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BERLINER KURIER, Montag, 27.Januar 2020<br />
Hier wollte der Kidnapper<br />
hin. Ein S-Bahn-Zug beim<br />
Überqueren der Grenze:<br />
Auf der Westseite fuhr<br />
die S-Bahn direkt<br />
durch die Grenzsicherungsanlagen.<br />
Ein Bild aus der Stasi-<br />
Akte 4983/84, das die<br />
Einschusslöcher in<br />
Front- und Seitenscheibe<br />
zeigt.<br />
Foto:<br />
cken und habe die Arme gehoben,<br />
worauf der Zug langsamer<br />
wurde. Als der Zug zum Stehen<br />
gekommen sei, habe er noch<br />
versucht, ihn wieder in Gang zu<br />
setzen. Die Fahrerin aber sagte,<br />
der Strom sei abgeschaltet.<br />
Daraufhin habe er das Seitenfenstergeöffnet,<br />
mit der Fanfare<br />
geblasen und in Richtung Bahnsteig<br />
gerufen, sie sollen den<br />
Strom wieder anstellen.<br />
Plötzlich seien Grenzer vor<br />
dem Zug aufgetaucht, und er habe<br />
sein Luftdruckgewehr auf sie<br />
gerichtet. Was danach bis zu seiner<br />
Festnahme geschah, daran<br />
könne er sich nicht mehr erinnern,<br />
sagte Wolfgang K. noch.<br />
„Ich weiß nur noch, dass Schüsse<br />
gefallen sind.“<br />
Tatsächlich war die Situation<br />
äußerst dramatisch. Den Ermittlungsakten<br />
der Stasi zufolge<br />
war die S-Bahn erst hinter dem<br />
Bahnsteig zum Halten gekommen,<br />
so dass die ersten dreiWagen<br />
bereitsimGrenzgebiet standen.<br />
Die zwei von K. mit dem<br />
Gewehr bedrohten Grenzsoldaten<br />
waren in Deckung gegangen<br />
und hatten über Funk die Einsatzstelle<br />
der Pass- und Kontrolleinheit<br />
(PKE) am Übergang<br />
Friedrichstraße alarmiert. Die<br />
PKE bestand ausschließlich aus<br />
Stasi-Mitarbeitern. Darunter<br />
befanden sich auch speziell ausgebildete<br />
Antiterrorkräfte, die<br />
bei einem gewaltsamen Grenzdurchbruch<br />
zum Einsatz kommen<br />
sollten.<br />
Dreidieser PKE-Kämpfer wurden<br />
nun losgeschickt, um den S-<br />
Bahn-Entführer zu überwältigen.<br />
AmBahnsteigende kletterten<br />
sie auf das Dach des dritten<br />
Wagens und schlichen sich nach<br />
vorn Richtung Führerstand.<br />
Dort legte sich einer von ihnen<br />
Fahrt auf ein<br />
totes Gleis<br />
auf den Bauch und schoss mit seiner<br />
Makarow-Pistole von oben<br />
in die Frontscheibe. Dann sprang<br />
er vomDachundfeuertevonvorne<br />
noch zweimalinden Führerstand,<br />
die Kugeln blieben im<br />
Dach und im Metallrahmen der<br />
Scheibe stecken.<br />
K. und die S-Bahn-Fahrerin<br />
gingen in Deckung. Währenddessenwaren<br />
die beiden anderen<br />
PKE-Kämpfer in das Wageninnereeingedrungenund<br />
überwältigten<br />
den Entführer. Verletzt<br />
wurde bei der ganzenAktionnur<br />
die Geisel –die herumfliegenden<br />
Glassplitter der zerschossenen<br />
Scheibe hatten die 21-jährige<br />
Fahrerin aus Lichtenberg insAuge<br />
getroffen.<br />
In einem noch am Abend desselben<br />
Tages verfassten Stasi-<br />
Berichtheißt es, dass „durch die<br />
sofortige Einleitung von Absperrmaßnahmen<br />
…die Öffentlichkeitswirkung<br />
weitgehend<br />
eingeschränkt werden“ konnte.<br />
Vom Bahnsteig aus habe der<br />
Tatverlauf nicht verfolgt werden<br />
können. Ebenso nicht von<br />
der „Westberliner Seite“ des<br />
Bahnhofs, weil die dort „angebrachten<br />
stabilen Sichtblenden<br />
…jegliche Einsichtnahme verhindert“<br />
hätten. Tatsächlich gab<br />
es in der folgenden Zeit keine<br />
Berichte in den westlichen Medien<br />
über den gescheiterten<br />
Fluchtversuch.<br />
Am 6. Oktober 1983 wurde K.<br />
in einem unter Ausschluss der<br />
Öffentlichkeit geführten Prozess<br />
wegen Terrors inTateinheit<br />
mit versuchtem ungesetzlichen<br />
Grenzübertritt im schweren<br />
Fall und versuchtem Angriff<br />
auf das Verkehrswesen zu acht<br />
Jahren Haft verurteilt. Außerdem<br />
sollte er für Reparaturen<br />
am Zug, Einnahmeverluste des<br />
ausgefallenen Fahrzeugs und<br />
die vierwöchige Krankschreibung<br />
der S-Bahn-Fahrerin einen<br />
SchadenersatzinHöhe von<br />
exakt 15008,56 Mark leisten.<br />
Das Gericht betonte die Schwere<br />
der Tat, die „einen schwerwiegenden<br />
Eingriff indie Unverletzlichkeit<br />
der Staatsgrenze<br />
der DDR darstellt…und sich auf<br />
einem unter besonderen Bedingungen<br />
zu sichernden Terrain“<br />
abspielte. Zudem hätten – so<br />
heißt es im Urteil –„eine Vielzahl<br />
von Bürgern im Wochenendverkehr<br />
Zugunterbrechungen,<br />
Verspätungen bzw. Schienenersatzverkehr<br />
in Kauf nehmen“<br />
müssen –woran man als<br />
<strong>Berliner</strong> allerdings ohnehin gewöhnt<br />
war.<br />
K. saß seine Haftstrafe in Cottbus<br />
ab. Was er erst nach seiner<br />
Festnahme erfuhr: Sein tollkühner<br />
Plan, miteiner S-Bahnnach<br />
West-Berlin durchzufahren,<br />
wäre gescheitert, auch wenn die<br />
Fahrerin den Zug nicht angehalten<br />
hätte. Denn das Gleis, auf<br />
dem die S-Bahnen auf Ostberliner<br />
Seite im Bahnhof Friedrichstraße<br />
ankamen, war ein totes<br />
Gleis –ein paar Hundert Meter<br />
hinter dem Bahnsteig endete es<br />
an einem Prellbock.