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Wladimir Kaminer Ich bin kein Berliner

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pressen und bis zum Ende des Unterrichts gedrückt halten.«<br />

Diesen Knopf drückten mein damaliger Schulbanknachbar<br />

Pawel und ich fünf Jahre lang, abwechselnd mit aller Kraft. Bis<br />

er in der sechsten Klasse auf eine Matheschule wechselte, dann<br />

für alle überraschend gleich mehrere Stadt-Olympiaden in<br />

Mathematik gewann und als Wunderknabe vorzeitig ohne<br />

Aufnahmeprüfung an der Uni aufgenommen wurde. Nachdem er<br />

seinen Doktor gemacht hatte, verzichtete Pawel auf einen<br />

Lehrstuhl am Physikalisch-Technischen Institut zugunsten einer<br />

hoch bezahlten Programmiererstelle im Ausland.<br />

Vor kurzem trafen wir uns im Internet wieder. <strong>Ich</strong> gratulierte<br />

Pawel zu seiner Karriere und erinnerte ihn an unseren<br />

Schulalltag. Er meinte, das Einzige, was er gegenüber seiner<br />

alten Schule empfinde, sei ein Gefühl der Demütigung. Seine<br />

Worte haben mich ziemlich überrascht. Pawel war ein großes,<br />

dickes Kind, dazu noch ein ziemlich aggressives. Er kam gerne<br />

seinen Mitschülern und den Lehrern in die Quere und war für<br />

die größten Schweinereien verantwortlich, die in unserer Klasse<br />

angestellt wurden. So schmierte er zum Beispiel den<br />

Stuhlrücken unserer Physiklehrerin mit dem sowjetischen<br />

Superkleber Moment ein, sodass ihre schicken langen Haare<br />

daran klebenblieben und sie sie abschneiden musste. Ein anderes<br />

Mal überzeugte Pawel seine Klassenkameraden, dass man die<br />

Flüssigkeit aus dem Glas, in dem zu wissenschaftlichen<br />

Zwecken Frösche eingelegt waren, trinken konnte. Er erfand die<br />

Möglichkeit, den Unterricht um zwanzig Minuten zu verzögern,<br />

indem man rechtzeitig eine Nadel in das Türschloss des<br />

Klassenzimmers steckte. Alle Kräfte, die ihm nach dem<br />

Knopfdrücken auf unserer hintersten Schulbank noch blieben,<br />

setzte er in destruktive Handlungen um, die nur einem Zweck<br />

dienten: das sowjetische Schulsystem zu sabotieren. Und nun –<br />

Demütigung. Er wollte eigentlich ein guter Schüler werden,<br />

erklärte Pawel mir, er hätte aber Angst gehabt, in dem totalitären<br />

Bildungssystem von seinen Mitschülern als korrupt und<br />

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