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Ausgabe 08/2023

Das Magazin für Herisau und Umgebung. Erscheinungsdatum: 9.8.2023

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4 · Porträt <strong>08</strong>/<strong>2023</strong><br />

EINFÜHLSAMKEIT STATT<br />

ERHOBENER ZEIGEFINGER<br />

Die ausgebildete Primarlehrerin Doris Gantenbein hat ihre Kinder weder erzogen noch zur<br />

Schule geschickt. Ihre Familie und vor allem ihre Kinder hätten von diesem Lebensmodell<br />

profitiert. Die Lebenshaltung dahinter nennt sie «Elternkunst».<br />

Beziehung statt Erziehung: Nach diesem<br />

Motto haben Doris und Bruno Gantenbein<br />

ihre drei Kinder aufwachsen lassen. Auch die<br />

Schule mussten sie nie besuchen, sondern<br />

lernten, was sie wollten und wann immer sie<br />

bereit dazu waren. Die Lebenshaltung dahinter<br />

nennt Doris Gantenbein «Elternkunst».<br />

Diese sei jedoch unabhängig davon, welchen<br />

Bildungsweg die Eltern für ihre Kinder wählen<br />

würden. Darüber berichtet sie seit mehreren<br />

Jahren in ihrem Blog, bietet Coaching-Kurse<br />

und eine Ausbildung an. Auch zwei Bücher<br />

hat Doris Gantenbein bereits veröffentlicht.<br />

2015 beschreiben sie und ihr Mann im Buch<br />

«Das Wahren der Einzigartigkeit» ihr Leben<br />

ohne Schule, 2022 publiziert Doris Gantenbein<br />

das Buch «Elternkunst», welche die innere<br />

Haltung beschreibt, um «tiefe Herzverbindung<br />

mit dem Kind erleben zu dürfen».<br />

Sie ist überzeugt, «Elternkunst» sei nicht nur<br />

lernbar, sondern auch salonfähig. Ihre Familie<br />

sei das beste Beispiel.<br />

Darum geht’s: Kinder sollen ohne Machtspiele<br />

und Leistungsdruck, mit viel Verbundenheit,<br />

Liebe und gegenseitiger Kooperation<br />

bedürfnisorientiert aufwachsen. So kann das<br />

familiäre Zusammensein entspannt und mit<br />

Leichtigkeit genossen werden. Das Konzept<br />

klingt beinahe zu schön, um wahr zu sein.<br />

Und ich muss zugeben, ich bin skeptisch –<br />

zumal ich selbst zwar sehr liebevoll, aber dennoch<br />

mit klaren Grenzen erzogen wurde. Um<br />

mir ein Bild von dieser Lebensweise zu machen,<br />

besuche ich die Familie Gantenbein.<br />

In einem modernen Einfamilienhaus-<br />

Quartier werde ich bereits kurz vor der Haustür<br />

von Familienhund Roger vom Garten<br />

aus begrüsst. An der Tür geklingelt, öffnet<br />

Doris Gantenbein: Eine rund fünfzigjährige<br />

Frau mit braunen, langen Haaren, lockerem<br />

Kleidungsstil und mit einem sympathischen<br />

Lächeln. Der Australian Shepherd ist mittlerweile<br />

im Gang und beschnüffelt den Gast. Es<br />

riecht nach frischem Brot. «Meine Töchter<br />

Sara und Olivia backen», erklärt sie. In der<br />

Küche angekommen, begrüssen mich beide.<br />

Wir gehen in den Wintergarten. Orangegelbe<br />

Tücher schützen vor der Sonne, eine<br />

Hängematte lädt zum Schaukeln ein – der<br />

Raum wirkt entspannend und gemütlich.<br />

«Hier fühlen wir uns wohl.» Sie hätten sich<br />

ihr eigenes Paradies schaffen können. Was<br />

besonders wertvoll war, als die Kinder noch<br />

klein waren. Heute sind die Töchter Sara und<br />

Olivia 22 und 19 Jahre alt, Sohn Nalin steht<br />

kurz vor seinem 18. Geburtstag. Auf deren<br />

Kindheit blickt Doris Gantenbein glücklich<br />

zurück. «Das Mutterdasein hat mich erfüllt,<br />

ich konnte meine Kinder ‹richtig› geniessen.»<br />

«Lerninteresse<br />

kommt<br />

bei Kindern<br />

von alleine.»<br />

Kinder lernen spielerisch<br />

Doris Gantenbein ist gelernte Primarschullehrerin.<br />

Während ihrer fünfjährigen Berufszeit<br />

stellt sie das Schulsystem erstmals in<br />

Frage. «Ich konnte auf die Schülerinnen und<br />

Schüler nicht so eingehen, wie ich dies gerne<br />

getan hätte. Das System war mir zu eng.» Um<br />

sich umzuorientieren, kündet Doris Gantenbein<br />

ihre Stelle. Eine Woche später bemerkt<br />

sie ihre Schwangerschaft. «Für mich war klar,<br />

dass die Mutterschaft meine neue Aufgabe<br />

sein wird. Ich wollte zu hundert Prozent<br />

Mama sein.» Bruno und Doris Gantenbein<br />

entscheiden sich für ein klassisches Familienmodell<br />

– er geht weiterhin dem Beruf nach,<br />

sie widmet sich den Kindern und dem Haushalt.<br />

Und ebenfalls klar ist für beide: Ihre Kinder<br />

sollen keine öffentliche Schule besuchen.<br />

Sie suchen nach alternativen Schulen,<br />

welche den Fokus auf das Lernbegleiten,<br />

statt auf Schulfächer, Hausaufgaben und<br />

Prüfungen legen. Obwohl ihnen mehrere<br />

Schulen gefallen, erfüllt keine Gantenbeins<br />

Vision vollständig. Schnell beschliessen sie,<br />

den Weg ohne Schule gehen zu wollen. Als<br />

Sara fünf Jahre alt ist, kommen sie erstmals<br />

mit dem Begriff «Unschooling» in Berührung.<br />

Es bezeichnet das vom Kind geleitete Lernen<br />

im eigenen Wohn- und Lebensumfeld. «Wir<br />

waren von der Idee begeistert, dass wir unsere<br />

Kinder zu Hause aufwachsen lassen und<br />

sie in ihrem Tempo spielerisch lernen dürfen.<br />

Eigentlich beschrieb es genau das, was wir<br />

bereits seit drei Jahren umsetzten und lebten<br />

– wir wussten nur nicht, dass es dafür<br />

ein Wort gibt.» Und so sei es auch gewesen.<br />

Doris und Bruno Gantenbein haben zu Hause<br />

nie unterrichtet, eine Lektion organisiert,<br />

ihre Kinder zum Lesen, Schreiben oder Rechnen<br />

animiert. «Unsere Kinder haben wirklich<br />

alles nebenbei beim Spielen gelernt. Sie<br />

konnten zudem in viele Themen eintauchen,<br />

welche in der Schule nicht behandelt worden<br />

wären.»<br />

Vorleben statt unterrichten<br />

Dass Bildung auch so funktionieren kann, ist<br />

für die Mutter eine logische Schlussfolgerung.<br />

«Wird in einem Haus gelesen und geschrieben,<br />

werden es die Kinder früher oder<br />

später auch wollen.» Ein Beispiel: Als Sara<br />

etwa vier Jahre alt ist, fragt sie ihre Mutter,<br />

weshalb sie auf die Briefcouverts ein Tipi<br />

male. Gantenbein erklärt ihr den Grund, und<br />

dass dies der Buchstabe A sei. Von da an<br />

steigt das Interesse an weiteren Buchstaben,<br />

weshalb ihre Eltern zur Unterstützung eine<br />

Buchstabentabelle aufhängen. «Wann immer<br />

wir merkten, dass sich bei den Kindern ein<br />

Lernfenster öffnete, stellten wir entsprechendes<br />

Material zur Verfügung – jedoch ohne<br />

jegliche Erwartungen.» Auch hätten sie die<br />

Kinder nicht zum Lernen motiviert. Gantenbein<br />

ist überzeugt, das Lerninteresse komme<br />

bei Kindern von alleine. Und wenn nicht jetzt,<br />

dann zu einem späteren Zeitpunkt.<br />

Doris Gantenbeins ursprünglicher Beruf<br />

scheint von Vorteil zu sein. «Nicht unbedingt»,<br />

sagt sie. «Klar konnte ich beispielsweise<br />

von einem Wissen über Lesemethoden<br />

profitieren. Doch oft sehen sich<br />

ehemalige Lehrpersonen mit dem Problem<br />

konfrontiert, dass sie nur schwer vom klassischen<br />

Schuldenken wegkommen.» Sie sei<br />

überzeugt, dass dieses Lebensmodell weder<br />

eine Lehrperson, noch eine pädagogische<br />

Ausbildung benötige. Wichtig sei lediglich,<br />

dass man dem Lernrhythmus und den Interessen<br />

der Kinder gegenüber offen sei. Das<br />

Internet und die Vernetzung mit gleichgesinnten<br />

Familien würden alle Informationen<br />

zugänglich machen.<br />

Das klingt mir zu einfach. Vor allem wenn<br />

ich an Kinder mit Migrationshintergrund denke,<br />

deren Eltern allenfalls fehlende Deutschkenntnisse<br />

haben. Auch die Finanzierung<br />

stelle ich mir nicht immer einfach vor – die<br />

Kosten für Schulmaterialen müssen selber<br />

getragen werden und mindestens ein Elternteil<br />

muss stetig bei den Kindern sein. Gantenbein<br />

sieht bei beiden Szenarien keine<br />

Probleme. Das Lebensmodell sei für alle Familien<br />

umsetzbar – egal ob in einer kleinen<br />

oder grossen Wohnung, in der Stadt oder auf<br />

dem Land, bei Familien mit oder ohne Migrationshintergrund.<br />

«Wir kennen Familien,<br />

welche an anderen Orten gespart haben, um

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