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© DAVIT GHAHRAMANYAN / AFP / picturedesk.com<br />

Es gibt einen großen Doppelstandard<br />

in Europa: Man kauft<br />

kein Gas mehr aus Russland,<br />

weil es im Krieg mit der Ukraine<br />

ist. Jedoch hat man kein Problem<br />

damit, stattdessen Gas-Deals mit Aserbaidschan<br />

abzuschließen und verschließt<br />

die Augen vor der existenziellen Krise in<br />

Berg-Karabach“, sagt Ararat Mgdsian.<br />

Der 24-Jährige lebt seit 2017 in Österreich<br />

und hat Verwandte und Freunde in<br />

jener Region, um die sich die Nachbarstaaten<br />

Armenien und Aserbaidschan in<br />

einem langen Konflikt befinden.<br />

Seit mehr als 200 Tagen ist der<br />

Latschin-Korridor von aserbaidschanischen<br />

Truppen besetzt. Er ist einzige<br />

Verbindung zwischen der autonomen<br />

Republik Arzach, die seit 1991 in der<br />

Region Berg-Karabach unabhängig ist,<br />

und Armenien. Über 130.000 Menschen<br />

– davon etwa 30.000 Kinder – haben seit<br />

Dezember keinen Zugang zu Medikamenten,<br />

Lebensmitteln oder humanitärer<br />

Hilfe. Die Blockade begann als Protest<br />

von aserbaidschanischen Öko-Aktivisten<br />

gegen angeblich illegale Bergbauarbeiten<br />

am Latschin-Korridor. Zu einem weiteren<br />

Krieg zwischen Aserbaidschan und<br />

Armenien kam es zuletzt im Jahr 2020,<br />

bei dem tausende Menschen starben.<br />

Damals griff Russland als alte Schutzmacht<br />

Armeniens ein und vereinbarte<br />

einen Waffenstillstand. Doch vor dem<br />

Hintergrund des Ukrainekriegs ist nicht<br />

nur die westliche Berichterstattung,<br />

sondern auch das Engagement für Berg-<br />

Karabach deutlich abgeflacht.<br />

15 TAGE STROM IM MONAT<br />

„Ich verbrachte Weihnachten in der<br />

Hauptstadt Jerewan und wollte eigentlich<br />

zu meiner Verwandtschaft nach<br />

Berg-Karabach fahren. Der Besuch kam<br />

doch nicht zustande – zu meinem Glück,<br />

denn sonst wäre auch ich in der Blockade<br />

gefangen“, erzählt Ararat, der BWL<br />

an der WU studiert. Einige seiner engen<br />

Freunde sind vor Ort in der Enklave. Sie<br />

berichten, dass seit Dezember die Kinder<br />

in der Region die Schule nicht besuchen<br />

können. Strom gäbe es nur 15 Tage im<br />

Monat, ohne Vorwarnung. „Wenn es<br />

gerade keinen Strom und kein Internet<br />

dort gibt, können wir keinen Kontakt aufnehmen.“<br />

Einer von Ararats Freunden ist<br />

Arzt. „Die Situation dort ist sehr schwer,<br />

da die wenigen Krankenhäuser in der<br />

Region schlecht ausgestattet sind. Alte<br />

und kranke Menschen, sowie Schwangere<br />

müssten nach Armenien fahren,<br />

um ausreichend betreut zu werden.<br />

Sollten sie das Gebiet jedoch verlassen,<br />

kommen sie nie mehr zurück zu ihren<br />

Häusern.“ Der Alltag in Berg-Karabach<br />

gestaltet sich schwer, wie Ararat von<br />

seinen Kontakten vor Ort erfahren hat.<br />

„Bereits nach dem ersten Monat der<br />

Blockade wurden Lebensmittel knapp.<br />

Deshalb hat sich die Karabach-Regierung<br />

dazu entschlossen, Produkte zu rationieren.<br />

Für eine vierköpfige Familie gibt es<br />

nur 100 Gramm Brot. Jetzt im Sommer<br />

wird Obst und Gemüse von der Bevölkerung<br />

eingekocht für den Winter.“<br />

GROSSTÜRKISCHE<br />

FANTASIEN<br />

Während Menschenrechtsorganisationen<br />

Alarm schlagen, verschärft sich der Ton<br />

seitens der aserbaidschanischen Regierung<br />

immer weiter. Die Idee vom „Großen<br />

Turan“, also einem politischen und<br />

kulturellen Zusammenschluss der turksprachigen<br />

Länder wie Aserbaidschan,<br />

Kirgistan, Turkmenistan und Usbekistan<br />

im Kaukasus wird auch vom türkischen<br />

WORUM GEHT ES BEI<br />

DEM KONFLIKT UM<br />

BERG-KARABACH?<br />

Der Konflikt zwischen Armenien<br />

und Aserbaidschan um Bergkarabach<br />

besteht aus einem<br />

langjährigen territorialen Streit<br />

um die Region Bergkarabach.<br />

Beide Länder beanspruchen<br />

das Gebiet, das zu sowjetischen<br />

Zeiten zu Aserbaidschan<br />

gehörte, aber überwiegend von<br />

ethnischen Armeniern bewohnt<br />

wird. Der Konflikt eskalierte<br />

2020 in einen weiteren Krieg,<br />

bei dem fast 4.000 Menschen<br />

starben und viele vertrieben<br />

wurden. Im November 2020<br />

wurde eine Waffenruhe vereinbart,<br />

aber die Spannungen<br />

bleiben bestehen und eine dauerhafte<br />

Lösung ist noch nicht<br />

gefunden.<br />

Russland hat als Vermittler und Akteur<br />

Einfluss im Konflikt um Berg-Karabach.<br />

Präsidenten Erdogan immer weiter vorangetrieben.<br />

Die Region Berg-Karabach,<br />

die eine ethnisch armenische Bevölkerung<br />

hat, sich aber laut UN völkerrechtlich<br />

zu Aserbaidschan gehöre, spielt<br />

geopolitisch eine entscheidende Rolle.<br />

Ararat findet, dass die Welt nicht weiter<br />

tatenlos zusehen darf. Er vergleicht die<br />

aktuelle Blockade Berg-Karabachs mit<br />

der Situation vor dem osmanischen<br />

Genozid an der armenischen Bevölkerung<br />

im Jahr 1915. Gemeinsam mit 30<br />

anderen Ländern, erkannte Österreich<br />

den Genozid an den Armeniern offiziell<br />

an. „Die Menschen werden wieder<br />

vor die Wahl gestellt, entweder ein Teil<br />

von Aserbaidschan zu werden, oder zu<br />

sterben“, so der BWL-Student. Armenien<br />

befände sich, als demokratisch und<br />

westlich-orientiertes Land umrandet von<br />

diktatorischen, antiwestlichen Staaten.<br />

„Die Welt darf keinen zweiten Völkermord<br />

zulassen“, sagt Ararat. Schon seine<br />

Vorfahren mussten vor 100 Jahren vor<br />

dem Genozid nach Vanadzor im Osten<br />

von Armenien fliehen. „Ich möchte nicht,<br />

dass meine Freunde oder meine zukünftigen<br />

Kinder dasselbe erleben.“ ●<br />

/ POLITIKA / 25

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