WARA23-12
Der Wädenswiler / Richterswiler Anzeiger im Dezember 2023
Der Wädenswiler / Richterswiler Anzeiger im Dezember 2023
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wädenswiler Anzeiger Nr. 139 / Dezember 2023WÄDENSWIL 13
Maya Fässler: «Ich beschreibe unsere
Situation immer wie die Zeit
mit einem Neugeborenen. Am Anfang
weiss man noch nicht, wie das
Leben mit diesem Kind sein wird.
Man braucht Zeit, um sich aneinander
zu gewöhnen. Nach der Geburt
ist auch der Bewegungsradius
von Mutter und Kind ziemlich eng.
Mit der Zeit, wenn man herausgefunden
hat, wie alles funktioniert,
wird er grösser, und irgendwann
weiss man mehr oder weniger, wie
es geht.»
Anja: «Es ist vieles eine Frage der
Organisation.»
Maya: «Und man muss Alternativen
suchen. Man fängt – wie beim
ersten Kind – nochmals von vorne
an. Ich bin abends auch so erschöpft
wie damals. Aber ich denke
immer: Morgen ist ein neuer Tag.
Damit fahre ich bis jetzt gut.»
Verschiedene Ansätze
Die zwei Frauen haben verschiedene
Ansätze, um das Geschehene zu
verarbeiten. Während Maya Fässler
alles eher auf sich zukommen
lässt, hat Anja Kutter vom ersten
Moment an versucht, Informationen
zu beschaffen. «Gleich nach
dem Unfall fühlte ich mich wie
in einem schwarzen Loch, völlig
hilf- und orientierungslos. Deshalb
suchte ich Geschichten von
anderen Leuten mit dem gleichen
Schicksal. Es war mir wichtig, so
genau wie möglich zu wissen, was
auf uns zukommt. Bis heute lese
ich viel und höre wenn immer möglich
Podcasts. Vor allem über Menschen,
die auch schwere Schicksalsschläge
erlitten und sie schliesslich
überwunden haben. Das tut mir
gut und gibt mir Hoffnung, dass es
auch für uns einen Weg gibt.»
Sie habe auch aktiv Kontakt gesucht
zu anderen Menschen mit
einer solch schweren Form der
Querschnittlähmung. «Ich bin
überzeugt, dass wir von anderen
lernen können. Deshalb ist es für
mich – trotz aller Tragik – auch ein
Glück, dass ich Maya habe und wir
uns austauschen können. Auch für
unsere Männer war es sicher einfacher,
dass sie die Zeit in Nottwil
gemeinsam meistern konnten.»
Maya: «Ja, wir können auf jeden
Fall voneinander profitieren. Auch
in praktischen Belangen. Bei den
Therapien, die Anja bereits für
Philipp organisiert hat, können
wir uns anschliessen. Das ist toll.
Und wenn unser Umbau fertig ist,
können Kutters uns besuchen. Umgekehrt
funktioniert es jetzt schon.
Sonst reagiere ich mehr aus der Situation
heraus und hole mir nicht
so viele Informationen aus dem
Netz. Zudem kann ich ja immer
Anja fragen.» Sie lacht.
Woher kommt die Superkraft?
Anja Kutter: «Keine Ahnung. Aber
es ist tatsächlich so, dass ich mich
oft sehr stark fühle. Natürlich habe
ich viel geweint und habe auch jetzt
noch grosse Tiefs, aber ich bin nie
komplett zusammengebrochen.
Und im Moment habe ich auch
nicht das Gefühl, dass das passiert.
Vielmehr habe ich das Bedürfnis,
etwas aus unserem Schicksal
zu machen. Wenn wir das schon
durchmachen müssen, soll es in irgendeiner
Form einen Sinn haben.
Vielleicht können wir durch unsere
Erfahrung irgendwann einmal
anderen in der gleichen Situation
helfen. Oder wir können generell
etwas bewirken für Menschen
mit Behinderung. Ich habe auch
schon Ideen. Da sind Philipp und
ich gleich: Wir packen gerne an.»
(lacht)
Gibt es da auch einen spirituellen
Hintergrund, der Glaube
an eine höhere Kraft?
Anja Kutter: «Nein, ich bin eigentlich
kein gläubiger oder spiritueller
Mensch. Kraft gibt mir die Liebe
zu Philipp und zu unseren beiden
tollen Mädchen. Die drei sind mein
grosses Glück und jeden noch so
grossen Aufwand wert. Ich kämpfe
dafür, dass wir als Familie, aber
auch jede/r für sich, trotz dieses
schweren Schicksalsschlags ein erfülltes
und zufriedenes Leben haben
können. Ich glaube, wir sind
auch schon auf einem guten Weg,
auch wenn dieses Ziel in der Traurigkeit
manchmal unerreichbar
scheint.»
Maya Fässler: «Eine höhere Macht
gibt es meiner Meinung nach. Ich
fragte mich immer wieder, was uns
dieser Schicksalsschlag mitteilen
will, was wir verändern sollen. Obwohl
ich weiss, dass es darauf keine
Antwort gibt. Wir geben uns gegenseitig
Kraft, Roli und ich. Mein
Mann ist stark und will sich in das
Leben zurückkämpfen und sich erschliessen,
was möglich ist. Darauf
bauen wir auf. Und die Kinder ziehen
mit. Sie suchen sich gemeinsame
Zeiten mit Roli, die ihnen Kraft
geben. Das ist toll.»
Wie reagieren Freunde und
Bekannte?
Anja: «Unsere Freunde sind eine
riesige Stütze. Wenn wir sie brauchen,
sind sie sofort zur Stelle. Sie
verstehen aber auch, wenn wir uns
derzeit auf uns konzentrieren müssen
und die Freundschaften nicht
so pflegen können, wie wir es gerne
würden. Das ist genauso viel wert.
Diesen Rückhalt zu spüren ist wunderschön.
Gute Freunde von uns haben sogar
extra einen Weg durch ihren
Garten gebaut und eine Rampe ins
Wohnzimmer, sodass wir sie besuchen
können. Unglaublich, oder?
Aber es gab auch Leute, vor allem
am Anfang, die nicht mit der Situation
umgehen konnten und mir
aus dem Weg gegangen sind. Das
nehme ich aber niemandem übel.
Ich war schliesslich auch komplett
überfordert mit der ganzen Situation.»
Maya: «Auch unsere Freunde und
Nachbarn sind alle da, die ganze
Turnerfamilie. Die Leute geben alles,
dass unsere Männer weiterhin
teilnehmen können am Leben in
der Gesellschaft. Das ist etwas vom
Schönen, das man erleben darf.
Ich möchte an dieser Stelle auch
allen ganz herzlich danken, die uns
unterstützen, in Gedanken bei uns
sind und uns Kraft geben.
Wenn mich Leute draussen fragen,
wie es mir geht, dann erzähle ich
gerne. Das ist gut für meinen Verarbeitungsprozess.
Es ist schön,
wenn die Leute sich interessieren.
Und Roli geht auch sehr souverän
mit seiner Situation um, mit Selbstbewusstsein
und Offenheit.»
Wünsche für die Zukunft
Anja: «Ich wünsche mir, dass wir
Frieden schliessen können mit
diesem Schicksal, ein erfülltes Leben
haben und uns über die Dinge
freuen können, dir wir noch haben.
Das ist ja trotz allem noch viel.»
Maya: «Im Moment ist mein grösster
Wunsch, wieder zusammen zuhause
sein zu können. Dass Roli
wieder bei uns ist, dass wir wieder
Nähe erleben können.»
Jeder kleine Schritt macht eine
Welt aus. n
Pausierung der kostenlosen Schulungen für pflegende
und betreuende Angehörige
Aufgrund der geringen Nachfrage wird das Angebot
vorläufig eingeschränkt.
Die kostenlosen Schulungen für pflegende und
betreuende Angehörigen sind eine wertvolle
Dienstleistung der Infostelle Betreuung und
Pflege der Stadt Wädenswil, zusammen mit der
reformierten und katholischen Kirchgemeinde
Wädenswil. Damit können Angehörige in
ihrem Alltag entlastet und mit wichtigen Informationen
ausgestattet werden.
Nachdem die Schulungen bislang einmal monatlich
durchgeführt wurden, konnte eine Erstevaluierung
vorgenommen werden. Leider hat
sich gezeigt, dass eine geringe Nachfrage besteht
und sich die monatliche Frequenz der Schulungen
nicht rechtfertigt.
Die Abteilung Gesellschaft der Stadt Wädenswil
hat in Absprache mit den beiden Kirchgemeinden
entschieden, diese niedrigschwelligen Kurse
für pflegende und betreuende Angehörige
vorerst zu pausieren. Stattdessen wird ein neues
Konzept erarbeitet. Für 2024 werden Schulungen
und Workshops für pflegende und betreuende
Angehörige in geringerer Frequenz
angeboten. Dadurch sollen pflegende und betreuende
Personen ihr Wissen in der Pflege und
Betreuung vertiefen können und notwendige
Instrumente erhalten, damit sie für ihre Aufgabe
gut ausgerüstet sind.
w