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schreien ja bekanntlich am lautesten. Ich frage mich<br />

an dieser Stelle, wieso diese Debatte immer und<br />

immer wieder gleich abläuft. Wie bringt uns das<br />

weiter? Und welche Konsequenzen hat das für Täter?<br />

In diesem Zusammenhang von „Cancel Culture“ zu<br />

sprechen, ist mehr als geschmacklos. Bewährungsstrafen<br />

oder Geldstrafen, die vor allem einflussreiche<br />

Menschen mit Top-Anwält:innen leicht abschütteln<br />

können, sind auch keine ausreichende Maßnahme.<br />

Anstatt uns immer weiter im Kreis zu drehen und so<br />

zu tun, als wären das alles Einzelfälle, und „Es ist ja<br />

eh nichts passiert“ zu murmeln, nehmen wir das bitte<br />

endlich ernst. Ich weiß, es ist unangenehm. Genau<br />

deshalb sprechen wir jetzt darüber. Das gilt vor allem<br />

für jene Männer – aber auch Frauen – die jetzt defensiv<br />

den Kopf schütteln werden und sich fragen, ob es<br />

„wirklich so schlimm ist“. Ja, ist es.<br />

WELCHE FRAU DENKT GERNE AN<br />

SEXUELLE ÜBERGRIFFE ZURÜCK?<br />

Niemand zwingt euch, eure Songs vom Handy zu<br />

löschen, niemand verlangt, dass ihr eure Shirts einer<br />

problematischen Band weghaut oder keine Filme<br />

eines Regisseurs mehr schaut. Wer sich aber lieber<br />

Sorgen um das Image des mutmaßlichen Täters<br />

macht, als sich einzugestehen, dass Machtmissbrauch<br />

und sexualisierte Gewalt durchaus alltägliche<br />

Probleme sind, die gerne totgeschwiegen werden,<br />

dann haben wir echt ein Problem. Und wir sprechen<br />

hier ja bloß von den Fällen, die an die Öffentlichkeit<br />

gelangen. Aber genug zu den Medien, wir müssen<br />

über die Fälle reden, die nicht an der Öffentlichkeit<br />

sind.<br />

Ganz, ganz viele Fälle werden niemals zur Anzeige<br />

gebracht. Weil die Opfer nicht ernst genommen<br />

werden, aus Angst vor dem Täter, oder eben aus<br />

Scham. Welche Frau stellt sich freiwillig hin und<br />

erzählt öffentlich darüber, dass sie sexualisierte<br />

Gewalt erlebt hat? Welche Frau ist jemals dadurch<br />

„berühmt“ geworden, weil sie einen Täter angezeigt<br />

hat? Welche Frau will dafür „bekannt“ sein, ein Missbrauchsopfer<br />

zu sein? Wie viele Situationen haben<br />

ich und Frauen in meinem Umfeld in den letzten<br />

Jahren kleingeredet, totgeschwiegen und lachend<br />

abgetan? Unzählige. Wir sind mit dem Verständnis<br />

aufgewachsen, dass es normal ist, wenn dir als<br />

Teenagerin ein Mann im Vorbeigehen im Club an den<br />

Po grapscht, dass es normal ist, wenn jemand deine<br />

Betrunkenheit ausnutzt, dass es normal ist, dass man<br />

Männern irgendetwas schuldet, wenn man auch nur<br />

kurz ein „zu freundliches“ Signal gesendet hat. Und<br />

wenn man einmal für sich oder wen anderen aufgestanden<br />

ist und laut gesagt hat, dass eine Situation<br />

überhaupt nicht in Ordnung war? „Stell dich nicht so<br />

an“, „Es ist ja nichts passiert“, „Jetzt komm mal runter“,<br />

waren die Klassiker. Das waren keine Aussagen<br />

von Tätern, sondern von Menschen im Freundeskreis.<br />

Auch von Frauen, auch von mir. Wir dachten<br />

lange, dass das alles normal ist.<br />

ANDERE ZEITEN? NA UND?<br />

Es widert mich an, wenn ich jetzt darüber nachdenke.<br />

„Damals war es halt so, das waren andere<br />

Zeiten“, hört man in Retrospektive. Ja, eh. Vielleicht<br />

versuchen wir auch, uns selbst zu schützen und vor<br />

uns selbst zu rechtfertigen? Welche Frau erinnert<br />

sich schon gerne daran zurück, als ein fremder Mann<br />

seinen steifen Penis in der U-Bahn an ihr gerieben<br />

hat? Welche Frau erinnert sich gerne daran zurück,<br />

als zwei Männer sie vor dem Club in ein Gebüsch<br />

zerren wollten? Ich nicht. Ich habe naiverweise<br />

geglaubt, dass all das nicht mehr passiert, wenn<br />

man älter wird. Bis mir vor einem Monat ein fremder,<br />

betrunkener Mann an der Straßenbahn-Haltestelle in<br />

den Po gekniffen hat. Wohlgemerkt stand ich in Hoodie<br />

und langer Hose da, auf keine Weise irgendwie<br />

aufreizend, was übrigens auch keine Rolle zu spielen<br />

hat. Dieses Gefühl von Ekel, das ich von früher zu<br />

gut kannte, hat mich dann tagelang begleitet. Ich<br />

habe diese Zeile in diesem Text übrigens gerade<br />

zweimal gelöscht, aus Scham und aus Ekel. Aber<br />

damit ist jetzt Schluss. Und dann die Gedanken: Hätte<br />

ich nicht so laut Musik gehört, hätte ich ihn sich<br />

ja anschleichen gehört, oder? Aber: Wieso muss<br />

ich dem entgegenwirken? Wie komme ich dazu? Ich<br />

habe einfach echt keine Lust mehr, das immer und<br />

immer wieder zu erklären. Ein letztes Mal: Niemand<br />

denkt gerne an sexuelle Übergriffe zurück – allein,<br />

dass ich das hier ausschreiben muss, ist ein komplettes<br />

Armutszeugnis für unsere Gesellschaft.<br />

Aber nochmal: Scheinbar gibt es immer noch genug<br />

Menschen, die ernsthaft glauben, dass man als Frau,<br />

die sexualisierte Gewalt erlebt hat, irgendeine Form<br />

von Aufmerksamkeit und Berühmtheit erlangen will.<br />

Seid‘s ihr deppert? ●<br />

Aleksandra Tulej, Chefredakteurin<br />

tulej@dasbiber.at<br />

/ RAMBAZAMBA / 37

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