2020-11_RegioBusiness
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November 2020 I Jahrgang 19 I Nr. 219
Politik & Wirtschaft 13
Nicht nur Bücher liegen ihr
Trotz abgeschlossenem Studium und Berufserfahrung als Bibliothekarin landete Lili Mosman in der Langzeitarbeitslosigkeit.
Das Teilhabechancengesetz ermöglichte ihr den beruflichen Neustart im Crailsheimer Umweltkaufhaus. VON FRANK LUTZ
Sie wirkt gebildet und kultiviert,
drückt sich eloquent
im Deutschen aus, das nicht
ihre Muttersprache ist. Der Eindruck
täuscht nicht: Lili Mosman
ist studierte Bibliothekarin. Und
nach einem bewegten Werdegang
ist die heute 58-Jährige, die in
ihrem Heimatland Usbekistan in
einer Schulbibliothek arbeitete,
wieder dort angelangt, wo sie sich
Weitere Infos und Kontaktdaten
wohlfühlt: umgeben von Büchern.
Denn als Mitarbeiterin des Crailsheimer
Umweltkaufhauses gehört
es zu ihren Aufgaben, aus den angelieferten
Secondhand-Büchern
diejenigen auszuwählen, die sich
noch verkaufen lassen und sie
im Verkaufsregal ansprechend zu
präsentieren. „Aus dem Chaos die
Knoten rausmachen“, bringt sie
diese Tätigkeiten auf den Punkt.
UMBRÜCHE Doch weil im Leben
oft vieles nicht glattgeht, hat
Mosman zuvor viele bittere Momente
erlebt und wusste manchmal
kaum, wie es für sie weitergehen
sollte. Die Umbrüche begannen
1996 mit ihrer Übersiedlung
Das Teilhabechancengesetz bietet zwei Förderungsvarianten: Bei der „Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“
zahlt das Jobcenter im ersten Jahr 75 Prozent, im zweiten 50 Prozent des Lohns, kann
Weiterbildungskosten übernehmen und bietet in den ersten sechs Monaten ein beschäftigungsbegleitendes
Coaching. Voraussetzung ist, dass der Arbeitnehmer mindestens zwei Jahre arbeitslos war. Bei der
„Teilhabe am Arbeitsmarkt“ wird der Lohnkostenzuschuss bis zu fünf Jahre absteigend von 100 bis 70
Prozent gezahlt. Die geförderten Arbeitnehmer müssen mindestens 25 Jahre alt sein und seit mehreren
Jahren Arbeitslosengeld II beziehen. Weiterbildungskosten bis zu 3000 Euro übernimmt das Jobcenter hier
vollständig und bietet ein Jahr lang ein beschäftigungsbegleitendes Coaching. Ansprechpartner: Main-
Tauber-Kreis: Nicole Bethäuser (Telefon: 0 93 41 / 8 72 52, E-Mail: Jobcenter-Main-Tauber@jobcenter-ge.
de), SHA: Ulrike Dehen (07 91 / 9 75 85 82, Ulrike.Dehen@jobcenter-ge.de), Crailsheim: Annette Wallisch
(0 79 51 / 9 49 01 74, Jobcenter-LK-SchwäbischHall.CR-Passgenau@jobcenter-ge.de), Hohenlohekreis:
Andrea Roll (0 79 40 / 9 15 15 82, Jobcenter-Hohenlohekreis.Vermittlung@jobcenter-ge.de).
nach Deutschland. Zwar wurde
ihr Studienabschluss anerkannt,
doch ohne ausreichende Computerkenntnisse
und ohne Berufserfahrung
in Deutschland fand sie
keine Stelle als Bibliothekarin.
Sie arbeitete zwischenzeitlich als
Verpackerin, setzte ab 2008 aber
für sechs Jahre ganz aus, um ihre
Mutter zu pflegen. Und weil zu
der fehlenden Berufspraxis dann
auch noch gesundheitliche Probleme
kamen, landete Mosman
anschließend in der Langzeitarbeitslosigkeit.
Bis zwei Ereignisse ihr den Weg
zurück in die Berufstätigkeit ebneten:
Erst trat Anfang 2019 das
sogenannte Teilhabechancengesetz
in Kraft, dessen Ziel es ist,
Langzeitarbeitslose die Rückkehr
ins Berufsleben zu erleichtern
(siehe Infokasten). Dann eröffneten
Jonathan Gdynia und Klaus
Weigert im Mai dieses Jahres das
Umweltkaufhaus in Crailsheim.
Auf der Suche nach einer Mitarbeiterin
als Verkaufshilfe kam
Gdynia auf das Jobcenter zu. Annette
Wallisch, dort im „Team
Passgenau“ als Arbeitsvermittlerin
tätig, sah gleich die Chance,
ihrer Kundin Mosman mithilfe
des Teilhabechancengesetzes den
Wiedereinstieg ins Berufsleben zu
ermöglichen: „Da Frau Mosman
sehr aufgeschlossen, zuverlässig,
stets freundlich und kommunikationsstark
ist, bringt sie die Eignung
für den Verkauf mit.“ Und
für die Bücherecke im Umweltkaufhaus
sei die studierte Bibliothekarin
geradezu prädestiniert.
Leseratten: Annette Wallisch, Jonathan Gdynia und Lili Mosman
(v. li.) in der Bücherecke des Umweltkaufhauses.
Foto: Frank Lutz
VIELSEITIG Alles Weitere war
fast nur noch Formsache: Sowohl
das Vorstellungsgespräch als auch
die zweitägige Probearbeit verliefen
reibungslos, und seit Mitte Juli
arbeitet Mosman als geförderte
Mitarbeiterin 20 Stunden in der
Woche im Umweltkaufhaus. Ihre
Aufgaben gehen weit über die Bücherecke
hinaus: Sie sitzt auch an
der Kasse, räumt Waren in die Regale,
legt Preise fest, dekoriert
und reinigt die Geschäftsräume.
„Es macht mir viel Freude und
Spaß. Von der Arbeit und von den
Menschen her ist es hier wunderbar“,
freut sich Mosman.
Jonathan Gdynia gibt das Lob gerne
zurück: „Sie ist sehr pflichtbewusst,
sehr ehrlich und immer
pünktlich. Mit ihr kann man wirklich
gut arbeiten.“ Daniela Gröger,
die im Kaufhaus als Beraterin
tätig ist, meint sogar: „Die Lili ist
innerhalb kürzester Zeit ein Teil
von uns geworden.“ Auf die Frage,
ob sie „die Lili“ über den fünfjährigen
Förderungszeitraum hinaus
als Mitarbeiterin behalten wolle,
sagt Gröger spontan: „Ganz klar
ja. Sie geht hier nicht mehr weg.“
Letzte Folge In dieser Serie wurden
Arbeitnehmer aus der Region vorgestellt,
die über das Teilhabechancengesetz gefördert
werden. Mit diesem Beitrag findet
die Serie ihren Abschluss.
www.facebook.com/
Umweltkaufhaus
Gastkommentar
In die Zukunft der Jugend investieren
Walter Döring: Kita- und Schulschließlungen richten verheerende Schäden bei jungen Menschen und Familien an.
Ja, ganz offen: Ich meine, dass
das, was wir bisher Kindern
und Jugendlichen mit all den
gut gemeinten Schutzmaßnahmen
zugemutet, ja im Grunde sogar
angetan haben, nahe daran ist,
deren Zukunftschancen massiv zu
beeinträchtigen, wenn nicht gar
komplett zu zerstören: Wochenlang
kein Unterricht, keine professionelle
Kinderbetreuung, keine
sozialen Kontakte zu Gleichaltrigen
und dann – man denke mal
an die Familien ohne Balkon, Terrasse
oder Garten – ohne „Freigang“
eingesperrt; „Hochspannung“
in den Familien mit negativen
Folgen für alle, wie uns Jugend-
und Familienpsychologen
schildern.
Nun droht angesichts steigender
Infektionszahlen neues Ungemach:
Nach nachvollziehbarer
Maskenpflicht auch im Unterricht
wird an zu vielen Stellen wieder
von Kita- und Schulschließungen
gesprochen. Und erneut drohten
damit verheerende Schäden für
Kinder, Jugendliche und Familien.
Deshalb: Jetzt bloß keine Kitaund
Schulschließungen mehr!
Der Herbst und erst recht der
Winter werden anstrengend. Hoffnung
macht die Aussage von Bundesfamilienministerin
Franziska
Giffey und Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn, die erklärten,
dass „eine flächendeckende
Schließung von Betreuungs- und
Bildungseinrichtungen nicht angezeigt
sind“. In einzelnen Landkreisen
und Gemeinden wird dennoch
darüber nachgedacht.
Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz
Stefanie Hubig
sieht die Notwendigkeit des Einhaltens
von Hygienemaßnahmen
ein und postuliert: „Lüften bleibt
das A und O.“ Klar ist das wichtig.
Aber bei Temperaturen um den
Gefrierpunkt und bald darunter,
für alle 15 Minuten? Kein Wunder,
dass sich jetzt schon Eltern,
Kinder, Jugendliche und auch die
Lehrkräfte darüber beschweren.
„Husten, Schnupfen, Heiserkeit“
seien die Folgen, so ihre berechtigten
Klagen. Ich gebe zu, dass
es ein bisschen gemein ist, wenn
ich den „Lüftungs-Befürwortern“
entgegenhalte, dass dies eben
auch die billigste Lösung ist – und
obendrein eine nicht sehr einfallsreiche.
Es gibt bessere, weil
wirkungsvollere: CO 2
-Ampeln und
Luftfilter sowie Schulbusse, in denen
Abstand gehalten werden
kann. Ob die Verdi-Streikenden
daran denken? Scheint nicht der
Fall zu sein.
Der Reihe nach: Diese CO 2
-Ampeln
sind relativ günstig und werden
dort, wo sie im Einsatz sind,
sehr positiv bewertet. Es handelt
sich um Luftgütemesser mit
einer Funkuhr, einer Skala von
Grün über Gelb bis Rot und einer
Alarmfunktion. Ab 1100 ppm
(parts per million) CO 2
piept es.
Und dann, aber eben erst dann,
Kälte: Gekippte Fenster bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und
darunter sind für Schüler und Lehrer eine Zumutung. Luftfilter oder
Luftgütemesser könnten Abhilfe schaffen.
Foto: Gregor Fischer/dpa
muss gelüftet werden. Also anders
als jetzt, erst wenn es notwendig
ist und andauernd oder alle 15
Minuten!
Luftfilter, die die Viren ansaugen,
filtern und dann gesäuberte
frische Luft zurück blasen,
sind deutlich teurer, aber dafür
auch besser und wirkungsvoller
als Luftgütemesser. Den Tüftlern
– auch hier in unserer Region
– sei Dank, dass sie solche Geräte
entwickelt haben. Klar muss
man auf deren Qualität hinsichtlich
ihres Wirkungsgrads und auf
einen geringen Geräuschpegel
achten; ihre positive Wirkung ist
erprobt und hat sich schon vielfach
bewährt.
In der FAZ war dieser Tage von
einem Gutachten der Bundeswehr-Universität
zu lesen, dass
„Dauerlüftung zu Erkältungen
führt und Stoßlüftung Energie
verschwendet“. Das Lüften sei daher
„keine Option, denn Infektionsschutz
und Klimaschutz dürfen
sich nicht ausschließen“. Deshalb
die Empfehlung: Die Schulen
sollten Entkeimungsgeräte oder
bestimmte Raumluftreiniger anschaffen,
die potenziell infektiöse
Aerosole aus der Luft „zu 99,995
Prozent“ herausfiltern könnten.
Unbestritten: Sowohl die CO 2
-Ampeln
als auch die Luftfilter sind
um ein Vielfaches wirkungsvoller
als das bisher in den Schulen
praktizierte Vorgehen. Den
Einwand der hohen Kosten weise
ich in Übereinstimmung mit Bärbel
Krauss, Kommentatorin der
Stuttgarter Zeitung, entschieden
zurück: Das Recht auf Bildung
für jedes Kind und damit die entscheidende
Sicherung der Grundlage
für positive persönliche Zukunftsperspektiven
jedes einzelnen
Kindes legt uns die Pflicht auf,
dies mit aller Kraft und auch mit
hohem finanziellen Aufwand anzustreben.
Dem, der mir da mit
den Kosten kommt, dem halte
ich entgegen: Wer, wenn nicht die
heute Jungen, muss denn die Milliarden
und „Abermilliarden“ zurückzahlen,
die für Rettungsschirme
bundes- und europaweit gerade
ausgegeben werden? Wir Älteren
und Alten nicht. Also haben
auch die Jungen es verdient, dass
jetzt massiv in deren Gesundheit
und Zukunft investiert wird.
Und natürlich haben auch diejenigen
recht, die die überfüllten
Dr. Walter Döring
Der gebürtige Stuttgarter Dr. Walter Döring war
lange eine der Galionsfiguren der FDP. Er war Gemeinderat
in Schwäbisch Hall, Vorsitzender der
Landtagsfraktion und Wirtschaftsminister von
Baden- Württemberg. Heute arbeitet der 66-Jährige
als Consultant und hält Vorlesungen an Hochschulen.
Im Kreistag ist er für die Freien Demokraten
politisch aktiv. Döring ist Initiator und
Mitorganisator des Kongresses „Gipfel der Weltmarktführer“
in Schwäbisch Hall und gründete
die Akademie Deutscher Weltmarktführer.
Schulbusse beklagen und anmahnen,
dass es wenig Sinn macht,
im Klassenzimmer für optimale
Bedingungen sorgen zu wollen,
und die Kinder und Jugendlichen
auf der anderen Seite in überfüllte
Schulbusse zu stopfen. Mehr
Schulbusse kosten mehr Geld,
aber hier gilt das eben Aufgeführte
ganz genauso.
Natürlich muss der Wirtschaft geholfen
werden, vor allem aber
auch den nachfolgenden Generationen.
Kitas und Schulen brauchen
unsere ganze Aufmerksamkeit.
Gut, dass Schwäbisch Halls
OB Pelgrim und Landrat Bauer
das auch so sehen, wenn sie sagen,
dass lokale Lockdowns verhindert
werden müssen – „im besonderen
Interesse der Wirtschaft
und des Bildungssystems“. Das
Bestreiken von Kitas passt da gar
nicht; aber das ist wieder ein anderes
Thema.