerika sagen,<br />

Huckleberry Finn ist Kinderliteratur.<br />

Man sagt, es ist<br />

Weltliteratur. Die Grenzen sind<br />

weniger strikt: Es gibt Diskussionsrunden,<br />

woSalman Rushdie<br />

neben J.K. Rowling sitzt.<br />

Sind Sie deshalb vor fast 15<br />

Jahren in die USA gezogen?<br />

Das intellektuelle Klima hat sichereine<br />

Rollegespielt. Ich hatte<br />

aberauchschon seit Teenagertagen<br />

eine Liebesaffäre mit der<br />

englischen Sprache. Und dann<br />

liebe ich es auch,ineinem Immigrationsland<br />

mit vielen verschiedenen<br />

Nationalitäten zu leben.<br />

Ich kennedas gar nicht mehr anders.<br />

Sehen Sie sich dennoch als<br />

deutsche Schriftstellerin, die<br />

in Amerika lebt?<br />

Nein, ich sehe mich als Weltbürgerin.<br />

Aber natürlich bin ich<br />

mir sehr bewusst, dass ich Deutsche<br />

bin. Das wird einem vielleicht<br />

noch bewusster, wenn<br />

man im Auslandlebt.InAmerika<br />

wirddas oftpositiv bewertet.<br />

Sind Sie mittlerweile US-<br />

Staatsbürgerin?<br />

Nein, ich muss erst einmalprüfen<br />

lassen, ob ich meinen deutschen<br />

Pass behalten darf. Das<br />

dauert.<br />

Aber eine Rückkehr kommt<br />

nicht infrage?<br />

Ich bin niemand, der zurückgeht.<br />

Ich könnte mir sogar eher<br />

vorstellen, noch mal nach Neuseeland<br />

zu ziehen.<br />

Sie werden weltweit gelesen,<br />

von Indien bis Hamburg. Würden<br />

Sie sagen, es gibt ein universelles<br />

Kinderbewusstsein?<br />

Das Verrückte ist, die Kinder<br />

auf der Welt sind gleichzeitig<br />

verschieden und gleich. In Jaipur<br />

in Indien standen mal Leute<br />

um die30vor mir, die sagten: Sie<br />

sindmeine Kindheit.Wie ist das<br />

möglich, fragt man sich,ich habe<br />

„Drachenreiter“, das Buch, um<br />

das es ging, in Hamburg in einem<br />

Dachbodenzimmer geschrieben,<br />

und die indische Realität ist so<br />

anders. Doch der Grundsatz des<br />

fantastischen Erzählensist auch,<br />

dass man darin universelle<br />

Wahrheiten adressiert. Und die<br />

großen Fragen sind überall und<br />

bei allen gleich: die Angst vor<br />

dem Verlust von geliebten Menschen,<br />

der Schutz, den man seinen<br />

Kindern angedeihen lassen<br />

will, die Sehnsucht nach Liebe.<br />

Allein die Regeln und Tabus sind<br />

andere.Tatsächlich habe ichden<br />

Eindruck, dassvor alleminLändern,<br />

wo die existenzielle Härte<br />

sehr deutlich ist, eine große<br />

Ernsthaftigkeit im Umgang mit<br />

Literatur besteht.<br />

Ist Lesen also wichtig für Kinder?<br />

Ich denke, Lesen ist wichtig,<br />

aber andere Dinge sind noch<br />

viel wichtiger. Kinder sollten<br />

sich nicht von der natürlichen<br />

Welt entfremden. Dadurch entgehen<br />

ihnen wichtige Erfahrungen:<br />

Was ist der Tod, was ist<br />

das Vergehen? All das, was die<br />

Natur uns sehr selbstverständlich<br />

über unsere Existenz erklärt,<br />

geht im Moment verloren.<br />

Wegen der sozialenMedien?<br />

Nein, ich mache mir nur Sorgen,<br />

dass Kinder viel zu viel zur<br />

Schule gehen. Das ist eine dramatischeFehlentscheidung.<br />

Kinder<br />

müssensich selbst ohneErwachsene<br />

entdecken können. Sie<br />

brauchen Freizeit.

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