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bull_05_04_Feuer

Credit Suisse bulletin, 2005/04

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CREDIT SUISSE<br />

Bulletin_4.<strong>05</strong><br />

Editorial 03<br />

Foto: Pia Zanetti / Foto Titel: www.coproduktion.ch<br />

Die Macht des Streichholzes<br />

In meiner Familie ist das <strong>Feuer</strong>machen Frauensache.<br />

Ist die <strong>Feuer</strong>stelle erreicht, der Rucksack<br />

platziert, schwärme ich mit recht viel, die<br />

beiden Kinder mit schnell schwindendem Enthusiasmus<br />

zur Holzsuche aus. Derweil sondiert<br />

und ordnet meine Frau zuerst das vorhandene<br />

und dann das angeschleppte Material. Fein<br />

säuberlich stapelt sie dünnes Reisig, daumendicke<br />

Stecken und armdicke Äste. Längst sind<br />

die Kinder irgendwo im Dickicht entschwunden,<br />

und die ganze Zerkleinerungsarbeit lastet<br />

auf meinen geschundenen Männerknien. Daneben<br />

widmet sich meine Frau konzentriert der<br />

hohen Kunst des <strong>Feuer</strong>turmbaus. Um einen<br />

leicht entfl ammbaren Kern aus Papier und Reisig<br />

baut sie zuerst mit kleinen und dann immer<br />

dickeren Ästen eine Art Tipi. Die sehr dicken<br />

und dadurch zumeist noch zu langen Stücke –<br />

mein Knie setzt natürliche Grenzen – werden<br />

für später aufgehoben.<br />

Nun folgt der grosse Augenblick. Mit der<br />

feierlichen Miene einer Hohen Priesterin im<br />

alten Ägypten greift meine Frau zur Zündholzschachtel.<br />

Plötzlich sind auch die Kinder wieder<br />

aus dem Nichts ins Zentrum des Geschehens<br />

zurückgekehrt. Mit höchster Konzentration<br />

entzündet sie das Zündholz, schirmt mit der<br />

hohlen Hand gekonnt die zarte Flamme vor<br />

einem bedrohlichen Windstoss ab. Langsam,<br />

sehr langsam schiebt sie die Flamme durch<br />

einen Spalt ins Innere des Holztipis und erreicht<br />

gerade noch rechtzeitig Papier und Reisig, die<br />

prompt <strong>Feuer</strong> fangen. Nun kann eigentlich fast<br />

nichts mehr schief gehen. Nach kurzer Zeit<br />

brennt das ganze Holzgebilde lichterloh und<br />

kann von mir völlig konzeptlos mit den<br />

dickeren Ästen überhäuft werden. Nun ist der<br />

Moment gekommen, in dem sich meine Frau<br />

mit süffi santer Miene mir zuwendet und völlig<br />

unnötig anmerkt: «Nur ein Streichholz!»<br />

Wir Holzträger nicken in Ehrfurcht und sind<br />

froh. An die zugegeben wenigen, aber stimmungsmässig<br />

arg getrübten Nachmittage, als<br />

auf das erste noch ein zweites oder einmal gar<br />

ein viertes Zündholz folgte, erinnert sich keiner<br />

gerne zurück.<br />

Zurück auf eine Zeit, als es gar keine Zündhölzer<br />

gab, blickt der holländische Soziologie-<br />

Professor Johan Goudsblom auf Seite 14. Für<br />

ihn steht fest, dass genau dieses Streben, sich<br />

das <strong>Feuer</strong> zu Nutze zu machen, die Entwicklung<br />

des Menschen entscheidend vorangetrieben<br />

hat. <strong>Feuer</strong> machte für die Urmenschen die<br />

Nacht zum Tag, eisige Landstriche bewohnbar,<br />

das Fleisch haltbarer. Später ermöglichte das<br />

<strong>Feuer</strong> die Industrialisierung und verschaffte<br />

dem Automobil seine Vorwärtsenergie.<br />

Das macht das kleine Streichholz zu den<br />

grössten Errungenschaften der Menschheit.<br />

Es hat dem Menschen die Macht verliehen,<br />

überall und jederzeit ein <strong>Feuer</strong> zu entfachen.<br />

Welche evolutionären Folgerungen ich daraus<br />

für mich und meine Rolle in der Familie ziehen<br />

soll, sei dahingestellt. Viel entscheidender ist<br />

die Antwort auf die Frage, wie der Mensch im<br />

21. Jahrhundert das <strong>Feuer</strong> als Energielieferanten<br />

ersetzen wird, wenn es kein Öl mehr zu<br />

verbrennen gibt. Daniel Huber, Chefredaktor Bulletin

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