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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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darauffolgenden Vormittag. Nach einer Nacht wilden Tanzens<br />

haben die jungen <strong>Berliner</strong> oft <strong>kein</strong>e Kraft mehr, nach Hause zu<br />

gehen, und liegen deswegen in Kneipen herum. Manchmal<br />

werden hier neue zwischenmenschliche Beziehungen geknüpft<br />

und intime E-Mail-Adressen ausgetauscht. Die Sofas in den<br />

Kneipen riechen nach Schweiß und Parfüm und sind oft mit<br />

Schminke beschmiert. Wegen dieser Kneipen genießt Berlin<br />

beispielsweise unter den Schriftstellern große Popularität, und<br />

man kann die Stadt ohne Übertreibung als bedeutende<br />

Inspirationsquelle der Weltliteratur bezeichnen. Es gibt hier<br />

mehr Literaten als Mücken am Wannsee. Aus Bayern,<br />

Österreich, Ex-Jugoslawien und dem Ruhrgebiet ziehen sie<br />

hierher. Einmal im Jahr kommen etliche hundert zum<br />

Literaturfestival nach Berlin, viele von ihnen bleiben länger.<br />

Wenn man ein Interview mit einem Schriftsteller in der<br />

Zeitung liest, kommt das Gespräch fast immer auf Berlin.<br />

Entweder ist der Autor hier lange Zeit gewesen, oder er hat<br />

gerade vor, hierherzuziehen. Amerikanische Bestsellerautoren<br />

wollen hier ihre großen Transvestiten-Romane vollenden,<br />

japanische Schriftsteller wollen ihre Geschichten »in einer<br />

skurrilen Umgebung« spielen lassen, russische Autoren wollen<br />

in Berlin »das neue Europa studieren«. In der Regel bleibt dieses<br />

Studium ohne Folgen, die Autoren werden von der Stadt<br />

verschluckt. Wenn sie nach Jahren wieder auftauchen, lässt sich<br />

aus ihren Werken nicht ablesen, was sie die ganze Zeit in Berlin<br />

getrieben haben.<br />

Es ist nicht die schöne Architektur, die all diese Literaten nach<br />

Berlin zieht – nein, es sind die Kneipen: eine ideale Brutstätte<br />

für jeden schöpferischen Menschen. Denn Berlin ist in<br />

Wirklichkeit eine einzige Kneipe. In dieser Stadt findet das<br />

Leben nicht hinter verschlossenen Wohnungstüren statt, sondern<br />

vor und hinter dem Tresen. Dort gucken einander Unbekannte<br />

gemeinsam Fernsehen, hören Musik, tanzen, spielen Schach,<br />

kommen zusammen oder gehen auseinander. Die <strong>Berliner</strong><br />

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