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2019/49 - Querfeldein

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54 // <strong>Querfeldein</strong>.<br />

Ein vorwinterliches Schneestapfen mit Buchstabensuppe,<br />

Obstler aus dem Ermstal und weiteren Wundern der Jahreszeit.<br />

Betrachtungen von Matthias Reichert<br />

Spätherbst – die vormals bunten<br />

Bäume in der Reutlinger Pomologie<br />

sind bald kahl, im Ermstal ist<br />

die Obsternte eingefahren, das Heu<br />

stapelt sich in den Scheunen. Die<br />

Menschen haben längst die warmen<br />

Jacken aus dem Schrank geholt<br />

und ballen in der abendlichen<br />

Kälte die Fäustlinge, wenn ihnen<br />

der Besuch von nebenan wieder<br />

mit dem dicken SUV die Einfahrt<br />

zuparkt. Manche trauern der Sommerhitze<br />

nach und den Bahnen im<br />

Reutlinger Markwasenwellenbad<br />

oder im Bad Uracher Höhenfreibad,<br />

unbeschwerte Schwimmzüge unter<br />

dem Gekreische der jungen Leute<br />

am Beckenrand. Andere holen vorsorglich<br />

schon mal die Christbaumkugeln<br />

aus dem Keller.<br />

Soll der Winter doch<br />

kommen, hat der Schreiber<br />

neulich beim Sonntagsspaziergang<br />

im Landkreis<br />

Reutlingen gedacht. Die Arbeitsspeicher<br />

seiner kleinen<br />

Wörterfabrik sind randvoll mit<br />

Buchstaben, die auf Tastendruck<br />

aus dem Computer purzeln, der<br />

Drucker startklar am Sätze-Fließband.<br />

Der Lohn langt allemal für<br />

eine warme Buchstabensuppe.<br />

Und immer zur Herbstzeit für eine<br />

Flasche Obstler aus dem Ermstal.<br />

Abends trinkt unser Wörterschmied<br />

ein kleines Glas davon;<br />

heiß wie Feuer rinnt der Hochprozentige<br />

dann durch die Kehle, und<br />

des Alltags Mühe verdampft.<br />

Einmal hat er auch der lieben<br />

Verwandtschaft in Berlin<br />

eine Flasche mitgebracht.<br />

Doch die angeheiratete<br />

Cousine<br />

dritten Grades schlürft lieber Cocktails,<br />

und ihr Ehemann schwört<br />

auf Weiße mit Schuss. Hauptstädtergaumen<br />

wissen einfach nicht,<br />

was wirklich gut ist! Deshalb leben<br />

die Hauptstädter ja auch nicht<br />

im schönsten Landkreis der Welt,<br />

dessen Landrat weder Papst noch<br />

SPD-Vorsitzender werden will, weil<br />

er bereits den schönsten Beruf der<br />

Welt hat, wie er nicht müde wird zu<br />

erzählen.<br />

Der Winter naht tatsächlich, auf<br />

der nahen Alb hat es heuer schon<br />

Anfang November geschneit. Der<br />

Schreiber hat sogleich eine ausgedehnte<br />

Wanderung gemacht, ist<br />

durch den Neuschnee gestapft und<br />

hat sich gefreut, dass man darunter<br />

das Laub nicht mehr gesehen hat.<br />

Die Wochen davor war nämlich die<br />

große Zeit der Laubsauger gewesen.<br />

Das hat bei jedem Gang in die Stadt<br />

unangenehme Erinnerungen an die<br />

Jahre geweckt, als der Autor noch<br />

am nahen Park gewohnt hat.<br />

Hundertmal haben sie ihn damals<br />

an den Wochenenden aus dem<br />

Schlaf gerissen! Laubsauger sind<br />

die Bestimmung technikbegeisterter<br />

Männer jenseits der Midlife-Crisis<br />

und zugleich das Schicksal ihrer<br />

Nachbarn, das haben langjährige<br />

Feldstudien in des Schreibers Umfeld<br />

ergeben: mit stoischer Miene<br />

das Gebläse röhren lassen, die finsteren<br />

Blicke der Passanten ignorieren,<br />

die sich demonstrativ die Ohren<br />

zuhalten. Eins werden mit der<br />

mächtigen Maschine, Triumph<br />

der Ingenieurskunst, die nicht<br />

nur schnelle Autos baut, sondern<br />

auch laute und leistungsstarke<br />

Laubsauger. Manche Männer kaufen<br />

sich mit 50 Jahren<br />

eine Harley und<br />

brausen fortan donnernd<br />

über Felder<br />

und Fluren. Andere<br />

entdecken die Lust<br />

des Laubsaugens.<br />

Egal, demnächst werden<br />

sie als Weihnachtsmänner<br />

gebraucht. Mit weißem Bart und<br />

einem Sack voller Geschenke die<br />

Kinder zum Gedichte-Aufsagen<br />

animieren – solche Einsätze hat der<br />

Schreiber bislang zu vermeiden gewusst.<br />

Aber auch er meint schon,<br />

Zimt, gebrannte Mandeln und Lebkuchen<br />

in der Luft zu schmecken.<br />

„Weihnachten, bitte kommen!“,<br />

jauchzt der Textfabrikant und holt<br />

die Glühweintasse vom Vorjahr aus<br />

dem Schrank. Landauf, landab beginnen<br />

jetzt schließlich die Weihnachtsmärkte<br />

– gleichgültig, ob<br />

draußen 30 Zentimeter Neuschnee<br />

liegen oder ob der Klimawandel<br />

schon im Dezember den Vorfrühling<br />

ausbrechen lässt.<br />

Frühling? Zweiter Frühling?<br />

Der Schreiber beschließt angesichts<br />

dieses Gedankens,<br />

demnächst einen Text über<br />

die Midlife-Crisis zu<br />

verfassen. Die nötigen<br />

Buchstaben hat<br />

er schon im Arbeitsspeicher,<br />

er muss sie<br />

nur noch richtig zusammensetzen.<br />

Vor<br />

dieser spätherbstlichen<br />

Bastelarbeit wird er aber erst<br />

einmal den Toner des Druckers auffüllen<br />

und die ersten Weihnachtsgeschenke<br />

besorgen. Ein Laubsauger<br />

dürfte nicht darunter sein.<br />

Grafiken: agrino, Moloko88, DMaryashin, Robert Adrian Hillman / shutterstock.com

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