faktor Winter 2021
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mensch<br />
» So ziale Gerechtigkeit ist das Thema meines Lebens –<br />
so habe ich den Eindruck.«<br />
LESEZEIT: 8 MINUTEN<br />
„Wie wenig sie sich verändert hat“, denke ich, als<br />
Petra Broistedt die Tür zu ihrem Büro öffnet: Derselbe<br />
kurze Haarschnitt, zurückhaltendes Make-up,<br />
sportlich-schicke Jacke und schwarze Stiefel. Mehr<br />
als zehn Jahre liegt unser letztes Treffen zurück. Sie<br />
war vier Jahre die persönliche Referentin meines<br />
Vaters, damals Landrat in Holzminden. Doch um<br />
alte Erinnerungen aufzufrischen, bleibt bei unserem<br />
Zusammentreffen im Neuen Rathaus wenig<br />
Zeit. In 80 Minuten wartet ihr Anschlusstermin.<br />
„Ich bin Langläuferin, ich laufe gern lang – das bedeutet,<br />
Zähne zusammenbeißen und durch“, sagt Petra Broistedt.<br />
Laufen sei für sie sehr anstrengend, ja sogar schmerzhaft.<br />
„Aber wenn ich wieder zu Hause bin, geht es mir so gut.“<br />
Vielleicht erklärt dies, warum die neue Oberbürgermeisterin<br />
von Göttingen sich Herausforderungen zutraut.<br />
Schmerzhaftes. Kontroversen.<br />
Gerade kann sie noch Atem holen. Ihre Gedanken sortieren.<br />
Ebenso die Akten auf ihrem großen schwarzen<br />
Schreibtisch in ihrem Büro als Dezernentin, sechs Tage,<br />
bevor sie offiziell ihr neues Amt antritt. Sie kann sich in<br />
Ruhe überlegen, ob die selbst gezogenen Kakteen auf<br />
dem Fensterbrett in ihren azurblauen Keramiktöpfen<br />
mit ins Oberbürgermeisterbüro umziehen dürfen. Die<br />
Chancen stehen nicht gut. „Mein Mann hat mir geraten,<br />
die Kakteen nicht mitzunehmen. Es sähe sonst aus, als<br />
hätte Göttingen eine stachelige Oberbürgermeisterin.“<br />
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Auch beim Foto ihrer<br />
Tochter, aufgenommen während eines Frauen-Hilfsprojekts<br />
in Indien, und dem Bild ihres Sohnes überlege sie<br />
noch. Wie viel Privates darf, soll sie zeigen? Wie viel verträgt<br />
sich mit ihrem Amt, wie viel braucht sie als Halt?<br />
WER <strong>2021</strong> EIN NEUES AMT ÜBERNIMMT, weiß, er wird<br />
Rückhalt brauchen: Leicht werden die kommenden Jahre<br />
nicht. Die Corona-Pandemie ist nicht zu Ende. Die<br />
Haushalte der Kommunen können keinen Geldsegen erwarten,<br />
im Gegenteil. Politische Mehrheiten zu beschaffen,<br />
wird komplizierter. Die Anfeindungen nehmen zu –<br />
von hasserfüllten E-Mails bis zu offenen Bedrohungen.<br />
BROISTEDT WEISS DARUM. Sie stand selbst schon mitten<br />
im Orkan öffentlicher Kritik: Eine überregionale<br />
Zeitung nannte dies im Juni 2020 den ,Göttinger Härtetest‘.<br />
Es sollte der erste von zweien in kurzer Folge sein:<br />
Im Iduna-Zentrum, dem verwohnten und in die Jahre<br />
gekommenen Hochhaus mit mehr als 400 Apartments,<br />
häuften sich die Corona-Infektionen. Manche der Betroffenen<br />
hatten kaum Symptome, verstanden nicht, warum<br />
sie sich testen sollten, ihre Wohnung nicht verlassen.<br />
Kurz darauf der nächste Corona-Ausbruch in einem<br />
weiteren maroden Wohnblock. Noch mehr Menschen<br />
auf engstem Raum, noch größere Sprachprobleme. Wieder<br />
ein ungepflegtes Umfeld, Drogen- und Alkoholprobleme.<br />
Als Polizei und Ordnungsamt den Block für<br />
die Quarantäne absperrten, eskalierte die Lage: Bewohner<br />
warfen mit Metallstangen, Pflastersteinen und einigem<br />
mehr nach den Polizeikräften. Broistedt als Leiterin<br />
des Krisenstabs blickte angespannt in die für sie noch<br />
un gewohnten Fernsehkameras und erklärte die Lage. Sie<br />
wirkte so, als würde sie die Probleme in Abschnitte zerlegen<br />
wie ein Läufer, der sich den Weg in Etappen einteilt:<br />
Tests ankündigen, Sanktionen für Uneinsichtige<br />
verkünden, Mahlzeiten und Medikamente organisieren.<br />
Wie es ihr in der Zeit ging? Beschimpfungs-E-Mails<br />
habe es natürlich gegeben. „Das muss man aushalten<br />
können“, sagt die 57-Jährige. Es helfe, dass solche Entscheidungen<br />
nie allein getroffen würden. Der Krisenstab<br />
habe mit seinen vielen Fachdisziplinen zig Aspekte abgewogen.<br />
Broistedt kannte die Probleme als Dezernentin. Sie<br />
trafen im Härtetest quasi alle zusammen: Menschen<br />
mit Zuwanderungsgeschichte, Kinderarmut, ein mehr<br />
als angespannter Wohnungsmarkt und die Pandemie.<br />
„So ziale Gerechtigkeit ist das Thema meines Lebens – so<br />
habe ich den Eindruck“, sagt sie feststellend.<br />
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