22.12.2012 Aufrufe

Jubiläumsbeilage vom 24. März 2011 (PDF) - Morgen im Landboten

Jubiläumsbeilage vom 24. März 2011 (PDF) - Morgen im Landboten

Jubiläumsbeilage vom 24. März 2011 (PDF) - Morgen im Landboten

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

DER LANDBOTE<br />

Donnerstag, <strong>24.</strong> märz <strong>2011</strong> 175 JAhRE LANDBOTE l 49<br />

Ob per Telefon oder am Schalter: Der Empfang ist die erste Anlaufstelle für fast alle Anliegen der Kundschaft. Dabei erlebt das Team hinter dem Tresen oft Alltägliches – manchmal aber auch nicht. Bilder: marc Dahinden<br />

S<strong>im</strong>on HungerbüHler<br />

Das eindrücklichste Erlebnis hatte<br />

das Empfangsteam <strong>im</strong> vergangenen<br />

Herbst. Da sind sich Christine Steck,<br />

Nicole Tschopp und Jeton L<strong>im</strong>ani einig.<br />

Es war ein Tag gegen Ende Oktober,<br />

als kurz nach Mittag eine Frau, gut<br />

sechzig Jahre alt, ihre eigene Todesanzeige<br />

in Auftrag gegeben hat. «Zuerst<br />

dachte ich, das sei ein Scherz – obwohl<br />

man mit solchen<br />

Sachen keine Witze<br />

macht», sagt L<strong>im</strong>ani.<br />

Der schwer<br />

erkrankten Dame<br />

aber war es ernst.<br />

Einige Tage später<br />

ist sie nochmals am<br />

Empfang vorbeigekommen,<br />

um das<br />

gesetzte Inserat zu<br />

begutachten. «Sie<br />

hatte Freude daran»,<br />

so schien es<br />

Steck. Wieder einige<br />

Tage später erhielt<br />

der Empfang<br />

die amtliche Todesanzeige.<br />

«Erst da konnte ich glauben,<br />

dass sie es wirklich gemacht hat<br />

und mit einer Sterbehilfeorganisation<br />

aus dem Leben gegangen ist», sagt<br />

Steck. Für L<strong>im</strong>ani, der froh war, dass<br />

nicht er das Inserat entgegennehmen<br />

musste, war die Sache damit aber noch<br />

nicht abgeschlossen: «Solche Erlebnisse<br />

n<strong>im</strong>mt man nach der Arbeit mit<br />

nach Hause.»<br />

Trost für Trauernde<br />

Eine solche Begegnung war bislang<br />

für alle einzigartig. Täglich jedoch<br />

werden mehrere, «normale» Todesanzeigen<br />

am Schalter in Auftrag gegeben.<br />

Die Arbeit des Empfangsteams<br />

ist emotional anspruchsvoll und<br />

manchmal belastend. Nicht selten brechen<br />

Trauernde über ihrem Schmerz<br />

zusammen und müssen das Gespräch<br />

über den Inhalt der Anzeige unterbrechen.<br />

«Da gibt es Momente, die sind<br />

ganz, ganz schl<strong>im</strong>m», sagt Steck. Bei­<br />

Die freundliche Klagemauer<br />

Wer be<strong>im</strong> «<strong>Landboten</strong>» ein Kleininserat aufgeben will,<br />

geht zum Empfang. Und wer sich ärgert, freut oder einfach<br />

seine Meinung sagen will, meldet sich ebenfalls am Garnmarkt.<br />

Über nicht nur alltägliche Begegnungen am «Landbote»­Schalter.<br />

«Da gibt es Momente,<br />

die ganz, ganz<br />

schl<strong>im</strong>m sind»<br />

Christine Steck<br />

spielsweise wenn Kinder gestorben<br />

oder Familienväter verunglückt seien.<br />

Mit einfühlsamen Worten versucht sie<br />

die Trauernden zu trösten. «Wenn ich<br />

am Tag sechs bis acht Todesanzeigen<br />

entgegennehmen muss, dann bin ich<br />

abends völlig erschöpft.» Nicht, weil es<br />

besonders aufwendig sei, sondern weil<br />

es emotional so viel abverlange. Dennoch<br />

macht Steck ihre Arbeit gern.<br />

«Die vielen positiven Rückmeldungen,<br />

die ich meist<br />

einige Tage später<br />

erhalte, bestärken<br />

mich in der Überzeugung,<br />

dass ich<br />

meine Sache gut<br />

mache.»<br />

Steck hat in den<br />

letzten vier Jahren<br />

Hunderte Trauernde<br />

am Schalter<br />

betreut. Nicht hinter<br />

jeder Todesanzeige<br />

stehen tragische<br />

Schicksale.<br />

Oft werden Anzeigen<br />

für Verstorbene<br />

aufgegeben, die<br />

ein hohes Alter erreicht hatten. Gelegentlich<br />

wird das Team am Empfang<br />

auch Zeuge von unterschwellig brodelndem<br />

Streit in der Familie, so etwa<br />

wenn es um die Namen geht, die auf<br />

einer Anzeige zu stehen kommen sollen.<br />

Da kann es schon mal sein, dass<br />

sich die eine Person für jemanden einsetzt,<br />

der dem anderen partout nicht<br />

passt: «Die hat sich doch nie gekümmert»,<br />

ist ein Satz, den Steck nicht nur<br />

einmal gehört hat.<br />

Der Empfang n<strong>im</strong>mt aber nicht nur<br />

Todesanzeigen entgegen. Das Team<br />

ist auch zuständig für die Post der ganzen<br />

Ziegler Druck­ und Verlags­AG,<br />

betreut die Telefonzentrale, bestellt<br />

Büromaterial, gibt Wettbewerbsgewinne<br />

aus, verteilt Kinotickets, sucht<br />

Lesern, die etwas nachlesen möchten,<br />

alte Zeitungsausgaben aus dem Archiv<br />

heraus und ist Anlaufstelle für jede<br />

Art von Beschwerde oder Kritik der<br />

Leserinnen und Leser, nicht zuletzt<br />

am Inhalt der Zeitung. Da wird am<br />

Telefon gesch<strong>im</strong>pft und geschnaubt, in<br />

der Empfangshalle geschrien und gestampft.<br />

Dabei spielt es oft keine Rolle,<br />

dass die Redaktion einen Sachverhalt<br />

in einem Text nur publik gemacht<br />

und mit dem beschriebenen Ärgernis<br />

nichts zu tun hat.<br />

Jüngst hat sich der Frust zahlreicher<br />

Winterthurerinnen und Winterthurer<br />

über die «Warzenburg», den «Kletterfelsen»,<br />

der als Zentrum Rosenberg<br />

in zwei Wochen eröffnet werden<br />

soll, über die Mitarbeiter am Empfang<br />

entladen. «Manchmal muss man den<br />

Leuten klarmachen, dass man das Gespräch<br />

abbricht, wenn sie sich nicht<br />

mässigen», sagt L<strong>im</strong>ani. Oft würden<br />

sie auch erst nach geraumer Zeit verstehen,<br />

dass es einen Unterschied gibt<br />

zwischen dem Verursacher und dem<br />

Überbringer einer Nachricht.<br />

Schwarze Farbe am Haus<br />

«Es ist mir wichtig, dass die Leser<br />

ihren Ärger über eine Sache loswerden<br />

können», sagt L<strong>im</strong>ani, der <strong>im</strong> Abtausch<br />

mit Nicole Tschopp hauptsächlich<br />

das Telefon bedient. «Ich möchte<br />

allerdings verhindern, dass sie die<br />

Redaktorinnen und Redaktoren, die<br />

sich bereits um die Veröffentlichung<br />

des nächsten Beitrages kümmern, bei<br />

ihrer Arbeit stören.» Der Sachverhalt<br />

ändere sich ja nicht, wenn der Leser<br />

dem Redaktor seinen Ärger persönlich<br />

mitteilen kann. Er schicke den<br />

Redaktoren jeweils ein E­Mail mit<br />

den Hinweisen zum Ärger der Leserschaft.<br />

Das könnten sie beantworten,<br />

wenn sie gerade Zeit dazu hätten,<br />

«Der Empfang<br />

ist ein Spiegel<br />

der Gesellschaft»<br />

Jeton L<strong>im</strong>ani<br />

oder den Hinweis als Input für eine<br />

Folgegeschichte verwenden.<br />

Der Ärger der Leserschaft n<strong>im</strong>mt<br />

manchmal auch seltsame Formen an.<br />

Tschopp erinnert sich an einen Vorfall,<br />

als am <strong>Morgen</strong>, als sie zur Arbeit kam,<br />

die Fassade des Redaktionsgebäudes<br />

mit schwarzer<br />

Farbe verschmiert<br />

war. Sie hatte eben<br />

den Hauswart informiert,<br />

als ein<br />

ungepflegter Mann<br />

mit «rabenschwarzen<br />

Händen» und<br />

schmuddelig gekleidet<br />

an den<br />

Schalter kam, um<br />

sich zu entschuldigen.<br />

Er habe aus<br />

Frust über einen<br />

Artikel die Wand<br />

verschmiert und<br />

wolle das wieder<br />

gutmachen. «Er<br />

hat uns angeboten, ein Brot zu backen»,<br />

sagt Tschopp. Obwohl sie dankend<br />

abgelehnt habe, kam der Mann<br />

in derselben Woche mit zwei Broten.<br />

Dass sich der Umgang der verärgerten<br />

Leserinnen und Leser mit den Mitarbeitenden<br />

am Schalter in den letzten<br />

Jahren nicht geändert hat, bestätigt<br />

Brigitta Fels. Nach 16 Jahren an vorderster<br />

Front trat sie 2006 in den Ruhestand.<br />

Rückblickend hält sie fest:<br />

«Der Dienst am Schalter erfordert<br />

neben einem grossen Einfühlungsvermögen<br />

vor allem starke Nerven. Und<br />

die hatte ich zum Glück.»<br />

Von Ausserirdischen entführt<br />

Starke Nerven können allerdings auch<br />

von der Tagesform abhängig sein. Monika<br />

Zara, die zwischen 1996 und 2007<br />

am Empfang arbeitete, erlebte einen<br />

<strong>Morgen</strong>, den sie noch nicht vergessen<br />

hat. Kaum <strong>im</strong> Büro eingetroffen, klingelte<br />

das Telefon. «Eine Frau sch<strong>im</strong>pfte<br />

zehn Minuten über einen Artikel,<br />

der offenbar Fehler enthielt», sagt<br />

Zara. Sie sei persönlich geworden,<br />

habe sie massiv beleidigt und ihr mit<br />

einer Anzeige gedroht. Als die Frau,<br />

kaum war das Gespräch beendet, wieder<br />

anrief, um sich erneut länger über<br />

den «<strong>Landboten</strong>» auszulassen, hatte<br />

Zara genug. Sie meldete sich ab und<br />

ging nach Hause.<br />

«Schöne Erlebnisse<br />

und Ärger halten sich<br />

<strong>im</strong> Gleichgewicht»<br />

Nicole Tschopp<br />

Die Erlebnisse am Schalter sind allerdings<br />

nicht alle gleich frustrierend –<br />

und schon gar nicht nur negativ. «Schönes<br />

und Ärger halten sich wohl etwa<br />

<strong>im</strong> Gleichgewicht», sagt Tschopp. Sie<br />

denkt gerne an die Begegnungen mit<br />

einem alten Herrn zurück, der jeweils<br />

mit einem charmanten<br />

«Guten<br />

<strong>Morgen</strong>, die Damen»<br />

das Haus<br />

betrat und um<br />

eine Ausgabe des<br />

«<strong>Landboten</strong>» gebeten<br />

hat. Leider<br />

sei er inzwischen<br />

gestorben. Christine<br />

Steck freut sich<br />

über die Besuche<br />

eines etwa zehnjährigen<br />

Jungen,<br />

der sich die Tickets<br />

fürs Kinderkino<br />

B<strong>im</strong>bambino abholt,<br />

die am Schalter<br />

gratis ausgegeben werden. Er sei<br />

<strong>im</strong>mer äusserst freundlich und berichte<br />

lebhaft von seinen Eindrücken <strong>vom</strong><br />

letzten Film.<br />

Und manchmal seien die Begegnungen<br />

auch äusserst unterhaltsam,<br />

ist sich das Empfangsteam einig. Einst<br />

habe ein Mann von seiner Entführung<br />

durch Ausserirdische berichtet.<br />

Er verlangte, einen Redaktor zu sprechen,<br />

und wünschte, dass man die Bevölkerung<br />

sofort über die Gefahr informiere.<br />

Ein anderer habe eine seltsame<br />

Kiste an den Schalter mitgebracht,<br />

die er einem Journalisten zeigen wollte.<br />

Lange habe man gewartet, bis der<br />

Gast zu Ende gebastelt habe, «bevor<br />

dann eine Kuckucksuhr losging, mit<br />

Lichtern und allem Drum und Dran»,<br />

erzählt L<strong>im</strong>ani.<br />

An einem Montagmorgen, L<strong>im</strong>ani<br />

hat gerade mit der Arbeit begonnen,<br />

seien einige Sexarbeiterinnen<br />

am Empfang Schlange gestanden.<br />

Jede habe noch rasch vor Annahmeschluss<br />

ein Kleininserat in Auftrag geben<br />

wollen. L<strong>im</strong>ani, der erst seit einigen<br />

Monaten am Empfang tätig ist, sei<br />

ziemlich überrascht gewesen über die<br />

Kundschaft, die er bedienen darf. Es<br />

sei sehr beeindruckend, welch unterschiedliche<br />

Personen den Weg zum<br />

«<strong>Landboten</strong>» fänden. «Der Empfang<br />

ist ein Spiegel der Gesellschaft.»

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!