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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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im Guggenheim Museum bewegte sich langsam von einem<br />

schwarzen Quadrat zum nächsten und machte sich so seine<br />

Gegenstands-Gedanken. <strong>Ich</strong> wurde sofort von einem<br />

Museumswächter angesprochen.<br />

»Sie sind doch echter Russe, nicht wahr? Könnte es sein, dass<br />

diese Bilder eine magische Kraft besitzen? <strong>Ich</strong> habe hier schon<br />

mit zwei anderen Russen darüber gesprochen, sie sagten, sie<br />

wüssten zwar, was ich meine, wollten aber nicht mit mir darüber<br />

reden. Kommen Sie mit, ich muss Ihnen das zeigen!«<br />

Auf dem Bild »Weißes Kreuz auf weißem Grund« sah der<br />

Museumswächter eindeutig ein Gesicht. Ob ich das auch sehen<br />

könne? Hier die Augen und da die Nase! Ob das Malewitsch<br />

selbst sei? Klar konnte ich es sehen. Der Künstler lächelte uns<br />

aus dem weißen Kreuz an und beobachtete den<br />

Museumswächter, wohin er auch ging. Manchmal schnitt er ihm<br />

sogar Grimassen. Von einem anderen Bild wurde der Wächter<br />

regelmäßig nass, behauptete er jedenfalls steif und fest, so als<br />

würde ein unsichtbarer Regen aus dem Bild sprühen. Der<br />

Wahnsinn der Bilder zog ganz Unbeteiligte in seinen Bann, und<br />

die Museumswächter wurden, ohne es zu merken, Teil der<br />

Ausstellung. Denn Künstler, die sich als Schöpfer einer neuen<br />

Welt präsentieren, stellen die bereits existierende Welt infrage –<br />

die gute alte Welt mit ihren Antiquitäten, Museen und<br />

Museumswächtern. Da war Malewitsch nicht der Einzige. Die<br />

letzte russische Kunstrevolution fand in den Neunzigerjahren<br />

statt, als nach der Perestroika die Aktionskunst in Moskau<br />

aufblühte. Viele Künstler gingen als ihr eigenes Werk auf die<br />

Straße und in die Museumssäle. Einer kackte zum Beispiel<br />

während seiner Aktion »Van Gogh ist toll, und ich <strong>bin</strong> Scheiße«<br />

im Puschkin-Museum vor den versammelten Museumswächtern<br />

und Kunstkritikern auf das Parkett. Ein anderer zerhackte<br />

Ikonen in der Öffentlichkeit. Ein Dritter ließ sich mitten in der<br />

Stadt an ein Kreuz nageln, nachdem ihm ein Helfer zuvor mit<br />

dem Skalpell den Satz »<strong>Ich</strong> <strong>bin</strong> nicht der Sohn Gottes« in den<br />

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