19.07.2021 Aufrufe

279.TIROL - Juli 2021

Ausgabe 4, Juli 2021

Ausgabe 4, Juli 2021

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

22 tirol.investiert tirol.investiert 23<br />

KATASTROPHENMANAGEMENT<br />

VORBEREITET FÜR DEN TAG X?<br />

Das Hochwasser von Kössen 2013, der Felssturz von Vals 2017 oder die Stürme und das Schneechaos<br />

in Osttirol: Immer wieder sind Tiroler Gemeinden von Katastrophen betroffen. Aber Gefahren<br />

gehen auch von Kraftwerken, Chemietransporten oder Krankheiten aus, wie die anhaltende<br />

Pandemie zeigt. Krisen und Katastrophen sind für die Tiroler Gemeinden eine enorme Herausforderung.<br />

Der in Krisen- und Katastrophenmanagement ausgebildete Bürgermeister von Assling,<br />

Bernhard Schneider, schildert dazu seine Einschätzung.<br />

EIN GESPRÄCH MIT JAN SCHÄFER<br />

Wie kommt ein Bürgermeister dazu, Krisen-<br />

und Katastrophenmanagement zu<br />

studieren?<br />

BILD: Kapitale Schäden<br />

entstanden in den letzten<br />

zwei Wintern durch Sturm<br />

und Schnee in Osttirol.<br />

(© Jan Schäfer)<br />

Die Gemeinde Assling in Osttirol erstreckt<br />

sich über rund 99 Quadratkilometer, auf<br />

denen sich 29 Wildbäche und 19 Lawinenstriche<br />

befinden. Es liegt also auf der Hand:<br />

Als sich 2010 die Möglichkeit für ein entsprechendes<br />

Studium zu diesem wichtigen<br />

Thema ergab, schrieb ich mich ein. Schließlich<br />

geht es in solchen Fällen um weitaus<br />

mehr als einen Katastrophenplan, der im<br />

Ernstfall aus der Schublade geholt wird.<br />

Ohne Frage sind diese Pläne im Katastrophenfall<br />

gute Instrumente. Jedoch ist eine<br />

Gemeinde gut beraten, ständig mögliche<br />

Szenarien durchzuspielen, auch wenn sie<br />

oft noch so weltfremd erscheinen. Man<br />

denke an Fukushima, an das Erdbeben, den<br />

verheerenden Tsunami, Atomunfall, dann<br />

noch ein Wintereinbruch und alles zur gleichen<br />

Zeit. Ich bin mir jedoch sicher, würde<br />

man ein solches Szenario für ein Planspiel<br />

vorschlagen, es führte wohl zu allgemeinem<br />

Kopfschütteln. Obwohl es gut wäre,<br />

das Unmögliche einmal durchzudenken<br />

und durchzuspielen! Die so gewonnenen<br />

Erkenntnisse sind dann im Katastrophenplan<br />

mit den entsprechenden Maßnahmen<br />

zu fixieren. Selbstverständlich müssen auf<br />

dieser Basis sämtliche Szenarien mit der<br />

Gemeindeeinsatzleitung, allen Akteur*innen<br />

wie z. B. Feuerwehr, Lawinenkommission,<br />

Bergrettung usw. und den offiziellen<br />

Stellen geprobt werden! So wie es schon<br />

nach Großereignissen geschieht.<br />

Wenn man die Schlagzeilen regelmäßig<br />

verfolgt, scheint es so, als hätten die<br />

Katastrophen zugenommen. Stimmt dieser<br />

Eindruck?<br />

Teilweise. Katastrophen hat es schon<br />

immer gegeben. Nur: Durch die Medien<br />

werden solche Nachrichten aus der ganzen<br />

Welt rascher verbreitet. Die Digitalisierung<br />

mit ihren Möglichkeiten beschleunigt das<br />

um ein Vielfaches. Aber man muss auch<br />

sehen, unser Leben ist wesentlich komplexer<br />

geworden. Damit steigt das Gefahrenpotenzial.<br />

Ebenfalls ist der Klimawandel<br />

mit seinen Auswirkungen klar erkennbar.<br />

Wird dem in Bezug auf Krisenmanagement<br />

Rechnung getragen?<br />

Ja, aber nicht in dem Umfang, wie es wünschenswert<br />

wäre. Die Möglichkeiten, die<br />

die Digitalisierung bietet, werden noch zu<br />

wenig ausgeschöpft. Hier liegt viel Potenzial.<br />

Generell sollte man mehr ins Katastrophenmanagement<br />

investieren. Damit<br />

meine ich neben den Schutzverbauungen<br />

auch eine ausreichende Unterstützung der<br />

Gemeinden. Schließlich müssen sie die<br />

Sicherheit gewährleisten. Das fängt beim<br />

Schneeräumen an, geht über die Kommunikationsausstattung<br />

und hört beim Einsatzfahrzeug<br />

nicht auf. Nach meinem Verständnis<br />

ist Sicherheit Öffentlichkeitskompetenz.<br />

Wie sieht es in Bezug auf die Krisenkommunikation<br />

aus?<br />

Die Krisenkommunikation geht heute<br />

rasend schnell. Sobald ein Ereignis<br />

passiert, gibt es im Netz schon Bilder<br />

oder einen Film dazu. Man hat als Einsatzleitung<br />

keine Chance mehr, sich auf<br />

eine Presseaussendung oder eine Stellungnahme<br />

vorzubereiten. Man muss sofort<br />

reagieren, anstatt vorbereitet zu agieren.<br />

Hinzu kommt: Für fast alles gibt es mittlerweile<br />

schon eine App. Wir müssen dabei<br />

jedoch aufpassen, dass wir die Bürgerinnen<br />

und Bürger nicht dahin „erziehen“, dass die<br />

Eigenverantwortung noch mehr abnimmt<br />

– unter dem Motto: Ich habe noch keine<br />

Nachricht von einer Winterstraßensperre<br />

bekommen, also kann ich fahren. Diese<br />

Information muss hauptsächlich eine Holschuld<br />

bleiben! Ebenfalls muss die Bevölkerung<br />

bestimmte Gefahren auch selbst einschätzen<br />

können, denn was passiert, wenn<br />

diese Informationsmedien ausfallen? Wie<br />

wird dann kommuniziert und wie leitet die<br />

Gemeindeeinsatzleitung in einem solchen<br />

Fall den Einsatz? Daher sollte als „Plan B“<br />

auf die altbewährten Instrumente nicht verzichtet<br />

werden.<br />

Und wie ist es um das Katastrophenmanagement<br />

in den Tiroler Gemeinden<br />

bestellt?<br />

Generell sind die Gemeinden gut aufgestellt<br />

und haben in der Vergangenheit bei<br />

Katastrophen sehr gut reagiert. Das Thema<br />

wird ernst genommen. Die Blaulichtorganisationen,<br />

die Lawinenkommissionen,<br />

die Ämter wie die BH, die Wildbach- und<br />

Lawinenverbauung, Forst, Baubezirksamt<br />

und Agrar unterstützen die Gemeinden<br />

tatkräftig in diesen Ausnahmesituationen.<br />

Das überbehördliche Zusammenspiel ist<br />

über die Jahre gewachsen und funktioniert<br />

sehr gut. Anhand der letzten Ereignisse<br />

sehen wir, dass der Personalabbau bzw.<br />

das Nichtnachbesetzen des Personals<br />

und die Reduktion des Fuhrparkes in den<br />

angesprochenen Ämtern unser System an<br />

die Grenzen bringt. Bei solchen Ereignissen<br />

benötigen wir in den Tiroler Bezirken<br />

die Unterstützung dieser Fachkräfte. Das<br />

gehört auch zum Katastrophenschutz.<br />

Gibt es etwas zu verbessern?<br />

Es besteht immer Spielraum nach oben.<br />

Aber mit jeder Katastrophe lernt man<br />

dazu und baut dann entsprechend das<br />

Krisen- und Katastrophenmanagement<br />

aus. Die Ausstattung, die es im Ernstfall<br />

braucht, ist nicht überall optimal. Natürlich<br />

ist das eine Frage der Finanzen, wie ich<br />

vorhin schon erwähnte. Man muss einfach<br />

das Verhältnis sehen: Was kostet eine<br />

Investition in den Katastrophenschutz<br />

und welche Kosten entstehen durch eine<br />

Katastrophe? Prävention ist immer billiger,<br />

nur will man sich die nicht immer<br />

leisten. Potenzial gibt es noch in der<br />

Bewertung (Risikoanalyse) der Szenarien.<br />

Diese müssen je nach Zuständigkeit<br />

von der Gemeinde über den Bezirk, das<br />

Land und den Bund nach einem einheitlichen<br />

Bewertungssystem durchgeführt<br />

werden. So kann die Gefahr von allen<br />

handelnden Stellen bzw. Einsatzleitungen<br />

richtig eingeschätzt werden. Da holpert’s<br />

extrem. Zum Beispiel könnte durch<br />

ein einheitliches Beurteilungssystem,<br />

wie bei der Einstufung der Lawinengefahr,<br />

manche Hürde genommen werden.<br />

Was ich mir jedoch grundlegend wünsche,<br />

auch im Hinblick auf die bevorstehenden<br />

Gemeinderatswahlen, ist eine „Grundausbildung<br />

im Krisen- und Katastrophenmanagement“<br />

für Bürgermeisterinnen und<br />

Bürgermeister. Gleiches gilt für Gemeinderätinnen<br />

und Gemeinderäte. Man stelle<br />

sich vor, eine neue Bürgermeisterin oder<br />

ein neuer Bürgermeister wurde gerade<br />

gewählt, ist wenige Wochen im Amt, und<br />

eine Katastrophe passiert. Was dann?<br />

Eine entsprechende Schulung wäre nicht<br />

nur eine enorme Hilfestellung, es geht<br />

auch um Rechts- und Haftungsfragen, für<br />

die der Bürgermeister, die Bürgermeisterin<br />

im schlimmsten Fall dann am Ende<br />

ganz allein geradestehen muss.<br />

Haben Sie zum Abschluss noch einen<br />

Tipp für die Gemeinden?<br />

Regelmäßig schulen und mit Planspielen<br />

den Ernstfall üben, damit die Abläufe<br />

eines Einsatzes verinnerlicht werden.<br />

Sicher lässt es sich von „außen“ immer<br />

g’scheit daherreden. Aber: Das Unvorhergesehene,<br />

Unvorstellbare kann immer und<br />

überall geschehen. Da helfen oft auch die<br />

besten Konzepte und Ausbildungen nichts.<br />

Eine gute Vorbereitung ist noch die beste<br />

Versicherung für den Tag X, den sich niemand<br />

wünscht.<br />

Danke für das Interview, Bürgermeister<br />

Schneider!<br />

ZUR PERSON<br />

Bernhard Schneider, Jahrgang<br />

1964, ist das 18. Jahr Bürgermeister<br />

in der Gemeinde Assling<br />

in Osttirol. Davor war er<br />

sechs Jahre lang Vizebürgermeister.<br />

Neben seinem Amt<br />

in Assling ist der Osttiroler<br />

u. a. Geschäftsführer des<br />

Abfallwirtschaftsverbands Osttirol,<br />

Obmann des Abwasserverbands<br />

Unteres Pustertal<br />

und des Sozialsprengels Assling,<br />

Anras und Abfaltersbach.<br />

2010 inskribierte sich Bernhard<br />

Schneider an der UMIT Hall<br />

für den Studienlehrgang<br />

sozialökonomisches und<br />

psychosoziales Krisen-<br />

und Katastrophenmanagement,<br />

den er<br />

erfolgreich absolvierte.<br />

BERNHARD<br />

SCHNEIDER

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!