mensch 72 4 |<strong>2021</strong>
mensch »Da begann bei mir ein Häutungsprozess, der bis heute andauert. Das hat mich selbst verändert. Ich habe den wahren Kern des Unternehmens verstanden: Empathie.« Zahlen sind nur Ergebnisse, Zahlen bewegen kein Unternehmen. Nur Visionen motivieren und begeistern Mitarbeiter, über sich hinauszuwachsen und für die Ideen des Unternehmens zu brennen. Also verbrachte und verbringt Schulte-Noelle viel Zeit mit der Familie Näder. Er schätzt den Austausch mit Hans Georg Näder sehr – sie treffen sich regelmäßig, um sich über wichtige Entwicklungen auszutauschen. Dort der Visionär mit den überwältigenden Ideen und hier der CEO, der das in Prozesse und eine Struktur umsetzt, in der nicht zuletzt die Zahlen stimmen. Näder greift auch spontan zum Telefon oder schreibt zu jeder Tages- und Nachtzeit eine SMS, um neue Ideen zu platzieren. Schulte-Noelle sagt: „Ich liebe diese Überraschungen. Meist gibt er neue Impulse. Manchmal weist er mich auf Fehler im Unternehmen hin, und wenn ich der Sache dann auf den Grund gegangen bin, muss ich sagen, dass er meistens recht hat. Und manchmal muss ich sogar ihn vertrösten, wenn etwas gerade nicht in den Plan des Unternehmens passt.“ SCHULTE-NOELLE tauscht sich intensiv mit dem Sartorius-Chef Joachim Kreuzburg aus. Der sitzt im Verwaltungsrat von Ottobock und kennt das Unternehmen sehr gut. Und da es keine konkurrierenden Interessen oder Überlappungsfelder gibt, können sich die beiden völlig frei über Strategien oder Finanzierungfragen austauschen oder bei der IT und beim Einkauf zusammenarbeiten. Schulte-Noelle hat die regelmäßigen Mittagessen mit Kreuzburg in der Corona-Zeit vermisst und hofft, dass man mit dieser Tradition bald weitermachen kann. Seit Beginn sucht Schulte-Noelle bei Ottobock die Nähe zu Anwendern und Patienten. Ein Schlüsselerlebnis war ein Polio-Patient, der dank des C-Brace von Ottobock wieder ganz normal laufen konnte. „Da begann bei mir ein Häutungsprozess, der bis heute andauert“, sagt Schulte-Noelle. „Das hat mich selbst verändert. Ich habe den wahren Kern des Unternehmens verstanden: Empathie. Ottobock war eine große Chance für mich. Bei Fresenius ging es immer um Strukturen und Strategien. Bei Ottobock springt man rein und ist in ein paar Sekunden mitten im Leben und sehr nah am Anwender und versteht, um welche fundamentalen und existenziellen Bedürfnisse es in Wahrheit geht.“ Er fühlte, wie er sich immer mehr von den nackten Zahlen löste und sich immer mehr den Fragen der nackten Existenz zuwandte. Er verbrachte viele Tage in den Technikbetrieben und in Versorgungseinrichtungen. „Das hat mich emotional so stark eingenommen, dass ich für mich entschieden habe, den Menschen noch stärker in den Mittelpunkt zu stellen und die Werte der Familie und des Unternehmens neu zu interpretieren.“ PHILIPP SCHULTE-NOELLE nimmt sich jetzt für sein persönliches Arbeitsprogramm als CEO vor, diese Werte zu stärken. Er sagt: „Ich fand es jetzt an der Zeit, dass wir eine Vision entwickeln, die einen Rahmen setzt, der weit über die blanken Geschäftszahlen wie Umsatz und EBITDA hinausweist. Wir haben uns in den letzten Jahren stark auf die Optimierung von Strukturen und Kosten sowie auf die Verbesserung der Effizienz konzentriert. Das war notwendig, aber dabei ist intern und extern leider ein wenig die Emotionalität und Empathie aus dem Blickfeld geraten, die unser Unternehmen und die Familie Näder seit jeher auszeichnet.“ Ottobock will unter seiner Führung den Erfolg des Unternehmens künftig nicht nur am Umsatz und Ergebnis messen, sondern berechnen, wie viel Nutzen das Unternehmen für die gesamte Gesellschaft erbringt. Wenn Ottobock Patienten versorgt und ihnen dabei hilft, ihre Mobilität zu verbessern und in den Alltag zurückzukehren, dann bedeutet das zunächst für den Patienten, für sein familiäres Umfeld, aber auch für das Sozialsystem und die Arbeitsgesellschaft einen hohen Nutzen. Das hat einen hohen sozioökonomischen Mehrwert, wenn Patienten wieder an der Gesellschaft teilhaben, in die Arbeitswelt zurückkehren und ihr eigenes Geld verdienen können. 4 |<strong>2021</strong> 73