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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 238 · M ontag, 14. Oktober 2019 – S eite 9<br />
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Berlin<br />
In Berlin setzt ein<br />
breites Bündnis ein<br />
Zeichen gegenRechts<br />
Seite 12<br />
Das Thema Enteignung wurde in Berlin bereits 1926 diskutiert Seite 10<br />
Die Express-S-Bahn wird bald nach Köpenick fahren Seite 13<br />
Stadtbild<br />
Falsch<br />
abgebogen<br />
BarbaraWeitzel<br />
denkt über falsche<br />
Entscheidungen nach.<br />
Ich habe ein neues Wort gelernt.<br />
Anlass war ein Unfall. Ein Freund<br />
hatte seine Tochter von einem Fest<br />
abgeholt und ein anderes Auto seitlich<br />
gerammt. Er ist ein vorsichtiger<br />
Fahrer, erhatte nicht getrunken, er<br />
hatte sein Kind im Auto. Erwar sicher,<br />
und seine Tochter auch, die<br />
Ampel sei grün gewesen. Später<br />
stellte sich heraus: Siewar rot.Wegen<br />
einer leichten Schulterverletzung<br />
hat der andere Autofahrer ihn verklagt<br />
wegen fahrlässiger Körperverletzung.<br />
DieAnwältin meines Freundes<br />
wird auf „Augenblicksversagen“<br />
plädieren.<br />
Augenblicksversagen. Das Wort<br />
lässt mich nicht mehr los seitdem.<br />
Der Unfall hätte das Leben aller Beteiligten<br />
für immer verändern können.<br />
Es hätte Tote geben können.<br />
Das gilt für viele Augenblicksversagen.<br />
Für viele anderegilt: DieFolgen<br />
sind gering, und dennoch richten<br />
wir streng. Über uns selbst und andere.<br />
Überhören eine Verzweiflung in<br />
der Stimme eines geliebten Menschen,<br />
weil wir selbst gerade im Kreis<br />
denken. Schreien ein Kind an, obwohl<br />
wir wissen, dass die Zurechtweisung<br />
in ruhigem Tonesnicht in<br />
Angst versetzen würde und sie obendrein<br />
zuverlässiger ankäme.Wer vor<br />
Schreck zittert, ist nicht empfänglich.<br />
Wir machen etwas kaputt, das<br />
jemand anderem viel bedeutet. Das<br />
kann eine Tasse sein oder ein Bild<br />
oder ein Text. Im einen Fall haben<br />
wir sie vielleicht heruntergeschmissen,<br />
im anderen Fall haben wir unbedacht<br />
über das Werk geurteilt. In<br />
vielen dieser Fälle hadern wir mit<br />
uns oder mit dem Gegenüber, je<br />
nachdem, wereinen Augenblick versagt<br />
hat.<br />
Manchmal sind wir darin unerbittlich.<br />
Prangern an und stellen<br />
bloß, weil zum Beispiel jemand etwas<br />
Dummes gesagt hat. Aus einem<br />
Denkfehler heraus, vielleicht aber<br />
auch, weil derjenige mit dem Rücken<br />
zur Wand stand. Augenblicksversagen?<br />
Gilt nicht. Besonders oft trifft<br />
diese Gnadenlosigkeit Politiker und<br />
andereProminente.<br />
Oder Menschen, deren Leben<br />
sichtbar in Schieflage geraten ist.<br />
Neulich betrat eine junge Frau die S-<br />
Bahn. „Ich trinke keinen Alkohol und<br />
nehme keine Drogen“, hob sie an und<br />
sagte weiter:„Aber ich bin in der 19.<br />
Woche schwanger und ohne Obdach.<br />
Leider aus eigenem Verschulden.“<br />
Dann bat sie um Essen oder Pfandflaschen.<br />
Diehör-und sichtbareScham<br />
über ihre Lage tat mir mehr weh als<br />
die Vorstellung, dass diese Frau ohne<br />
Zuhause ein Kind bekommen wird.<br />
Froh sah ich, dass etliche gaben. Andere<br />
guckten weg. Auch aus Scham?<br />
Hilflosigkeit? Auch in diesen Begegnungen<br />
versagen wir.Wieder andere<br />
schauten verächtlich.„Wie kann man<br />
nur so weit kommen?“, sagten ihre<br />
Blicke.Und: „Man kann doch aufpassen.<br />
In dieser Lage.“ So und ähnlich.<br />
Werweiß, an welcher Stelle das Leben<br />
dieser Frau den Knick nach unten<br />
vollzogen hat. Irgendwo ist sie<br />
falsch abgebogen. Nicht jeder hat einen<br />
Anwalt, der für einen eintritt. Ich<br />
glaube aber, jeder von uns hat ihn in<br />
sich. Gegenüber sich selbst und anderen.<br />
In beiden Fällen wünsche ich<br />
mir,alle würden öfter auf ihn hören.<br />
Immer mehr Menschen sind auf die Unterstützung durch die Tafel angewiesen. Insbesondere bei Senioren wurde im vorigen Jahr ein Anstieg um 20 Prozent registriert.<br />
Retter gegen Helfer<br />
Start-ups entdecken die Lebenmittelrettung als Geschäftsmodell. Die <strong>Berliner</strong> Tafel ist in großer Sorge<br />
VonJochen Knoblach<br />
Ein Apfel mit einer Druckstelle,<br />
ein Becher Joghurt<br />
mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum,<br />
Toastbrot<br />
von vorgestern – in Deutschland<br />
landen Unmengen an Lebensmitteln<br />
im Müll. Laut Bundeszentrum<br />
für Ernährung sind es jährlich zwölf<br />
Millionen Tonnen. Das sind 150 Kilogramm<br />
pro Jahr und Kopf. Tatsächlich<br />
ließe sich der größte Teil<br />
davon vermeiden.<br />
In Berlin hat sich das Start-up Sirplus<br />
dem Kampf gegen die enorme<br />
Lebensmittelverschwendung verschrieben.<br />
Vorzwei Jahren wurde es<br />
gegründet, um Lebensmittel etwa mit<br />
abgelaufenem Haltbarkeitsdatum<br />
vorder Tonne zu bewahren. Diese als<br />
unverkäuflich geltenden Lebensmittel<br />
nimmt Sirplus dem Handel ab und<br />
verkauft sie mit hohen Rabatten. „Lebensmittelretter“<br />
nennen sich die<br />
Jungunternehmer, die in der Stadt<br />
mittlerweile 100 Mitarbeiter beschäftigen,<br />
drei Filialen betreiben und<br />
nach eigenen Angaben die Vernichtung<br />
von 2000 Tonnen Lebensmitteln<br />
verhinderthaben.<br />
Metro-Konzernindirekt beteiligt<br />
Nun bekommt das Unternehmen<br />
Konkurrenz. Matsmart aus Schweden<br />
bereitet seinen Deutschland-<br />
Start vor. Das Geschäftsmodell ist<br />
identisch: Auch diese Firmaverkauft<br />
Lebensmittel, die nach Ansicht von<br />
Herstellernund Händlerninkein Supermarktregal<br />
gehören, mit satten<br />
Rabatten und liefertnach Hause.Vor<br />
fünf Jahren hat Karl Andersson das<br />
Start-up auf den Weggebracht. 3700<br />
Tonnen Lebensmittel seien seitdem<br />
in Schweden gerettet worden, heißt<br />
es. Zuletzt lag der Jahresumsatz bei<br />
37 Millionen Euro. Aber Schweden<br />
ist nicht genug. Die Retter aus dem<br />
Norden planen die Expansion ins<br />
europäische Ausland.<br />
Bei der <strong>Berliner</strong> Tafel, die täglich<br />
Tausende Bedürftige in dieser Stadt<br />
kostenlos mit gespendeten Lebens-<br />
1993<br />
wurde die <strong>Berliner</strong> Tafel<br />
gegründet.<br />
KOSTENLOSE HILFE<br />
125 000<br />
<strong>Berliner</strong> nutzen im Monat<br />
das Angebot der Tafel.<br />
mitteln versorgt, sieht man den Plan<br />
der Schweden allerdings mit großer<br />
Sorge. „Das ist wirklich der Hammer,<br />
dass jetzt noch so ein vermeintliches<br />
Sozialunternehmen<br />
dazukommt“, sagt Sabine Werth,<br />
Vorsitzende und Gründerin der <strong>Berliner</strong><br />
Tafel. Unddie Sorgeist berechtigt.<br />
Denn was über Unternehmen<br />
wie Sirplus oder Matsmart verkauft<br />
wird, kann nicht von der Tafel verteilt<br />
werden. Schließlich bekommen<br />
die Tafeln die Lebensmittel<br />
ebenfalls vorallem vomHandel.<br />
Besonders interessant dabei: Das<br />
für die Expansion nötige Kapital bekam<br />
Matsmart indirekt ausgerechnet<br />
vom Handel. Nachdem das Unternehmen<br />
bereits in der Vergangenheit<br />
von Kapitalgebern –darunter<br />
auch Ikea –rund 23 Millionen<br />
Euro erhalten hatte, gaben die<br />
Schweden Mitte voriger Woche den<br />
Abschluss einer Finanzierungsrunde<br />
über weitere 17 Millionen<br />
Euro bekannt. „Das bringt uns unserer<br />
Vision, einer Welt ohne Lebensmittelverschwendung,<br />
einen<br />
Schritt näher“, so Matsmart-Chef<br />
Karl Andersson. Es sei aufregend, einen<br />
Partner gefunden zu haben,<br />
„der uns helfen kann, den Schritt in<br />
Europa zu machen“, so Andersson.<br />
Der Partner, das ist der deutsche<br />
Investmentfonds LeadX Capital<br />
Partners, der wiederum von dem<br />
Groß- und Einzelhandelskonzern<br />
Metro finanziell unterstützt wird,<br />
seinerseits als guter und verlässlicher<br />
Partner und Lieferant der Tafeln<br />
bekannt. Metro spendet nach<br />
eigenen Angaben allein in Deutschland<br />
jährlich Lebensmittel im Wert<br />
von etwa zwölf Millionen Euro an<br />
die Tafeln.<br />
Tatsächlich hat in Berlin der Verteilungskampf<br />
um die Lebensmittel<br />
zweiter und dritter Wahl längst begonnen.<br />
Retter und Helfer stehen<br />
sich gegenüber. „Wir verteilen Lebensmittel<br />
an Bedürftige, diese Firmen<br />
aber verkaufen billig an alle“,<br />
sagt Sabine Werthund verweist darauf,<br />
dass der Besserverdienende,<br />
der aus moralischen Gründen bei<br />
Sirplus &Co. einkauft, keineswegs<br />
660<br />
Tonnen Lebensmittel werden<br />
dortmonatlich verteilt.<br />
die Ausnahme ist. „Das sind reine<br />
Wirtschaftsunternehmen, die auf<br />
der Welle der Lebensmittelrettung<br />
eifrig Fahrt aufnehmen.“ Es sei bereits<br />
zu spüren, dass die Tafeln weniger<br />
bekommen.<br />
Dabei ist die junge selbst ernannte<br />
Lebensmittelretter-Branche<br />
nicht nur eine neue Konkurrenz für<br />
die Tafeln, die Helfer haben auch einen<br />
Wettbewerbsnachteil. Denn<br />
während der Handel für die Spenden<br />
an die Tafel Umsatzsteuer auf den<br />
Warenwert der Lebensmittel zahlen<br />
muss,ist beim Verkauf an ein Unternehmen<br />
der jeweilige Preis steuerpflichtig,<br />
der meist niedriger ist.<br />
„Üblicherweise gibt es da nur einen<br />
symbolischen Preis vonvielleicht einem<br />
Euro pro Rolli“, sagt Werth, die<br />
Jochen Knoblach<br />
versteht die<br />
Argumentation der Tafel.<br />
DPA<br />
1993 die Tafel in Berlin gründete und<br />
dringenden Handlungsbedarf sieht.<br />
„Wir Tafeln müssen so schnell wie<br />
möglich die Politik dazu bewegen,<br />
das Steuerrecht dahingehend zu ändern,<br />
dass das kostenlose Abgeben<br />
von Waren nicht mehr versteuert<br />
werden muss.“<br />
Neue Investoren gefunden<br />
Mit seinem Geschäftsmodell scheint<br />
sich das Start-up Sirplus indes gut zu<br />
entwickeln. 2018 lag der Umsatz bei<br />
1,2 Millionen Euro. Die Gründer Raphael<br />
Fellmer und Martin Schott sehen<br />
den Unternehmenswert selbst<br />
bei zehn Millionen Euro. Große Aufmerksamkeit<br />
erlangte Sirplus vorwenigen<br />
Wochen mit einem Auftritt in<br />
der TV-Show„DieHöhle der Löwen“,<br />
wo sich die Jungunternehmer um ein<br />
Investment von 700 000 Euro bewarben.<br />
Das bekamen sie nicht. Dafür<br />
wurden sie voneinem Investor heftig<br />
attackiert, der die Gründer „obergierige<br />
Kapitalisten“ nannte und die Geschäftsidee<br />
als unglaubwürdig und<br />
heuchlerisch bezeichnete. „Diese<br />
moralisierende Attitüde geht mir auf<br />
den Geist“, sagte der Unternehmer<br />
GeorgKofler.<br />
Ungeachtet dessen hat Sirplus<br />
Geldgeber gefunden, die „eine größere<br />
6-stellige Summe“ investieren,<br />
darunter ein Mitglied des Versandhandel-Clans<br />
Otto sowie ein ehemaliger<br />
Rocket-Internet-Manager.<br />
Undman hatviel vor. „Die nächsten<br />
Jahre werden wir alles unternehmen,<br />
um möglichst viele Lebensmittel<br />
zu retten und möglichst viele<br />
Menschen aufzuklären“ sagte Fellmer<br />
in einem Interview. Imnächsten<br />
Jahr sollen deutschlandweit<br />
„Franchise-Rettermärkte“ entstehen.<br />
„Bis 2024 wollen wir in über<br />
fünf Ländernaktiv sein.“ DerVerteilungskampf<br />
geht weiter.<br />
NACHRICHTEN<br />
22 000 Sumpfkrebse<br />
in Berlin gefangen<br />
Im zweiten Bekämpfungsjahr ist die<br />
Zahl der in Berlin gefangenen Roten<br />
Amerikanischen Sumpfkrebse deutlich<br />
zurückgegangen.VomSaisonbeginn<br />
im Aprilbis Ende September<br />
seien rund 22 000 Exemplareins<br />
Netz gegangen, sagte Derk Ehlert<br />
vonder Senatsverwaltung für Umwelt,<br />
Verkehr und Klimaschutz auf<br />
dpa-Anfrage.„Dasist knapp die<br />
Hälfte der Vorjahresmenge.“ Größtenteils<br />
stammen die Fänge aus den<br />
GewässernimTiergarten in Mitte<br />
(9 000) und dem Britzer Garten in<br />
Neukölln (13 000). Weil die Allesfresser<br />
als Gefahr für heimische Arten<br />
und Ökosysteme gesehen werden,<br />
ist die Eindämmung EU-weit geboten.<br />
(dpa)<br />
Sechs Verletzte bei Unfall<br />
mit Rettungswagen<br />
Beieinem Verkehrsunfall auf der<br />
Kreuzung Wuhletalstraße Ecke Märkische<br />
Allee in Marzahn ist am Sonntagmittag<br />
ein Rettungswagen der<br />
Feuerwehr verunglückt. Er war auf<br />
der Kreuzung mit einem Opel Zafira<br />
zusammengestoßen. DerKrankenwagen<br />
war mit eingeschaltem Blaulicht<br />
und Martinshornauf dem Weg<br />
zu einem Notfallpatienten. Beide Sanitäter<br />
sowie die vier Insassen des<br />
Opels wurden verletzt. DieBeifahrerindes<br />
Autos erlitt schwereVerletzungen.<br />
Zwei Notärzte waren vorOrt<br />
und kümmerten sich um die Opfer.<br />
Alle Beteiligten kamen in Krankenhäuser.Lebensgefahr<br />
bestehe nicht,<br />
hieß es am Nachmittag. DieUnfallursache<br />
ist noch nicht zweifelsfrei<br />
geklärt. Möglicherweise hatte der<br />
Autofahrer die Sonderrechte des Rettungswagens<br />
nicht wahrgenommen.<br />
Durchden Unfall mussten Busse der<br />
Linien X69 und 197 umgeleitet werden,<br />
teilte die BVGmit. Es kam zu<br />
Verkehrsbehinderungen. An den<br />
Fahrzeugen entstand erheblicher<br />
Sachschaden. (ls.)<br />
Der Spätsommer lockt die<br />
<strong>Berliner</strong> in die Natur<br />
DieRückkehr des Spätsommers mit<br />
Sonne und Temperaturen vonknapp<br />
über 20 Grad hat viele <strong>Berliner</strong> und<br />
Brandenburger für Spaziergänge in<br />
Parksoder an den zahlreichen Seen<br />
genutzt.„Bei uns ist an diesemWochenende<br />
viel los,aber für einzelne<br />
Gäste finden wir noch einen Platz“,<br />
sagte eine Sprecherin des <strong>Berliner</strong><br />
Ausflugslokals„Wannseeterrassen“.<br />
Für Montag werden in Berlin und im<br />
südlichen Brandenburg24Gradvorhergesagt<br />
–bei schwachemWind. Die<br />
Meteorologen erwarten keinen Regen.<br />
Auch am Dienstag bleibt es mit<br />
20 bis 23 Gradmild.ErstabMittwoch<br />
sinken die Höchstwerte auf maximal<br />
17 Grad. (dpa)<br />
So mancher nutzte den späten Sommertag<br />
mitten im Herbst. DPA/FABIAN SOMMER