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DER QUOTEN-ALMANCI<br />
VON SELBSTGESPONNENEN<br />
AUFFANGNETZEN<br />
Von Özben Önal<br />
In eine neue Stadt zu ziehen kann schwierig sein.<br />
Vor allem in eine Stadt, in der man noch niemanden<br />
kennt. Die man vorher noch nie besucht hat. Wenn<br />
es dann noch um die bayrische Hauptstadt geht, hat<br />
man den Salat. Oder eben die Weißwurst. Entgegen<br />
aller Vorurteile gegenüber München, die auch mir<br />
nicht erspart blieben, habe ich das Gefühl schon<br />
nach zwei Wochen angekommen zu sein. Zu Beginn<br />
schob ich das noch auf den Luxus jederzeit innerhalb<br />
kürzester Zeit in einen Fluss springen zu können,<br />
der durch die gesamte Stadt fließt. Die Isar ist<br />
definitiv ein nennenswerter Zusatz. Aber ich meine<br />
ein ganz bestimmtes Ankommen. Nicht<br />
im Sinne von: Ich weiß, welchen Bus in<br />
welche Richtung ich nehmen muss, ohne<br />
vorher bei Google Maps nachzuschauen.<br />
Vielmehr meine ich damit, mich wohlzufühlen,<br />
entgegen aller Zweifel. Ich meine<br />
damit, mich mit Menschen zu umgeben,<br />
die safe spaces sind. Mit denen ich auf<br />
dem Balkon sitzen kann und über die<br />
Welt philosophieren, während wir an Raki-Gläsern<br />
nippen und im Hintergrund kurdische und türkische<br />
Lieder laufen. Das Gefühl von Community ist, was<br />
ich meine. Umgeben von Menschen zu sein, die ich<br />
allesamt bewundere für die Persönlichkeiten, die sie<br />
sind. Für die Kämpfe, die sie Tag für Tag führen, kollektiv<br />
und individuell. Für eine bessere Gesellschaft,<br />
eine bessere Welt. Ohne zu diskriminieren. Mit der<br />
nötigen Sensibilität füreinander.<br />
Kolumnistin Özben<br />
Önal ist euer „Quoten-<br />
Almanci“ – ein bisschen<br />
deutsch, ein bisschen<br />
türkisch, mit ein bisschen<br />
Liebe zu Wien. In ihrer<br />
Kolumne berichtet sie<br />
über Schönes, Schwieriges<br />
und Alltägliches.<br />
KEINE KOMPROMISSE<br />
Mir ist bewusst, dass das eine sehr romantisierte,<br />
vielleicht sogar übertriebene Darstellung ist. Aber<br />
als jemand, der viel Zeit damit verbracht hat, sich<br />
zu assimilieren und um jeden Preis zu einer Mehrheitsgesellschaft<br />
dazugehören zu wollen, sind das<br />
besondere Begegnungen. Und besondere Verbindungen.<br />
Das Konzept von Genoss:innenschaft wird mit<br />
jedem Tag, an dem ich lerne, wer ich bin und mit<br />
wem ich mich umgeben möchte, klarer. Das sind<br />
Menschen, die akzeptieren, respektieren, aber stets<br />
reflektieren. Das sind Menschen, die für Gerechtigkeit<br />
einstehen und hinsehen. Die Unterdrückung<br />
adressieren, sich ihrer Privilegien bewusst sind<br />
und diese nutzen. Die mich zum Nachdenken und<br />
Überdenken anregen, die mich verstehen und mich<br />
gleichzeitig fordern. Ich bin nicht mehr<br />
bereit Kompromisse einzugehen. Das<br />
mag manch eine:r als radikal ansehen,<br />
ich für meinen Teil sehe eine wichtige<br />
persönliche Entwicklung darin zu realisieren,<br />
welche Wichtigkeit ein Auffangnetz<br />
hat, in dem ich mich sicher und gesehen<br />
fühle. In dem unterdrückte, marginalisierte<br />
Gruppen sicher sind und gesehen<br />
werden. Und sicher fühle ich mich wiederum<br />
erst, wenn Menschen, die stärker oder mehrfach<br />
marginalisiert sind, sich in meinem Auffangnetz<br />
sicher fühlen. Um es in Şeyda Kurts Worten aus<br />
ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit auszudrücken: „Die<br />
Welt wird nicht allein dadurch besser, dass ich in<br />
meinem nächsten Umfeld zärtliche Beziehungen<br />
führe. Es muss um Solidarität mit anderen Menschen<br />
gehen, die über meine Partner:innen- oder<br />
Freund:innenschaft hinausgeht.“ Wir sind geprägt<br />
von unterdrückerischen Systemen, die unser Handeln<br />
bestimmen, die wir internalisiert haben. Aber<br />
das zu reflektieren, stets zu hinterfragen und zu<br />
verändern sehe ich auch in unserer Verantwortung<br />
– das macht mein persönliches Auffangnetz aus. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
54 / MIT SCHARF /