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Fashion + Beauty | 31<br />

herauszuarbeiten. Der erste Schritt jedes neuen<br />

Auftrags bei der persönlichen Schneiderin war das<br />

zeitaufwendige Maßnehmen, das mitunter den Preis<br />

des späteren Kleids rechtfertigte. Nur so konnte<br />

garantiert werden, dass es sich an den Körper anschmiegte<br />

oder bei fülligeren Damen die entsprechenden<br />

Stellen verhüllte.<br />

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts begann das Zeitalter<br />

der Konfektion, also die Produktion auf Vorrat<br />

für eine unbestimmte Kundschaft. Es war die Geburtsstunde<br />

für die Mode von der Stange. Je mehr<br />

sich die Normierung und damit die Massenware<br />

durchsetzte, desto wertvoller wurde die Maßschneiderei.<br />

Um 1910 entstand daher in England das Prädikat<br />

„tailor made“, das tadellosen Sitz statt Standardgröße<br />

versprach. Noch heute ist der individuelle<br />

Zuschnitt das wichtigste Unterscheidungsmerkmal<br />

zwischen der Prêt-à-porter und der Haute Couture,<br />

also der hohen und exklusiven Schneiderkunst.<br />

Dass aktuell XXL-Hosen und XXL-Hemden für Frauen<br />

mit eigentlich kleinerer Konfektionsgröße in sind,<br />

kann mit zwei Aspekten zusammenhängen. Erstens:<br />

Die Pandemie-Mode hat die Bequemlichkeit zum<br />

willkommenen Kult werden lassen. Hinter dem elegant<br />

klingenden Begriff Loungewear verbergen sich<br />

Jogginghosen, Sneaker und Sweatshirts. Wer früher<br />

mit solchen „laissez-fairen“ Kleidungsstücken<br />

im beruflichen Kontext den Ruf der fehlenden<br />

Professionalität fürchten musste, kann nun nicht<br />

nur im Home-Office, sondern auch auf der Straße<br />

beruhigt das Pyjama-Feeling genießen. Auch das<br />

lange von Fashionistas vorgebetete oberste Credo<br />

des Oversize-Stylings, man müsse mindestens ein<br />

schmales Teil zum weiten kombinieren, ist mittlerweile<br />

revidiert worden. Zweitens: Der Oversize-<br />

Look ist als Gegenteil zur hautengen Sexiness ein<br />

Statement des neuen Feminismus, der sich gegen<br />

Übersexualisierung und Selbstdefinierung qua Körperlichkeit<br />

wehrt. Bei wem die Kleidung am Körper<br />

„schlabberte“, galt lange als unmodisch oder schien<br />

womöglich Unsicherheiten kaschieren zu wollen.<br />

Heute wird dieses Negieren von Äußerlichkeiten,<br />

dieses geheimnisvolle Verschwinden hinter einem<br />

dickhäutigen Panzer gerade von jungen Leuten mit<br />

Vorbildern á la Billie Eilish gefeiert. Das Verhüllen<br />

physischer Merkmale schafft eine Gleichheit, die<br />

genau von dieser Generation dringend gefordert<br />

wird. Auch einige Designer*innen reagieren mit ihren<br />

Kreationen auf aktuelle Umstände: Die beschützende<br />

und von der Außenwelt abschirmende Funktion<br />

von Kleidung nahm sich etwa Nicolas Ghesquière<br />

(Louis Vuitton) für seine Herbst/Winter-Kollektion<br />

<strong>2021</strong>/22 zum Vorbild.<br />

Wespentaille versus Zeltmantel: Couture aus den 1950er<br />

Jahren, „Paper Dolls“ von Christian Dior<br />

Zeitgenoss*innen des 19. und 20. Jahrhunderts würden<br />

beim Anblick der „All-Over-Oversizer“ sicherlich<br />

einen Sittenverfall diagnostizieren oder denken,<br />

Schneider*innen und Näher*innen wären in den<br />

Streik getreten. Und tatsächlich ist ein solcher Zusammenhang<br />

nahe an der Realität. Was lässig und<br />

relaxed wirkt, zeugt gleichzeitig von der Situation in<br />

der Modeproduktion. Bereits 1915 erkannte Norbert<br />

Stern in seinem Buch „Mode und Kultur“: „Die industrielle<br />

Nachschaffung von losen Moden erfordert<br />

viel weniger Zeit und Genauigkeit als die Arbeit einer<br />

gutsitzenden Kleidung. Man machte es insbesondere<br />

durch die schlappigen Blusen der letzten Zeit den<br />

Schneidern und Schneiderinnen, aber vor allem der<br />

Konfektion möglichst bequem, die schnell [...] aufgekommene<br />

Modesilhouette ohne besondere Mühe<br />

herzustellen. Die Frau war der betrogene Teil. Ihre<br />

Kleider nahmen an Arbeitsaufwand ab, stiegen aber<br />

gleichzeitig beträchtlich im Preise.“ Gutsitzende Kleidung<br />

setzt handwerkliche Perfektion und Sorgfalt<br />

voraus und ist daher nicht gemacht für tausendfache<br />

Schablonierung. Die heutige Fast Fashion allerdings<br />

arbeitet im Akkord mit ungelernten Arbeiter*innen.<br />

Der Oversize-Look eignet sich bestens zur billigen<br />

Herstellung am Fließband, bei der die richtige Position<br />

der Abnäher entsprechend einer bestimmten<br />

Größe zur Nebensache wird. Am Ende profitiert davon<br />

immerhin die Änderungsschneiderei.

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